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In Keflavík bekam ich ein Teststäbchen durch die Nase in meine Fischsuppe gedrückt. Erst da wurde ich wieder richtig wach. Alle werden wach, wenn ihnen ein kitzelndes Stäbchen in die Nase gesteckt wird. Das ist einfach so.
Wie war ich überhaupt nach Island gekommen? Ich erinnere mich dumpf an die gestresste Frau der isländischen Botschaft, die mich zum Flughafen gefahren und in ein Flugzeug gesetzt hatte. Wahrscheinlich war ich mitten in der Nacht zurückgeflogen, es gab auch ein paar Passagiere, aber alle Menschen waren maskiert, suchten Abstand; Masken und Augenpaare wie viel zu kleine Fenster, ausdruckslose, weit entfernte Bullaugen, und vor dem Flugzeug nichts als die Schwärze des Winters.
In der Empfangshalle wartete meine Mutter auf mich. Trotz der Maske sah ich sofort, dass sie traurig war, vielleicht auch wütend, denn sie hatte rote Augen und ihre Haare waren unordentlich. Sie drückte mich an sich, kurz und fest, dann zog sie mich nach draußen, wollte gar nicht wissen, wie es bei meinem Vater gewesen war oder ob ich eine gute Reise gehabt hatte, sondern fuhr mich schweigend und ohne auch nur einmal anzuhalten nach Reykjavík, wo wir uns für fünf Tage in einem Hotel einquartieren mussten. Quarantäne. Eingesperrt auf kleinstem Raum, Tür zu, peng.
Die ersten Tage in Quarantäne waren die schönsten meines Lebens! Wir schauten Filme, meistens auf dem Laptop, mal zusammen, mal jeder für sich, und wir aßen richtiges Hotelessen oder bestellten Take-away, Pizza und Hamburger für mich, Sushi für meine Mutter, die nicht arbeiten musste, einfach immer da war und nie wegging. Ich hatte alle Zeit der Welt, ihr zu erzählen, was mir in Mill Creek und Washington, D.C., zugestoßen war. Schon am nächsten Morgen, als wir nach langem, herrlichem Schlaf nebeneinander aufgewacht waren, wollte sie wissen, was passiert war, da drüben bei meinem Vater, und weil ich ihr alles erzählte, war sie bald ziemlich wütend auf ihren Samenspender. Sie hätte ihn verprügelt, wenn er hier aufgetaucht wäre. Das behauptete sie zumindest. Aber sie war nicht nur wütend auf ihn, sondern auf alle Amerikaner. Und sie war wütend auf sich selbst. Sie könnte sich ohrfeigen, sagte sie, die E-Mail nicht in den Spam-Ordner verschoben zu haben, denn mein Vater sei nichts weiter als das: Spam.
Als er schließlich anrief, um zu erfahren, ob ich gut nach Island gekommen war, fertigte meine Mutter ihn mit nur fünf knappen Worten ab: Ich sei gut gelandet, bless.
Dann schimpfte sie noch eine ganze Weile mit ihm, obwohl sie längst aufgelegt und ihr Mobiltelefon aufs Bett geschmissen hatte. Er konnte sie also gar nicht hören. Ich schon! Ich hatte gar nicht gewusst, dass meine Mutter so viele Schimpfwörter kannte, sie nannte ihn sogar eine Saugglocke. Das ist ein Werkzeug, womit man ein verstopftes Klo frei machen kann, ein ganz nützliches Ding also, aber niemand möchte eine Saugglocke sein und Kopf voran in eine verstopfte Kloschüssel gesteckt werden.
Nachdem meiner Mutter die Schimpfwörter ausgegangen waren, musste ich ihr noch einmal alles, wirklich alles erzählen, bis ins kleinste Detail. Sie hörte mir gebannt zu, gab dabei komische Seufzer von sich, stöhnte, schüttelte den Kopf, zerzauste sich die Haare oder drückte sich ein Kissen aufs Gesicht und schrie. Eigentlich ganz lustig. Ich musste immer wieder lachen, und letztendlich lachte auch meine Mutter, weil man nie so lange wütend sein kann, wie man eigentlich möchte.
