M anfred Engler saß in einem Sessel am Fenster und sah auf das verlassene Grundstück nebenan. Der Tag ging in einen finsteren Himmel über. In regelmäßigen Abständen huschten konturlose Gestalten vorbei. Er stieß Luft durch die Nase aus. Doch es nützte nichts, auf seinem Körper lastete ein Geruch nach Verwesung und Veilchen. Mit den Träumen hatten sich auch seine Sinne verändert. Manfred spürte, dass er auf einer Schwelle stand. In lichten Augenblicken bemerkte er, dass zwischen den einzelnen Krankheitsphasen kleine Verschiebungen stattfanden, spürte, wie die Botenstoffe und Hormone, Signalmoleküle und Nervenzellen seiner Wahrnehmung Streiche spielten. Aber er wusste auch, dass die Erkrankung, einmal ausgebrochen, ein Leben lang immer wieder zurückkehren würde. Es gab keine Heilung, das war schon bei seinem Vater so gewesen und bei seinem Großvater und dessen Vater.
Der Wind hatte ihn ins Haus getrieben, und die Totenmaske ließ ihn nun nicht mehr hinaus. Worte flossen aus ihrem Mund wie schwarzer Nebel, Rastlosigkeit, Gedankenrasen. Schizophrenie, würden sie sagen, wenn er irgendwann das Unvermeidliche tat. Dann hätten sie ihre Rache, die anderen. Mit steifen, ungelenken Fingern wählte er Fleurs Nummer. Plötzlich hörte er, wie sich das Verbindungszeichen mit einem ansteigenden Glockenspiel vermischte. Manfred schlug die Samtdecke zurück und erhob sich aus dem Sessel. Der helle Ton näherte sich aus der Diele. Er beendete den Anruf, und es wurde wieder still im Haus. Manfred hob den Kopf, wie ein Tier, das Witterung aufnahm. Dabei ließ er den Türgriff nicht aus den Augen, der sich langsam hinabsenkte. Wahn oder Wirklichkeit? Er wusste es nicht. Er ging seitwärts zur Vitrine mit der Waffensammlung. Blindlings griff er nach seinem Lieblingsgewehr, einem Karabiner seines Großvaters. Dann holte er die Patronen vom Boden der Blumenvase, die über dem Kamin stand. Der erste Schuss zerfetzte die Krallen des Nachtmahrs, der zweite traf die milchweiße Brust der Schlafenden, die verdrehten Augen des Geisterpferdes. Manfred Engler lud nach. »Verschwindet«, rief er ins Dunkel.
»Du wirst mich den Rest deines Lebens sehen …«, hörte er Fleurs Stimme, »in deinen Träumen.« Dann trat sie aus der Wand wie ein Schatten. Und dort, wo sich eigentlich ihr Gesicht hätte befinden müssen, leuchtete das mondweiße, entstellte Antlitz ihrer Tochter. Manfred schloss die Augen und öffnete sie wieder. Vergeblich.
»Es ist nicht meine Schuld«, stammelte er. »Sie war schon tot, ich habe nur …«
Weiter kam er nicht, da Boris auf einmal durch die Dielentür trat. »Nur die Ruhe, mein Freund.« Er machte eine Geste, als drücke er mit seinen schwarzen Handschuhen etwas Schweres auf den Boden, und sprach mit samtweicher Stimme. »Du hast gemacht, was du konntest. Wir sehen doch, wie du leidest.«
Fleur machte einen Schritt auf ihn zu.
»Es liegt ganz bei dir«, fuhr Boris in beschwörendem Ton fort und hielt Manfred einen Bogen Papier hin. »Wenn du das unterschreibst, bist du frei.«
Ein steinerner Klumpen wuchs in Manfreds Magen. Er merkte, wie er innerlich wieder ins Taumeln geriet. Mit einem Klicken entlud er das Gewehr erneut und füllte Patronen nach. »Ich sehe schon, was ihr vorhabt.« Er zielte auf Keller. »Ihr wollt mir die Schuld in die Schuhe schieben, wie immer.«
Draußen zog der Wind wieder an und schlug Äste an die nachtblinden Fensterscheiben. Mit sanfter Stimme sagte Rochat, dass sie ihm nur helfen wollten. Manfreds Augen begannen zu tränen, doch er weinte nicht. Stattdessen presste er das Gewehr näher an sich, bis der Lauf zu seinem Kinn zeigte, und wich zurück, in Richtung der breiten Fenster. Doch sie folgten ihm, ruhig, aber unerbittlich.
