22 Lúlli Lenin

Ich schlief schlecht. Fühlte mich wie ein weißes Schneehuhn im Frühling, wenn der Schnee weggeschmolzen ist. Während der Nacht musste ich mehrmals pinkeln gehen, wahrscheinlich hatte ich zu viel Cola getrunken. Ich war auch viel zu spät schlafen gegangen, weil ich am Abend noch lange mit Nói geplaudert hatte. Der hatte das Internet fleißig nach dem alten Kommunisten durchstöbert, aber lediglich herausgefunden, dass Lúlli Lenin eigentlich Lúðvík Birgisson heißt, seit über dreißig Jahren verwitwet ist und nur wenige Jahre jünger als mein Großvater war. Nói war überzeugt, dass sie allesamt Spione gewesen waren, meine Großtante Telma inbegriffen, vielleicht sogar Leute für die Russen beseitigt hatten. Er nannte sie den Melrakkaslétta-KGB, und er vermutete, Róbert McKenzie habe auch etwas mit der ganzen Sache zu tun gehabt. Ich solle Lúlli Lenin unbedingt zu dessen Verschwinden befragen. Ich nickte nur, ohne Nói zu sagen, dass Róbert McKenzies Verschwinden rein gar nichts mit der Sache zu tun hatte.

Dann wandte er seine Aufmerksamkeit wieder dem Kürzel H-2 zu, der amerikanischen Radarstation auf dem Berg Heiðarfjall, und er machte sogar den Bericht der Universität Reykjavík über die ganze Verschmutzung ausfindig,

Bei einer Schale Cocoa Puf‌fs ließ ich mir den gestrigen Tag noch einmal durch den Kopf gehen, vergaß dabei fast zu essen. Ein komisches Gefühl plagte mich, als wäre ich der Lösung des Rätsels ganz nahe, obwohl ich gar nicht genau wusste, was das Rätsel eigentlich war.

Um zehn Uhr, als es schon fast hell geworden war, schulterte ich eine Schneeschaufel und marschierte los, und weil ich fünf Minuten zu früh bei Lúlli Lenins verlassen geglaubtem Haus angekommen war, begann ich, die Einfahrt frei zu schaufeln, wurde aber schnell müde, denn der Schnee war nass und schwer, in sich zusammengefallen, weshalb ich vor der Tür wartete, bis es auf die Sekunde genau zwanzig Minuten nach zehn war.

Ich presste mein Ohr an die Tür, hielt den Atem an und lauschte. Die Stimme eines Radiosprechers war dumpf zu vernehmen. Ich konnte sogar verstehen, was gesagt wurde, aber weil es weder um Wetterprognosen noch um Todesfälle ging, die Lúlli Lenin so gern hörte, pochte ich an die Tür. Niemand öffnete, und nun war es schon zweiundzwanzig Minuten nach zehn, also probierte ich vorsichtig die Klinke und war überrascht, dass sich die Tür ganz einfach aufstoßen ließ.

Die gestrige Schwärze im Hausinnern hatte sich in die Schubladen und Schränke verkrochen, düster war es aber noch immer. Die Stimme des Radiosprechers dröhnte durch den Flur, es ging um einen Komponisten, der vor exakt einhundert Jahren gestorben war.

»Hallo!«, rief ich. »Bist du zu Hause, Lúlli Lenin? Hallo!«

»Lúlli Lenin?« Noch immer keine Antwort.

Der Komponist war in einen Mann verliebt gewesen, heiratete aber eine Frau, weil sich zwei Männer damals nicht lieben durf‌ten. Vielleicht war der Komponist gar nicht vergiftet worden, sondern war an Kummer gestorben. Aber weil die Stimme des Radiosprechers so laut war, konnte ich mir keine Gedanken darüber machen, dafür gab es einfach keinen Platz mehr in meinem Kopf. Zudem kam die Stimme von zwei Seiten: aus der Stube und aus der Küche. Es mussten also zwei Radios laufen.

Zuerst schaltete ich das Radio in der Küche aus, und als ich mich umdrehte und durch die Küchentür in die Stube guckte, sah ich das zweite Radiogerät, das auf einem kleinen Tischchen stand, das nur dazu diente, das Radiogerät

Ich ging mit ganz kleinen Schritten rüber, griff dabei instinktiv an meine Hüfte, wo früher die Mauser angehängt gewesen war, griff aber ins Leere. Mein Herz pochte, und ich machte einen letzten Schritt.

