8 Freunde

»Immer hereinspaziert!« Sæmundur hockte in seinem Container und winkte mich herein. Er saß am Computer, die Finger der linken Hand in der Hose verstaut, die rechte umklammerte die Maus, die Beine ruhten schräg daneben auf dem Tisch, sodass sein Bürostuhl ziemlich schief stand und bei der kleinsten Bewegung ächzte. Sæmundur trug gestrickte Socken und Pantoffeln, der Container war seine Stube.

»Heute wäre doch ein wunderbarer Tag, um da draußen Leinen zu legen, denkst du nicht?« Er schaute mich an, und seine buschigen Augenbrauen schnellten nach oben. »Windstille.«

»Keine Chance«, sagte ich und ärgerte mich, dass man mir die Schrotflinte weggenommen hatte. Zudem durf‌te ich nicht mehr allein mit Petra aufs Meer fahren. Sæmundur wusste das sehr wohl, er war schließlich der Hafenmeister. »Keine Lust«, fügte ich hinzu und setzte mich auf das kleine Ledersofa, das zur Hälfte mit Papieren und Ordnern belegt war.

Sæmundur klickte auf der Maus herum, tippte gelegentlich etwas in den Computer, dann klingelte das Telefon und er unterhielt sich eine Weile. Als er aufgelegt hatte, drehte er sich zu mir um.

Ich zuckte mit den Schultern und warf einen Blick an die Decke.

»Kein Grund zur Sorge.«

»Na, wenn der Sheriff seinen Cowboyhut und seinen Sheriffstern zu Hause lässt, gibt es ganz bestimmt Grund zur Sorge.«

»Bin nicht im Dienst.«

»Du bist bestimmt traurig wegen deinem Großvater, nicht wahr? Tut mir wirklich leid. Óðinn war sehr alt, er kann zufrieden sein, hat ein erfülltes Leben hinter sich. Andere sitzen den ganzen Tag in einem Container!«

Sæmundur schnalzte mit der Zunge und wandte sich wieder seinem Computer zu, sagte, wenn er so sterbe wie mein Großvater, so plötzlich, ohne zu leiden, schmeiße er eine Party.

»Bin ich dann auch eingeladen?«, fragte ich ihn.

»Natürlich bist du eingeladen!« Sæmundur lachte so laut, dass der ganze Container wackelte. »Du bist dann mein Ehrengast! VIP

Siggi steckte den Kopf zur Tür herein. Draußen kreisten die braun gesprenkelten Jungmöwen über dem Hafen und machten Lärm.

»Wo gibt’s ne Party?«, fragte er.

»Du bist nicht eingeladen!«, sagte Sæmundur, meinte es aber nicht ernst, denn er grinste noch immer, und er ist zu niemandem böse. Er würde das ganze Dorf zu seiner Beerdigung einladen, ganz bestimmt. »Du säufst uns nur den ganzen Brennivín weg.«

»Sobald Sæmundur stirbt«, erklärte ich ihm, und jetzt hellte sich Siggis Gesicht auf.

»O ja, dann lassen wir die Korken knallen!«

Die Männer lachten, ich auch, obwohl ich sicher traurig sein würde, wenn Sæmundur starb.

»Kannst du noch meine Ladung quittieren, bevor du ins Gras beißt?«, bat Siggi, der nie sehr lange lachte, immer nur kurz und laut und selten.

»Mach ich, mach ich!«, rief Sæmundur und wischte sich eine Träne aus dem Auge. »Was hast du denn heute Schönes für mich?«

»Eintausendeinhundertachtundsiebzig Kilo Kabeljau. Siehst du ja.«

»An der Leine?«

»Ganz bestimmt nicht im Kofferraum.«

»Sæll! Wie sich die Schlafmützen auf dem Fischereiamt freuen werden!«

»Die erschrecken doch nur, wenn sie von uns hören.«

»Wenn man sich das mal vor Augen hält. Früher hatten wir hier Dutzende Boote, und heute? Kalli Kaliber, jetzt, wo du keine Haie mehr fangen darfst, ist hier oben nicht mehr viel los.«

»In Þórshöfn ist noch was los, und das ist gar nicht weit weg«, informierte ich ihn, denn ich hatte keine Lust, über Haie zu reden.