In den Abendnachrichten wurden Bilder aus Washington, D.C., gezeigt, und ich stand nah beim Fernseher und kommentierte sie wie ein richtiger Reporter. Wir versuchten, meinen Vater oder Sharon im Getümmel auszumachen, blieben jedoch erfolglos. Dafür sah ich jemanden, der mir sehr bekannt vorkam, allzu bekannt, und darum wurde ich zu Stein, denn wenn man sich so unverhofft selbst im Fernsehen gegenübersteht, ist das ganz schön unheimlich.
Meine Mutter gab einen hellen Schrei von sich, den man ganz bestimmt im Nebenzimmer hören konnte, total peinlich. Der Schrei verhallte zum Glück augenblicklich, als wäre auch meine Mutter darüber erschrocken, aber ihr Mund stand immer noch offen.
Es war eine verwackelte Handyaufnahme. Da stand ich, Kalmann Óðinsson, ein wenig unscharf, kaum erkennbar eigentlich, aber die Islandfahne in meinem Rucksack war der Beweis, dass es sich nur um mich handeln konnte. Ich stand an einer Straßenecke, umzingelt von einer Schar junger Leute, die mich mit Beleidigungen eindeckten.
»Es sieht ganz danach aus, dass am Sturm aufs Kapitol auch einer von uns beteiligt gewesen ist«, kommentierte der Nachrichtensprecher trocken. »Oder zumindest jemand mit einer isländischen Fahne, denn die Identität des –«
Meine Mutter hatte sich aus ihrer Starre gelöst und schaltete den Fernseher aus, klick.
Dann sagten wir etwa eine Minute lang nichts. Meine Mutter starrte auf den schwarzen Bildschirm und ich starrte sie an. Das Nokia begann zu surren, und meine Mutter zuckte zusammen.
»Nicht!«, zischte sie. »Die Medien!«
Anrufer unbekannt. Ich ließ das Handy surren, bis es damit aufhörte, dann erst schnappte meine Mutter nach Luft. Aber jetzt tutete mein Laptop, und meine Mutter klappte zusammen, ging auf dem Teppich des Hotelzimmers in die Hocke und verbarg ihr Gesicht in den Händen.
»Es ist Nói!«, rief ich erleichtert, denn Nói war mein bester Freund, also gab es keinen Grund zur Sorge.
»Nói?«, fragte meine Mutter. Sie schaute mich erstaunt an, ihre Hände wie Scheuklappen am Gesicht.
»Mein bester Freund!«
Ich steckte die Kopfhörer in die Ohren, verkabelte mich mit dem Laptop, damit meine Mutter ungestört auf dem Boden sitzen bleiben konnte.
»You made the evening news, baby! Top Zuschauerquoten!«
Ich verstand nicht immer alles, was Nói meinte, aber ich vermutete, dass er zufrieden mit mir war.
»Verdammte Medien«, sagte ich.
Nói lachte. Dann wurde er ernst.
»Wieso bist du eigentlich nie online? Erzähl mal! Wie geht’s dir da drüben?«
»Ich bin schon wieder zurück.«
»Say what now?«
»Ich bin jetzt ein Staatsfeind, stehe auf so einer Liste, und darum hat mich Dakota Leen nach Hause geschickt. Sie ist eine FBI-Agentin und ziemlich hübsch.«
»Kalmann, slow down! Der Reihe nach. Bist du schon wieder im Nordland?«
»Nein. Ich bin in Reykjavík. Fünf Tage in Quarantäne. Mit Mama.«
»Um die Ecke? Staatsfeind? Geile FBI-Agentin? Mama? Kalmann, ich mach ne Schraube!«
Ich stöhnte. Mir blieb nichts anderes übrig, als auch Nói die ganze Geschichte zu erzählen. Aber ich hatte ja sowieso nichts Besseres zu tun, und meine Mutter hatte sich flach auf den Zimmerteppich gelegt, die Arme ausgebreitet, und starrte an die Decke, als spiele sie tot. Und zum ersten Mal hörte mir Nói aufmerksam zu, ohne gleichzeitig in ein Multiplayerspiel vertieft zu sein. Aber er stellte fest, dass wir nur zwei Komma sieben Kilometer voneinander entfernt waren. Ich schlug vor, ihn nach der Quarantäne zu besuchen, aber er winkte ab. Er wisse nie, wann er zu Hause sei. Er müsse immer wieder zu den Quacksalbern, in die Reha, in die Physio, und sowieso ersaufe er in Arbeit, er müsse Deadlines einhalten, er könne nicht einfach so mir nichts, dir nichts Gäste empfangen.
