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M ondlicht flutete den spiegelglatten See bis zur Hügelkette, die dunkler war als das Firmament darüber. Ohne lange nachzudenken, bog Rosa Zambrano ab und fuhr auf den Schiffssteg hinaus. Spinnennetze zitterten an den Laternenpfählen, gelbes Licht fiel auf den vor Salz glitzernden Asphalt. Ganz vorne angelangt, stieg Rosa vom Fahrrad und lehnte es an das Geländer. Unter dem Steg schwebten schlafende Schwäne im Dunkel, die orangen Schnäbel unter den Schwingen versteckt. Das Gespräch hatte am Ende doch länger gedauert. Die Freundin von Iva, die nun auch die Freundin von Ruben war, schien erleichtert, endlich davon erzählen zu können. Offenbar hatte Iva einen eigenen Klub eröffnen wollen und war ihrem Ziel schon ziemlich nahegekommen. Über die genauen Umstände hatte sich Iva zwar ausgeschwiegen, aber Mascha wusste, dass sie einen älteren Geschäftsmann über Monate bearbeitet und schließlich dazu gebracht hatte, ihr ein leer stehendes Industrieareal zur Zwischennutzung zu überlassen und sich sogar an der Erstfinanzierung für den Klub zu beteiligen.

»Das kann nur Boris Keller sein«, sagte Ruben.

Mascha fuhr fort: »Auf jeden Fall war Iva in den Tagen vor ihrem Tod deswegen euphorisch, geradezu manisch.«

Nachdem Mascha alles erzählt hatte, was sie wusste, packte auch Ruben aus. Das schlechte Gewissen stand ihm dabei ins Gesicht geschrieben. Klar, es sei eine eindeutig sexuelle Situation gewesen, die er durch das Bullauge beobachtet habe. »Doch ich habe das Ganze offenbar total falsch eingeschätzt. Das kann ich mir nicht verzeihen. Den Mann habe ich zwar nicht erkannt, aber …«

Lange hatte Rosa sich gefragt, was all die Ereignisse rund um Iva Schwarz’ Tod verband. Immer schien ihr, als ob irgendein Element fehlte. Jetzt war sie sich sicher, dass Boris Keller eine wichtige Rolle spielte. Zwar hatte er ein Alibi für die Zeit im Seebad, aber aufgrund der Nähe zum Hafen ließ sich das nicht lückenlos nachweisen. Auch wenn die Aufzeichnungen seiner Überwachungsanlage den angegebenen Ablauf des Abends stützten. Vielleicht war es ihm um Sex oder auch um Dominanz gegangen. Aber ganz gewiss war da etwas zwischen ihm und Iva gewesen, das er bis jetzt aus irgendwelchen Gründen verheimlicht hatte.

Ein einsamer Schwan glitt unter dem Geländer des Schiffsstegs hervor. Es war der eine, der über den Schlaf der anderen wachte. Gleich morgen in der Früh würden sie die Staatsanwältin aufsuchen. Und bei der Gelegenheit würde sie mit ihr über den Job sprechen. Denn langsam, aber sicher musste sie sich entscheiden. Das war sie Andrea Ryser und auch ihrem Chef schuldig. Das war sie Leo schuldig – und vor allem sich selbst. Rosa blickte auf die mondhelle Seeoberfläche, dann zurück auf die schlafende Stadt und fühlte plötzlich eine große Klarheit.

»Was für ein Unsinn«, sagte Boris Keller, als die Staatsanwältin ihm am frühen Nachmittag ein gelbes Schreiben überreichte. Er baute sich im Türrahmen auf und sah nicht so aus, als würde er sie ohne Weiteres einlassen. »In der Strafuntersuchung gegen den Unternehmer Boris Keller, Dr. phil., betreffend Brandstiftung mit Todesfolge etc. wird verfügt: Es wird eine Hausdurchsuchung vorgenommen am Wohnort des Angeschuldigten

Doch Keller trat zur Seite. »Wenn Sie unbedingt müssen.« Er ließ sich in einen quadratischen Sessel fallen, der in der großzügigen Diele seines Atelierhauses stand, auf einer Waldlichtung hoch oben am Zürichberg. Während die Spezialisten ihre Koffer auspackten und sich an die Arbeit machten, zog Martin ein Röhrchen hervor und hielt es Keller hin. »Iva Schwarz wurde vermutlich kurz vor ihrem Tod vergewaltigt. Wir konnten eine DNA -Spur des mutmaßlichen Täters isolieren. Was werden wir finden? Einen Treffer?«

Keller ging zur chromstahlglänzenden Garderobe und zog Lederhandschuhe aus einer Kommode. »Bevor ich mit meinem Anwalt gesprochen habe, mache ich gar nichts dergleichen.«

»Wenn Sie nichts zu verbergen haben … Wo ist das Hindernis?«, bohrte Martin weiter.

Aber Boris Keller legte nur wortlos einen Wollschal um.

»Dann macht es Ihnen bestimmt nichts aus«, sagte Martin kühl, »sich heute am Nachmittag für einen DNA -Test auf der Wache am Mühleweg einzufinden. Ihr Anwalt darf gerne mitkommen.«

»Kann ich in der Zwischenzeit wenigstens an die frische Luft?« Boris Keller deutete hinauf zu den dunklen Baumsilhouetten hinter seinem Gartenzaun. »Sie verstehen sicherlich, dass ich mir das nicht auch noch ansehen will.«

Rosa beobachtete, wie die Staatsanwältin kurz überlegte und dann ihre Einwilligung gab. Denn sie hatten außer der Zeugenaussage von Mascha und Ruben nicht viel gegen ihn in der Hand. Und mussten dringend etwas finden.

Zwei Stunden später gab es keinen Winkel des Hauses, den sie nicht inspiziert hatten. Selbst Sessel und Sofas waren umgedreht worden, um sicherzustellen, dass sich nichts in der Polsterung verbarg. Das Geschirr stapelte sich auf dem Esstisch. Und das Innere des Kleiderschranks lag auf dem Boxspringbett verteilt, selbst die Ärmel der vielen Anzüge, die fast alle gleich aussahen, waren nach außen gekehrt. Aber das Wichtigste: Sämtliche geschäftlichen und privaten Ablagen, Korrespondenzen und Kalender von Keller lagen gespiegelt auf den Rechnern der Spezialisten. Damit ließe sich etwas machen.

»Ich fahr noch zum Forellensteig«, sagte Rosa. »Ich muss endlich mit Fred sprechen.«

»Du hast dich also entschieden?«, fragte Martin postwendend. Und schien sich ehrlich zu freuen. »Dann kümmere ich mich um den Testtermin mit Keller.«