Siggi rührte sich nicht von der Stelle, stand immer noch halb in der Tür.

»Ja, aber deren Quote gehört den Westmännern. Wenn

Sæmundur rollte mit den Augen.

»Tja. Man weiß leider nie, wann der kommt. Letzte Woche soll er in Kópasker aufgetaucht sein.«

Siggi gab einen verächtlichen Laut von sich.

»Dafür hat das Fischereiamt Geld genug! Kalmann, was haben die in Reykjavík bloß gegen uns?«

»Ich weiß es auch nicht«, sagte ich und meinte es auch so.

»Kiddi auf Grímsey hat mir erzählt, dass sie jetzt Drohnen einsetzen, anders könne er es sich nicht erklären. Er habe einen Fisch zurückgeworfen, einen einzigen, hat er gesagt. Und wenig später sei ihm die Rechnung ins Haus geflattert. Til skammar!«

»Amen«, sagte Sæmundur.

Siggi zog den Kopf zurück, verschwand einen Augenblick, aber wir hörten ihn draußen fluchen. Dann steckte er den Kopf wieder zur Tür herein.

»Und die Großen mit ihren Schleppnetzen?«, fragte er, ohne eine Antwort zu erwarten, denn er fuhr fort, dass das Fischereiamt für die großen Unternehmen zwei Augen zudrücke, ein Auge für jedes Schleppnetz, das sie hinter den Trawlern herzögen, jedes so groß wie ein Fußballfeld. Und wir kriegten die Rechnung, wenn wir auch nur einen einzigen Fisch zurück ins Meer warfen. Einen einzigen! Das sei doch grotesk!

Während Siggi draußen mit Kabeljau gefüllte Bottiche auf dem Gabelstapler ins Gefrierhaus karrte, fragte ich Sæmundur, ob er gewusst habe, dass mein Großvater Russisch

»Russisch, hm. Ja, man hat es sich erzählt.«

»Ich habe es selbst gehört.«

»Bist du denn ganz sicher, dass es Russisch war?«

»Suka amerikanets!«, rief ich. »Gora letit!«

»So, so. Amerikanets. Das klingt ganz nach deinem Großvater und nach Russisch auch. Der hat sich bestimmt über die Amerikaner geärgert, und das macht man wohl am besten auf Russisch.« Sæmundur rieb sich mit seinen schweren Händen übers Gesicht. »Man glaubt, jemanden zu kennen, und erst wenn man ihn zu Grabe trägt, merkt man, dass man einen Unbekannten verscharrt.«

Ich blieb noch eine ganze Weile bei Sæmundur im Container sitzen, während er Siggis Fang in Reykjavík meldete, damit man da nicht vergaß, dass es uns hier oben noch gab. Am Mittag bekam ich Hunger und ging zurück ins Häuschen, verdrückte die Essensreste vom Vortag, Kuchen hatte ich auch noch, verdauen wollte ich auf der Couch.

Der Fernseher starrte mich an, schwarz und abwartend. Die Fernbedienung lag nicht wie gewohnt auf dem Couchtisch, sondern beim Fernseher. Meine Mutter musste sie da hingelegt haben. Darum nahm ich meinen alten Laptop vom Tisch und klappte ihn auf. Ich wollte diesen Adam-Sandler-Film noch mal schauen, mit der magischen Fernbedienung, aber ich kam nicht dazu, denn plötzlich begann der Laptop zu tuten.

»Bärentöter!«

»Nói?« Ich fiel fast von der Couch! Eigentlich war ich

»Nói, bist du … bist du es wirklich?«, stotterte ich.

»Behold!«, dröhnte Nói und brach in Gelächter aus. »Du müsstest jetzt dein Gesicht sehen! Echt behindert!«

»Wo warst du denn?«, rief ich entrüstet. »Ich hätte deine Hilfe gebrauchen können!« Ich erschrak ein wenig über mich. Nói so gut gelaunt zu sehen, machte mich wütend.