»Homeoffice is a bitch«, sagte er.
»Ach so«, sagte ich enttäuscht und erzählte ihm noch ein wenig von dem Sturm in D.C., den verrückten Leuten, denen ich da begegnet war. Von der FBI-Agentin Dakota Leen erzählte ich ihm natürlich auch, er wollte bis ins Detail wissen, wie sie aussah, und nachdem ich sie ihm beschrieben hatte, schätzte er sie als eine solide Acht ein, vielleicht eine Neun in Uniform.
»Und sie ist intelligent!«, ergänzte ich, schließlich hatte sie Großvater auf einer schwarzen Liste für russische Spione gefunden.
»Double-you-tee-eff, Kalmann! Ein russischer Spion? Dein Großvater? Bro!«
»Korrektomundo! Darum war er auch ein Staatsfeind.«
Meine Mutter war aufgestanden, hatte sich vor mir aufgebaut, die Hände in die Seiten gestemmt und musterte mich kritisch. Ihre Nasenflügel bewegten sich im Rhythmus ihres Atems.
»Staatsfeind?«, knurrte sie.
»Ha!« Nói lachte wieder. »Dein Großvater war ein russischer Spion. In Raufarhöfn. For real?«
»Ja doch«, flüsterte ich und wich dem Blick meiner Mutter aus.
»Fucking hell. Jetzt ergibt das alles Sinn! Dein Großvater spionierte für die Russen die Amis aus! Deshalb konnte er Russisch, und wahrscheinlich wollte er dir eine geheime Information anvertrauen. Top secret!«
Meine Mutter gab mir mit einer unwirschen Handbewegung zu verstehen, dass ich das Gespräch abbrechen solle, und zwar sofort, aber Nói flippte fast aus.
»Der Berg, weißt du noch?«
»Heiðarfjall«, murmelte ich.
»Gora letit! Oh! Fuck me!« Nói lehnte sich im Stuhl zurück und schlug sich die Hand an die Stirn. Ich sah es zwar nicht, aber es machte klatsch. »Sie hören mit!«
»Wer?«
»Das FBI! Hast du Anom?«
»Was ist das?«
»Ein verschlüsselter Chatroom.«
»Nein.«
»Telegram?«
»Ich habe bloß ein Nokia.«
»Bro!«, sagte Nói noch, dann verschwand er von der Bildfläche, war einfach weg.
Ich war verwirrt. Wurde ich belauscht? Vom FBI überwacht und beschattet? Hatte Dakota Leen mitgehört, als wir uns über sie unterhalten hatten?
Ich klappte den Laptop langsam zu. Meine Stirn brannte, meine Handflächen waren feucht.
»Kalmann!« Meine Mutter setzte zu einer Frage an, die sie überhaupt nicht auszusprechen brauchte, denn ich wusste gleich, was sie von mir wissen wollte. Ich hatte völlig vergessen ihr zu erzählen, dass Großvater wegen Spionage auf einer schwarzen FBI-Liste stand. »War mein Vater ein russischer Spion? Oder war das ein schräger Witz, Kalmann Óðinsson?«
Ich zuckte mit den Schultern und fühlte mich, als hätte ich eine Dummheit gemacht.
Der Gesichtsausdruck meiner Mutter veränderte sich plötzlich. Sie setzte sich neben mich aufs Bett und legte den Laptop auf den Nachttisch. Plötzlich wirkte sie sehr müde.
»Schon gut, Kalli minn.« Sie rieb mir über den Rücken. »Du hast mir ja nicht alles auf einmal erzählen können, ich versteh schon, kein Problem. Aber klär mich mal auf: Was hast du über Großvater erfahren? Wort für Wort.«
Natürlich erzählte ich ihr den ganzen Rest, es war ja kein Geheimnis. Und erst jetzt wurde mir bewusst, dass diese Information eigentlich die wichtigste war und dass ich damit hätte anfangen sollen, denn nun hatte plötzlich alles einen Sinn.
