B oris Keller schritt die Kastanienallee zwischen den Grabfeldern entlang, die auf dem Platz vor dem alten Krematorium endete. Er presste die Lippen zusammen. Seit dieser Clochard in der Bodega herumkrakeelt hatte, entglitten ihm die Dinge zunehmend. Dabei hatte es gerade erst noch so ausgesehen, als ob sich alles regeln ließe. Auch wenn ihn das ziemlich was gekostet hatte. Und es nicht so gedacht war, dass er gleich stirbt. Wolken zogen sich über dem weißen Himmel zusammen, er schlug die Kapuze seiner Jacke hoch. Die Staatsanwältin war hart geblieben, und auch sein Anwalt hatte es nicht geschafft, mehr Zeit rauszuschlagen. Es war ihm zwar nicht klar, wie lange genau die Auswertung seiner Probe dauern würde, aber er musste schnell handeln.
Fleur hatte sich zuerst geweigert, ihn und Lisa Sulzer hier zu treffen. Sie war kaum wiederzuerkennen, seit sie sich auf ihrem Rachefeldzug befand. Verbissen und hart verweigerte sie sich rationalen Argumenten. Doch er hatte auf dem Treffen hier auf dem Friedhof beharrt, denn für seinen Plan war es wichtig, dass sie ihre Trauer mit voller Wucht zu spüren bekam. So leid es ihm auch tat, sie mussten Manfred nun ans Messer liefern. Nur Manfred. Sonst würde er alles verlieren, würde er sie verlieren. Jetzt, wo Fleur sich ihm endlich geöffnet hatte – das wollte er um jeden Preis verhindern. Sie würde denken, er habe das verdammte Boot angezündet. Doch vielleicht war die mysteriöse Probe auch nicht von ihm, er hatte ja eigentlich dafür gesorgt, dass es keine Spuren gab, auch wenn seine Erinnerung gewisse Lücken aufwies. Er hatte Ivas Fahrrad beim Bootssteg gesehen und gleich darauf, wie Ruben den Hafen verließ. Und als sie ihn dann herausgefordert hatte, als wäre sie ihm überlegen, waren bei ihm die Sicherungen durchgebrannt. Diese Schnapsidee mit dem Klub, die Treffen in dem Hotel. Glaubte sie wirklich, dass er ihr das Grundstück im Westen der Stadt auf die Art und Weise überließ? Für ein paar schäbige Rendezvous mit halbherzigem Beischlaf und ein paar Fesselspielen? So ein dummes, durchtriebenes Luder. Ganz was anderes als ihre Mutter. Auch wenn sie der jungen Fleur so ähnlich sah, dass es wehtat. Wer weiß, wen Iva sonst noch getroffen hatte an dem Tag – er musste jetzt einen kühlen Kopf bewahren. Keller starrte auf die Wasserfläche des Steinbeckens vor dem alten Krematorium mit seinen Medusenköpfen, dem Vogelgreif und den anderen Mischwesen, die die Zwischenwelt symbolisierten, in der sich die Toten bis zu ihrer Bestattung befanden. Wenn Manfred ein Geständnis unterschrieb, dann ließe sich schon eine Erklärung finden …
»Es braucht jetzt eine saubere Abgrenzung«, sagte Sulzer und sah sie abwechselnd an. Eisige Regentropfen schlugen ihnen ins Gesicht. »Diese Journalistin, die Caduff, schnüffelt überall herum. Die Autolobby ruft nach einer Untersuchungskommission, und jetzt auch noch eine Hausdurchsuchung bei dir, Boris, das sieht einfach nicht gut aus. Was ist da los?«
Über Fleur Rochats Kopf bewachten zwei Sphinx-Figuren das Tor. »Es ist Manfred, er dreht komplett durch«, sagte sie. »Keine Ahnung, was der alles herumredet. Er hat auch Iva durch den Schmutz gezogen, um von sich selbst abzulenken.«
»In gut einem Monat ist die Abstimmung«, sagte Sulzer und trat einen Schritt zurück, in den Schutz der Arkade. »Ihr müsst ihn in den Griff kriegen.« In der Mauer hinter ihr gähnten Lücken, Platz für weitere Urnengräber.