»Es tut mir echt verdammt leid, Sheriff«, sagte er und machte eine Denkpause, nahm einen Zauberwürfel zur Hand, dessen Farben nur von superintelligenten Menschen sortiert werden können. »Ich wurde wieder operiert, weißt du? Operation black heart. Diesmal ging es um Leben und Tod. War ne ziemlich heftige Zeit. Bro, ich sag dir, ich war schon ganz drüben!«

»Wo drüben?«

»Im Jenseits, Alter, im Nirwana, verstehst du?«

»In Walhall?«

»Korrektomundo. Aber auch da hat man mich wieder rausgeworfen.« Ich fragte mich, ob ich Nói begegnet war, damals, als ich unter dem Eisbären gelegen hatte.

»Der Metzgermeister hat mich fast halbiert. Mein Ärzte-Team schätzte die Überlebenschancen auf dreißig Prozent, und darum habe ich dir nichts sagen wollen. No drama. So long my friend, verstehst du? Ich wollte zur Hintertür raus. Abschiede sind für Loser.«

Ich staunte.

»Wie lange warst du denn tot?«

Nói streif‌te den Pullover wieder über die Rippen.

»Ich weiß bloß, dass ich ziemlich lange weg war. Vier Operationen insgesamt. Danach Reha! Da war ich länger als Charlie Sheen und Amy Winehouse zusammen.«

»Wer?«

»Aber jetzt bin ich ein neuer Mensch.«

»Toll!« Ich war nun nicht mehr wütend auf Nói und machte das Daumen-hoch-Zeichen.

»Aber genug über mich. Ist ja voll abgefahren, was du alles erlebt hast!«

»Ach.« Ich winkte ab.

Nói hielt eine unsichtbare Pistole in die Kamera.

»You talking to me? Bam, bam, bam! Stirb, Eisbär-bitch!«

»Na ja, es tat mir eigentlich ziemlich leid. War ein schönes Tier. Ich glaube sogar, das schönste Tier, das ich je gesehen habe.«

»You or me, baby! Das war völlig korrekt, was du da gemacht hast. Die Natur kennt keine Gnade.«

»Üble Sache.«

»Manchmal träume ich. Albträume. Und dann bekomme ich keine Luft. Wache schweißgebadet auf, mitten in der Nacht, oder ich schlage jemanden oder schreie oder schmeiße was.«

»Bro! PTSD is a bitch!«

»Was?«

»Shell shock. Wie die Soldaten, die aus dem Krieg kommen. Vietnam zum Beispiel.«

»Auch Korea?«

»Spielt keine Rolle. Korea, Irak, Afghanistan –«

»Vielleicht habe ich es von meinem amerikanischen Großvater geerbt.«

»Kaum. So was ist nicht erblich. Die Soldaten haben einen Schaden. Albträume und so. Und dann jagen sie sich eine Kugel in den Kopf. Bam!«

Róbert McKenzie blitzte vor mir auf und ich begann zu schwitzen.

»Ja, so ähnlich ist es auch bei mir«, murmelte ich und schnappte nach Luft.

»Junge, Kopf hoch! Kein Grund zur Sorge! Du bist ein Held! Ich habe das Interview im Fernsehen gesehen und einen oder zwei Zeitungsartikel gelesen. Die Weiber sind sicher voll auf dich abgefahren, was?«

»Na ja«, ich dachte an Perla, »es gab schon eine –«

»Respect. Und? Habt ihr –« Nói machte das internationale Handzeichen für vögeln. Ich musste lachen, obwohl ich gar nicht wollte.

»Oh, Mann, was würde ich geben, wenn ich nur einmal –«

Ich beschloss, Nói nicht zu sagen, dass Perla und ich nie Sex gehabt hatten, ich hatte meine Hosen immer schön anbehalten, selbst wenn wir zusammen im Bett gelegen hatten.