»Die vielen Fotos!«, hauchte meine Mutter. »Die Ausflüge nach Langanes, die Radarstation der Amerikaner –« Sie schaute mich ganz intensiv an. »Die Radarstation!«
»Heiðarfjall«, ergänzte ich.
»H-2.« Meine Mutter hob die Hände, hielt sie halb in der Luft. »Er hat uns dazu missbraucht, die Amis auf dem Berg zu fotografieren, mich und meine Schwester!« Plötzlich machte sie noch größere Augen. Sie griff wieder nach dem Laptop, klappte ihn auf und öffnete Google. »H-2«, murmelte sie erneut und tippte es ein. Dazu »Heiðarfjall«.
»Wieso ist er nie mit mir da hingegangen?«, wollte ich wissen. Ich war nun fast ein wenig beleidigt. Offenbar taugte ich nicht zur Spionage.
»Die Station ist schon lange nicht mehr in Betrieb«, sagte meine Mutter. Der Kalte Krieg sei zu Ende gegangen, als ich noch ganz klein gewesen war. »Warte, hier stehts. Bingo! H-2 ist die Abkürzung für die Radarstation auf dem Heiðarfjall.« Sie hatte den ersten Link geöffnet und überflog nun die Zeilen, klickte auf den nächsten und übernächsten Link und wirkte plötzlich amüsiert. »Ha! Im Januar neunzehneinundsechzig hat ein Sturm die Radarkuppel weggeblasen!« Es war aber der nächste Link, der sie wirklich aufhorchen und wieder ernst werden ließ. Zuerst überflog sie den Text, dann las sie ihn mir laut vor: »Sondermüll und Schadstoffe auf dem Berg Heiðarfjall auf Langanes. Die Trümmer der amerikanischen Radarstation haben während über vierzig Jahren den Untergrund verschmutzt. Es gibt Hinweise, dass umweltschädlicher Abfall mit gewöhnlichem Müll auf dem Berg deponiert worden ist. Chemische Rückstände sind im Grundwasser der anliegenden Bauernhöfe nachgewiesen worden. Das Wasser ist verschmutzt.«
»Wohnt da nicht Tante Telma?«, fragte ich.
»Doch!«, antwortete meine Mutter.
»Vielleicht hat Großvater wegen dem Müll Spionage-Fotos gemacht.«
»Kaum. Das mit dem Müll hat die Russen bestimmt nicht interessiert.«
Meine Mutter starrte noch eine Weile auf den Bildschirm, dann zückte sie ihr Handy und rief Tante Guðrún an, unterhielt sich zwei Stunden lang mit ihr. Zuerst hörte ich zu, doch ich musste die ganze Zeit an Großvater denken, wie er ganz beiläufig Fotos von seinen Kindern schoss, als die Militärlastwagen der Amerikaner weiter hinten durch die Landschaft brausten. Wie er draußen auf dem Meer auf Petras Deck stand, Pfeife rauchte und durch den Feldstecher guckte, sich Notizen machte. Dann wurde mir langweilig und ich schaltete den Fernseher an.
Meine Mutter hatte aufgehört zu telefonieren.
»Wenn wir wieder daheim sind, schauen wir uns die Fotos und Dokumente noch mal genauer an!«
Ich fand die Idee prima, und das sagte ich ihr auch, worauf sie lachte und mich ein wenig an sich drückte. Mein US-Abenteuer hatte trotz allem etwas Gutes; ich hatte erfahren, dass Großvater ein Spion war. Rückblickend hätte ich meiner Mutter sagen sollen, dass Großvater von einem fliegenden Berg gesprochen hatte. Und dass wir jetzt überwacht wurden. Ich hätte ihr sagen sollen, dass Großvater wegen seiner Spionage-Vergangenheit umgebracht worden war, auch wenn sie mir nicht geglaubt hätte.
Das ist bei mir einfach so: Wenn ich allen sage, dass da ein Eisbär ist, glaubt man mir erst, wenn er sich auf die Hinterbeine stellt und brüllt.
