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I hr letzter Morgen war in sandgoldenes Saharastaublicht getaucht. Leos Wimpern flatterten an ihrer Wange, er verzog die Oberlippe leicht, als würde er zumindest im Schlaf noch zweifeln. Doch er hatte sich entschieden, für seine Karriere und gegen ein gemeinsames Leben mit ihr in Zürich. Woraufhin Rosa ihm klipp und klar gesagt hatte, dass eine Fernbeziehung für sie nicht infrage kam. Trotzdem hatten sie sich danach weiter getroffen. Konsequent war das nicht, aber die sich abzeichnende Trennung hatte die gegenseitige Anziehung paradoxerweise noch verstärkt.

Nach dem Aufstehen tranken sie Kaffee, seine Wangen hatten mehr Farbe als am Abend zuvor, als sie es ihm förmlich angesehen hatte, wie es in seinem Kopf ratterte und ratterte. Natürlich hatte sie insgeheim nach wie vor gehofft, dass er im letzten Moment doch noch alles über den Haufen werfen und bei ihr bleiben würde. Nur wenn sie miteinander schliefen, schienen seine und ihre Gedankenspiralen unterbrochen. Dennoch fühlte sich Rosa heute Morgen erstaunlich gut. Dieses Mal hatte sie ihre Entscheidung nicht von der seinen abhängig gemacht.

»Ich schätze, ich muss jetzt«, sagte Rosa mit einem Blick auf die Uhr. Es fühlte sich zwar komisch an, genau an diesem Morgen das Kinderwunschzentrum aufzusuchen, doch der Termin stand seit Wochen fest. Sie nahm Leo das Versprechen ab, für sie beim Umsteigen in Mailand ein Cornetto alla Crema zu essen, in der Bar an den Gleisen. »Gute Reise«, sagte Rosa, als der Moment gekommen war. Sie stellte sich auf die Zehenspitzen und hauchte ihm einen Kuss auf den Hals, der noch nach Schlaf roch.

Als sie das Zentrum eine gute Stunde später verließ, hing noch immer eine feingoldene Staubschicht in der Luft. Mit bedächtigen Schritten folgte sie dem schmalen Steig, der vom Universitätsviertel direkt zum Hirschengraben hinunterführte. Die ineinander verschachtelten Ziegeldächer der Altstadt leuchteten sandgelb, ebenso wie die bereits prallen Knospen der Tulpenbäume, bereit für die nächste Runde – surreal und wunderschön. Sie hatte die Zeit mit einer belanglosen Illustrierten in einem Warteraum der Universitätsklinik totgeschlagen. Nachdem sie der Helferin einen handwarmen Plastikbecher überreicht hatte, schien sie vergessen worden zu sein. Bis endlich die Ärztin sie ins Beratungszimmer bat und ihr mitteilte, dass der bevorstehende Eingriff nicht mehr nötig sei. Sie hatte Rosa gratuliert.

Auf dem Weg hinab überschlug sie die letzten Wochen, rechnete nach. Und kam zum selben Ergebnis wie zuvor. Woraufhin sie ihr Telefon hervorkramte, um Leo anzurufen, was erst einmal gründlich misslang, weil ihr das Gerät aus der Hand rutschte und zu Boden fiel. Als sie es erneut versuchte, tutete die Verbindung ins Leere. Sein Zug fuhr gegen elf Uhr, so viel wusste sie. Sie würde rasch ihr Rad zu Hause holen, so wäre sie schneller.

Die Gedanken stürmten in Rosas Kopf, als sie zehn Minuten später eine feine Schicht Sand vom Sattel blies und aufstieg. Am Ende der Gasse, über der Fahnen in der Luft wehten, fuhr sie ihrer Mutter in die Arme, ausgerechnet. Josefa stützte sich auf dem entenkopf‌förmigen Holzgriff ihres Regenschirms ab. Sie hatte eine frühlingshaft helle Bundfaltenhose an und ein geblümtes Kopf‌tuch unter dem Kinn verknotet. Ihr Ehering blitzte am Finger. »Du trägst ihn wieder?«, fragte Rosa und bückte sich zu Anselmo, der ein neues Halsband trug, ebenfalls geblümt.

»Wir gehen heute zum Lottoabend, zusammen«, bemerkte sie vielsagend. Ihr Blick glitt neugierig von Rosas zerzausten Haaren zum Wollpullover mit Zopfmuster, der beinahe bis zu den derben Lederstiefeln reichte. »Wo kommst du überhaupt her?«

Rosa sah auf die Uhr über der Stüssihofstatt und erschrak. »Erzähl ich dir später. Keine Zeit …« Doch ausnahmsweise war es mal die Uhr, die Verspätung hatte, und nicht sie selbst. Sie schwang sich zurück auf den Sattel. Knapp würde es dennoch werden.