»Keinen Schritt weiter.« Seine Lippen zitterten.
Ein Scheppern – Fleur und Boris drehten sich um, als die Flügeltüren hinter ihnen aufgestoßen wurden. Ein kalter Luftzug ging durchs Haus, dann flammte grelles Licht in der Diele auf.
»Legen Sie die Waffe auf den Boden«, rief die Polizistin und zog ihre eigene Pistole. Manfred erkannte ihre Stimme. Sie war es gewesen, die ihn im Schwanen besucht hatte. Eine angenehme Stimme hatte sie, aber es war zu spät. Verschwommen die Erinnerung, es kam ihm vor, als läge ein halbes Leben dazwischen. Er hob den Lauf des Gewehres erneut. Die Hände am Abzug.
»Moment!«, sagte der andere Polizist aus dem Schwanen, der Angriffige in der Lederjacke. »Engler, das sollten Sie hören.« Er wandte sich zu Boris, der erbleicht war. »Wir haben Ihre DNA -Probe ausgewertet. Unser Rechtsmediziner ist davon überzeugt, dass sie zu Iva Schwarz’ letztem Liebhaber oder dem mutmaßlichen Vergewaltiger gehört. Haben Sie etwas dazu zu sagen?«
Es blieb totenstill.
»Unmöglich«, flüsterte Fleur. Manfreds Herzschlag beruhigte sich ein wenig, als er sah, wie sie die Totenmaske sinken ließ. »Was …?« Dann glitt ihr Blick an Boris’ grauem Anzug hinauf, bis er sich in seinen Augen verhakte. »Was hast du mit meiner Tochter gemacht? Hast du …« Weiter kam sie nicht, vielleicht brachte sie es nicht über sich, den Gedanken auszusprechen, als würde er sich bewahrheiten, wenn er in Worte floss.
Manfred ließ das Gewehr sinken. Kälte kroch in ihm hoch. Er hatte den Falschen gedeckt. Nicht Ruben war an diesem Abend mit Iva zusammen gewesen. Sie hatte keinen Puls mehr gehabt, als er sie gefunden hatte, war ganz blau gewesen. Was hätte er tun sollen? Tatenlos zuschauen, wie sie mit ihrem Tod das Leben seines Sohnes zerstörte? Ein Feuer wird alles reinigen, hatte er sich gedacht. Doch es war falsch gewesen. Alles war falsch gewesen. Boris. Aber warum denn … Manfred war so von seinen Gedanken überwältigt, dass er sie gar nicht kommen sah. Fleur machte einen Satz auf ihn zu – und einen Moment später war die Waffe in ihren Händen. Sie entfernte sich um ein paar Schritte, bis das Kaminfeuer in ihrem Rücken züngelte.
»Und ich habe dir vertraut …«, sagte sie tonlos, dann zielte sie auf Boris. Die Art, wie sie das Gewehr hielt, verriet, dass sie früher schon geschossen hatte. Es klickte leise und bedrohlich, als sie die Waffe entsicherte. Der Nachtmahr über ihrem Kopf hing in seinem Goldrahmen in Fetzen herunter. Eine gespenstische Ruhe kehrte ein, niemand machte eine Bewegung. Nicht Boris, der wie ein erstarrter Abdruck seiner selbst wirkte. Nicht die beiden Polizisten. Auf dem verlassenen Grundstück nebenan leuchteten plötzlich ein paar Taschenlampen auf. Der Lärm der Schüsse musste sie angelockt haben. Manfred traute sich kaum zu atmen. Und dann erhellte ein plötzlicher Blitz die Szenerie. Der Polizist nutzte die kurze Irritation und preschte vor, in wenigen Schritten war er bei Rochat. Sie schrie auf, der Gewehrlauf schnellte durch die Luft, dumpf löste sich ein Schuss. Dann gingen beide vor dem Kamin zu Boden. Der Rahmen mit dem zerfetzten Nachtmahr sauste durch die Luft, dann krachte es.
»Martin«, rief die Polizistin, als ihr Kollege kurz darauf die Augen aufschlug. »Alles in Ordnung?« Das ansteigende Geheul von Sirenen näherte sich.
Er fasste sich mit schmerzverzerrtem Gesicht an den Nacken, blickte zu Fleur, die apathisch neben dem Kamin saß, und wieder zurück zur Polizistin. Dann nickte er benommen.