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T ränen liefen ihr übers Gesicht, als Rosa unter dem Schutzengel von Niki de Saint Phalle hindurchhastete, der in der Bahnhofshalle unter der Decke schwebte. Sie blickte nach oben, zur tintenblauen Frauenfigur – Neonröhren wanden sich aus ihrem Bauch und wirkten aus diesem Winkel wie Nabelschnüre. Vor der großen Anzeigetafel blieb Rosa schwer atmend stehen. Es gab gleich zwei mögliche Verbindungen mit beinahe derselben Abfahrtszeit. Ihr blieben etwas weniger als vier Minuten bis zum ersten Zug, unmöglich, beide Perrons abzusuchen. Sie musste sich für eines entscheiden. Dann sah sie die bronzefarbenen Wagen des Voralpenexpress. Die Fahrt über die alte Gotthardlinie, vorbei an der Kirche von Wassen, dauerte zwar etwas länger, doch jede Zugkomposition war mit einer kleinen Bar und einer Lavazza-Kaffeemaschine ausgestattet: Den musste er gebucht haben. Regen begann auf das Dach der Halle zu prasseln, just in dem Moment, als sie Leo hinter der leicht abgedunkelten Scheibe entdeckte. Fast im selben Augenblick bemerkte er auch sie und sprang von seinem Sitz auf.

Rosa machte ein Zeichen, mit schnellen Schritten gingen sie zur nächsten Zugtür, er innen, sie außen. Das Regenrauschen schwoll an. Rosa hatte nie verstanden, warum es in Filmen immer regnete, wenn etwas Trauriges passierte. Sie liebte Regen, große, schwere Tropfen, die kugelrunde Blasen in Pfützen warfen. Regentropfen wie glitzernde Diamantketten im Nachtschein einer Straßenlaterne. Und dann, irgendwann, der Klang der ersten Tropfen nach dem Winter, die auf frisch ausgetriebene Blätter fielen.

Leo stand in der Zugtür. Ihr Gesicht erhellte sich, wie wenn Sonne durch die Wolken bricht, sie trocknete sich die Augen – und sah ihn lächelnd an.