»Wir sind dran«, erwiderte Fleur Rochat und sah hinauf zur bewaldeten Krete des Uetlibergs, als halte sie den Blick auf die Gräber nicht aus. »Aber es wird noch einen Moment dauern.«
»Das reicht nicht. Einige Parlamentarier planen schon Vorstöße, um die Abstimmung zu stoppen.«
»Wir könnten in die Offensive gehen und selber eine Anwaltskanzlei beauftragen, um die Vorwürfe abzuklären«, versuchte Boris Keller zu beruhigen. »Das würde den Gegnern den Wind aus den Segeln nehmen. Und Nachforschungen der politischen Untersuchungskommission in die Länge ziehen. Sollte das nach der Abstimmung überhaupt noch ein Thema sein. Manfred ist beinahe am Ende, wenn wir den Druck ein wenig erhöhen, dann schalten sich die defekten Teile von allein aus.«
»Egal. Selbst wenn das Projekt beim Stimmvolk durchkommt, bleibt nach so einer Geschichte immer was hängen«, sagte Sulzer, deren Make-up heute stärker war als sonst.
»Ach, komm, kein Hahn wird mehr nach der Geschichte krähen, wenn der erste Spatenstich gemacht wurde«, sagte Fleur.
»Da wäre ich mir nicht so sicher. Wenn es hart auf hart kommt, werdet ihr zur Verantwortung gezogen. Ihr seid die Projektentwickler.«
»Jetzt mal halblang, Lisa«, unterbrach Keller. »Du warst im Verwaltungsrat der Bank, oder etwa nicht? Du wusstest genau, was es mit Manfreds Sicherheiten für den Kredit auf sich hatte. Und doch hast du alles durchgewinkt.« Er dachte an das Englersche Immobilienportfolio: die Liegenschaften in Helsinki, New York und Tel Aviv, überall dort, wo sich mit überteuerten Mieten gutes Geschäft machen ließ. Das hatte ihnen in der Wettbewerbsphase den Vorab-Kredit gesichert. Zu dumm nur, dass Manfred all die Filetstücke zu dem Zeitpunkt schon wieder verkauft hatte, um in »todsichere Fonds« zu investieren. Mit dem bekannten Ergebnis.
»Keine Ahnung, wovon du sprichst« Sie schob die Unterlippe vor. »Ich habe meine Sorgfaltspflicht zu keinem Zeitpunkt verletzt.«
»Ohne deine schützende Hand wären die Besitzurkunden kaum von der Bank beglaubigt worden. Übrigens die einzige Bank im Land, und eine der wenigen weltweit, die mit Triple A zertifiziert ist. Das hat bei Manfred fast schon diebische Freude ausgelöst.«
Sulzer zog einen kleinen Regenschirm aus ihrer Handtasche und spannte ihn auf. »Regelt eure Angelegenheiten«, sagte sie und trat unter den Arkaden hervor. »Wir können kein zusätzliches Risiko mehr tragen.«
»Und dann knackst du trotzdem den großen Jackpot nach der Abstimmung? So läuft das nicht: Ohne Risiko kein Deal«, rief er ihr hinterher.
Sie drehte sich nicht einmal mehr um. Alle drei wussten auch so, dass Sulzer von der gewonnenen Abstimmung profitieren würde, nicht nur politisch. Es gab eine Firma in Liechtenstein, die einen kleinen, aber nicht unwesentlichen Anteil der im Vorfeld von Urban Utopia gegründeten Holding besaß. Und die über diverse Zwischenstrukturen Lisa Sulzer gehörte. Auch wenn sie jetzt kalte Füße bekam: Sie hing genauso mit drin.