»Aber wieso redest du darüber in der Vergangenheit?«

»Ach, Weiber«, seufzte ich, und Nói verstand mich sofort, denn Freunde können sich ohne viele Worte eine ganze Liebesgeschichte von Anfang bis Ende erzählen. Danach folgte eine kurze Schweigeminute für alle enttäuschten Männer dieser Welt.

»Hör mal, Bärentöter. Meine Mutter hat die Traueranzeige in der Zeitung gesehen. Und darum habe ich mir gesagt, Mensch, Nói, wird Zeit, dass du dich mal wieder beim Sheriff meldest!«

»So ist das Leben nun mal. Wir sind alle nur Erde.«

»Word. Only the best die young.«

»Großvater war ziemlich alt.«

»Woran ist er eigentlich gestorben?«

Ich dachte nach.

»Er war einfach alt, hat sich an nichts erinnern können, weder an mich noch an meine Mutter.«

»Alzheimer.«

»Er war fünfundachtzig.«

»Daran stirbt man nicht. Hatte er Covid?«

»Nein. Ich habe ihn noch am Tag davor besucht.«

»What? Du durf‌test ihn besuchen? Habt ihr keine Pandemie bei euch da oben?«

»Weird, aber na gut. Hat er gehustet?«

»Nein.«

»Hat er Fieber gehabt?«

»Ich glaube nicht.«

»Ist er umgefallen oder so?«

»Ja, aber er ist auf mir gelandet, und es hat ihm nicht wehgetan. Mir schon.«

»Hast du überhaupt seinen Autopsiebericht gelesen?«

»Seinen was?«

Nói lehnte sich vor und begann, die Tastatur zu bearbeiten. Ich schaute ihm eine Weile dabei zu, dann wollte ich mir etwas zu futtern aus der Küche holen, aber Nói rief, ich solle nicht abhauen. Also setzte ich mich wieder hin.

»War dein Großvater beliebt? Hatte er Feinde?«

»Feinde?« Ich musste an die Beerdigung in Sauðanes denken. »Bestimmt. Früher hat er sich manchmal mit den Leuten aus Þórshöfn geprügelt. Aber nur im Anzug. Und er hat eine kommunistische Partei gründen wollen.«

»Einen Raufarhöfn-Gulag?«

»Und manchmal hat er die Leute gebissen.«

»Tollwut. Kenn ich. Wurde an seiner Beerdigung geweint?«

»Meinst du, außer meiner Mutter und meiner Tante und so?«

»Korrektomundo.«

»Nö.«

»Bro. Hochinteressant. Wir können also nicht ausschließen, dass er umgebracht wurde.«

»Dass du den Autopsiebericht nicht zu Gesicht bekommen hast, macht die Sache extrem verdächtig, verstehst du?«

»Aber wieso hätte ihn jemand umbringen wollen? Großvater wäre doch sowieso bald gestorben.«

»Was ist mit dem Dampf‌topf?«

Bevor ich von Óttar erzählen konnte, begann bei Nói etwas zu tuten, jemand rief ihn an.

»Later, dude«, sagte er noch, dann brach die Verbindung ab, und ich saß verdutzt vor dem Laptop.

Weg war er. Mein Kopf fühlte sich wie ein Topf Fischsuppe an, in dem jemand mit einer Kelle kräftig gerührt hatte. War Großvater ermordet worden?

Ich zuckte zusammen, als mein altes Nokia-Handy in der Hosentasche rhythmisch zu surren begann.

»Kalli, bist du noch immer im Dorf?« Es war Hafdís von der Gemeindeverwaltung. Sie kam immer schnell zur Sache. »Du kannst doch gut Englisch, nicht wahr? Do you speak English, por favor?«

»Ich glaube schon, ja.«

»Sehr gut. Hier steht nämlich ein Gentleman aus Amerika, der sich gern den Arctic Henge anschauen möchte, und ich habe grad keine Zeit –«

»Ein Gentleman

»Korrekto!« Hafdís flüsterte plötzlich: »Ein amerikanischer Tourist. In die Jahre gekommen. Da springt bestimmt ein gutes Trinkgeld raus. Hast du Zeit?«