Die letzten zwei Tage unserer Hotel-Quarantäne waren dann doch ziemlich langweilig. Das Zimmer wurde immer kleiner, die Filme länger, das Essen, das man uns vor die Tür stellte, fader. Nie gab es Cocoa Puffs. Meine Mutter nahm lange Duschen, las ein Buch nach dem anderen, und sie seufzte viel. Sie telefonierte oft und schrieb lange E-Mails, zerbrach sich dabei immer den Kopf, weil sie keine Schreibfehler machen wollte. Ich hatte noch nie so viel Zeit in einem einzigen Raum mit ihr verbracht. Fast kam ich mir selbst wie ein Spion vor. Ich beobachtete sie. Sie hatte drei verschiedene Gesichtssalben; zwei für den Abend, eine für den Morgen. Wenn sie in einem Buch las, war ihr Gesicht völlig ausdruckslos, aber manchmal legte sie das Buch weg, um ihre Zehen zu bewegen und über das Gelesene nachzudenken. Sie konnte viel länger schlafen als ich, manchmal bis zehn Uhr, obwohl ich längst aufgewacht war – als hätte sie jahrelang zu wenig geschlafen. In der Nacht musste sie nie aufs Klo.
Ich glaube, jetzt, wo Großvater gestorben war, war sie mein Lieblingsmensch, auch wenn sie meine Mutter war und mich manchmal fast in den Wahnsinn trieb. Mütter müssen ihren Kindern auf die Nerven gehen, das ist einfach so, das ist ein Naturgesetz. Sonst würden die Kinder für immer bei ihren Müttern bleiben wollen. Und wie sie mich nerven konnte! Immer wieder musste ich ihr von Amerika erzählen, als wäre ich ihr Entertainer oder so. Sie hingegen erzählte mir kaum etwas, schon gar nicht von früher, und wenn ich sie über ihre Zeit in Keflavík oder über meine Kindheit ausfragte, reagierte sie gereizt. Sie wusste keine Witze und konnte nicht gut zeichnen. Die Hotelangestellten hatten uns Papier und Farbstifte vor die Tür gelegt, das war so eine Aktion des Roten Kreuzes, aber meine Mutter gab es sehr schnell auf, weil sie fand, sie habe zu wenig Talent. Also machten wir aus den Blättern Papierflieger und warfen sie aus dem Fenster, aber auch das endete im Desaster, denn die Flieger trudelten unkontrolliert zu Boden, und ein älterer Mann, der draußen spazieren war, beschwerte sich beim Roten Kreuz, behauptete, dass wir Müll aus dem Zimmerfenster geworfen hätten, und drohte damit, die Polizei zu verständigen.
Meine Mutter war während dieser blöden Pandemie ein Nachrichten-Junkie geworden. Sie hörte zu jeder Stunde die Radionachrichten, obwohl meistens dasselbe gesagt wurde, und abends schaute sie die Fernsehnachrichten auf dem Staatssender, um neunzehn Uhr und um zweiundzwanzig Uhr. Fast jeden Tag um elf Uhr morgens schaute sie sich die Pressekonferenz des Covid-neunzehn-Dreigespanns an, das uns über die aktuelle Lage informierte, die auch meistens dieselbe blieb. Nämlich angespannt. Die Journalisten stellten jeden Tag dieselben Fragen, und das Covid-neunzehn-Dreigespann hatte jeden Tag dieselben Antworten. Darum waren schlussendlich alle ganz entspannt.
Einmal schnappte sich meine Mutter den Laptop, obwohl ich mir gerade eine Episode von Versuchung im Paradies anguckte, die ich aber schon gesehen hatte, doch meine Beschwerde stieß auf taube Ohren, denn sie wollte noch mehr über den Berg Heiðarfjall in Erfahrung bringen, und das interessierte mich auch.
»Misty Mountain!«, rief sie, nachdem sie eine Weile recherchiert hatte. »So nannten die Amis den Berg. Misty Mountain. Wie passend.«
»Misty Mountain?«
»Sie haben ihn uns mitsamt der deinstallierten Radarstation am ersten September neunzehnsiebzig zurückgegeben. Nett, findest du nicht?« Meine Mutter saß mit gekreuzten Beinen im Bett, den Laptop im Schoß, ich machte es mir auf dem Bauch neben ihr bequem und schaltete den Fernseher an, aber ohne Ton. »Alles, was die Amis nicht mitgenommen haben, durften wir behalten, die Baracken, Antennen, den ganzen unnützen Kram. Dummerweise ließen sie auch ihren Müll zurück.« Meine Mutter überflog den Text murmelnd, dann wurde sie wieder laut: »PCB!«
»Was ist das?«, fragte ich.
»Keine Ahnung, ein Schadstoff, der jetzt im Grundwasser ist.« Sie googelte. »PCB. Polychlorierte Biphenyle sind giftige und krebsauslösende organische Chlorverbindungen. O ja. Seit zweitausendeins weltweit verboten. Jetzt in der Atmosphäre, den Gewässern und im Boden allgegenwärtig nachweisbar. Kommt von Batterien und Transformatoren. Und Quecksilber. Fokk!« Sie klappte den Laptop ziemlich unsanft zu. »Ich kann das nicht lesen«, rief sie. »So was macht mich einfach rasend!«
»Mama!« Ich hatte Angst, dass sich unsere Zimmernachbarn, die wir schon seit Tagen husten hörten, wieder beschweren würden.
»Ist doch wahr! Diese Arroganz der fokking Amis!«
»Du klingst wie Großvater!«, entfuhr es mir, und meine Mutter war für etwa zwei Sekunden ganz still, starrte mich entgeistert an, dann prustete sie los, lachte laut und übertrieben, ließ sich zuerst auf den Rücken fallen, strampelte mit den Beinen, sodass mein Laptop fast vom Bett kippte. Sie warf sich auf mich und zerzauste mein Haar. »Dieses fokking Zimmer«, rief sie. »Dieses fokking Bett! Viel zu weich! Diese fokking Kitschbilder an den Wänden! Dieses fokking Möchtegern-nobel-Badezimmer!«
»Mama!« Ich bekam fast keine Luft.
»Diese fokking Pandemie, dieses fokking Virus, diese Welt, sie macht mich raaasend!«
Jetzt hielt ich es nicht mehr aus, wand mich unter meiner Mutter hervor und schlug ihr versehentlich ins Gesicht. Ziemlich fest sogar. Mehr als einmal wahrscheinlich.
Meine Mutter wurde augenblicklich still, starrte mich entgeistert an, dann verbarg sie ihr Gesicht in den Händen. Ich versuchte, sie unter den Armen zu kitzeln, damit sie vielleicht wieder lachen würde, aber sie wich zurück, sprang vom Bett und schloss sich im Badezimmer ein.
Ich blieb auf dem Bett sitzen.
Dachte an nichts.
Wartete auf den Filmriss. Aber ich hörte sie schluchzen. Meine Mutter weinte im Badezimmer, und es war meine Schuld, und darum verpasste ich mir eine Ohrfeige, und weil ich überhaupt nichts spürte, noch eine und noch eine, und plötzlich stand meine Mutter vor mir. Sie hatte eine knallrote Wange, ihr Nase blutete und ein Auge war ganz rot. Sie starrte mich an, als hätte sie den Verstand verloren. Wie in einem Horrorfilm.
»Kalmann«, sagte sie mit verzweifelter Bestimmtheit in ihrer Stimme. »Du kannst nichts dafür. Es war ein dummes Versehen.« Sie wollte zurück ins Badezimmer, drehte sich aber noch einmal um. »Es tut mir leid, dass ich so ausgeflippt bin, aber Menschen können grässlich sein, egoistisch und gierig, verschmutzen die Welt, und wenn man ihnen vorschreibt, eine Maske zu tragen und die Hände zu waschen, machen sie ein Geschrei, als geschähe ihnen das größte Unrecht. Aber du bist nicht so. Du hast kapiert, um was es geht, und ich bin stolz auf dich, ich bin stolz darauf, was aus dir geworden ist! Du kannst nichts dafür, hörst du?«
Mehr brauchte sie nicht zu sagen. Sie war stolz auf mich, das war einfach so, sie liebte mich eben, sie war schließlich meine Mutter, und darum machte ich jetzt den Ton des Fernsehers lauter, und meine Mutter schloss sich wieder im Badezimmer ein, und als wir am nächsten Tag ein letztes Mal getestet wurden und uns, nachdem wir die negativen Testresultate erhalten hatten, an der Rezeption abmeldeten, hatte meine Mutter noch immer gelbe und violette und rote Flecken im Gesicht, die man aber dank der Maske nicht gut sehen konnte, und darum fragte niemand, ob sie irgendwo die Treppe hinuntergefallen war.