Tja. Und da sah ich ihn. Er saß entspannt im Sessel, Lúlli Lenin, und schaute mich mit leerem Blick an. Die Schrotflinte lag in seinem Schoß, den Finger hatte er noch immer am Abzug, auf seinem Bart klebte diese schwarze Masse, eine Mischung aus Schnupftabak und Rotz, und mitten auf seiner Stirn klaff‌te ein kleines Loch, etwa so groß, dass man einen Finger hätte hineinstecken können. Das Blut, das neben seiner Nase im Dickicht des Bartes versickert war, glänzte nicht mehr, war schon fast trocken. Auch sein Pullover hatte sich vollgesogen, wie ich erst jetzt bemerkte, genau da, wo ich Lúlli Lenins Herz vermutet hätte. Kammerschuss.

Manchmal habe ich Filmriss. Darum weiß ich nicht, wie lange ich dort stehen blieb und in das Loch guckte, in Lúlli Lenins Schädel hinein, als suchte ich da nach Antworten. Eine neue Radiosprecherin riss mich aus meiner Starre, kündigte an, dass sie jetzt die Todesnachrichten verlesen werde, weshalb ich mich fragte, ob die Sprecherin sein Ableben schon erwähnen würde, aber das war natürlich Quatsch, das geht nicht so schnell, jemand hätte der Radiostation mitteilen müssen, dass Lúlli Lenin tot war. Jemand wie ich. Wahrscheinlich wusste es außer mir noch überhaupt niemand – außer mir und demjenigen, der die kleinen Löcher im Kopf und im Herz des Alten gemacht

Wer also hatte die zwei Löcher gemacht? War ich überhaupt allein im Haus?

Ich beschloss, dass ich genug gesehen hatte, sagte »bless«, drehte mich um und rannte nach draußen, ohne das Radio in der Stube auszuschalten, das jetzt die Namen der kürzlich Verstorbenen und deren Hinterbliebenen verlauten ließ.

Im Windschatten des Hanges lag der Schnee wie gewöhnlich höher. Die Sonnenstrahlen spielten mit den verdorrten Lupinen am oberen Rand der Anhöhe und verloren sich auf dem Meer. Ich sah keine Menschenseele. Die Kinder waren bestimmt in der Schule, der Laden machte heute erst am Nachmittag auf und der Hafen war ein gutes Stück von Lúlli Lenins Haus entfernt.

Eine ganze Weile blieb ich im Schnee stehen, denn nach Hause gehen und so zu tun, als sei es ein ganz normaler Tag, wäre nicht das Richtige gewesen.

Manchmal ärgere ich mich über meinen Kopf. Er funktioniert nicht immer richtig. Ich fragte mich ernsthaft, ob es am einfachsten wäre, Lúlli Lenin den Haien zu verfüttern. Dann hätte ich niemandem zu erzählen brauchen, dass ich ihn tot aufgefunden hatte. Und wenn mich Halldór nach ihm gefragt hätte, hätte ich ihm sagen können, dass Lúlli Lenin nicht da gewesen wäre, was in gewisser Weise auch gestimmt hätte; nicht ganz da im Geiste. Aber nur schon der Gedanke an die ganze Arbeit, das Zurechtmachen der

Sollte ich auf Einseinszwei anrufen? Sollte ich Yrsa informieren, dass sie Lúlli Lenin keine Lebensmittel mehr bringen brauchte?

Ich blickte unentschlossen auf die Haustür und fragte mich, was Großvater getan hätte. Vielleicht hätte er den Alten einfach in seinem Sessel sitzen lassen und wäre nach Hause gegangen, hätte gesengten Schafskopf aus dem Kochtopf gefischt, mit dem Messer die dünne Fleischschicht abgeschabt und sie sich in den Mund gesteckt. Vielleicht wäre ihm beim Kauen eingefallen, was zu tun gewesen wäre. Aber ganz bestimmt hätte er nicht auf Einseinszwei angerufen, denn Lúlli Lenin war mausetot, da hätte auch Halldór mit seinem Krankenwagen nicht mehr helfen können.

Manchmal, wenn man nicht mehr weiterweiß, muss man einfach etwas machen, das überhaupt nichts mit der Sache zu tun hat. Ich bemerkte meine Schneeschaufel neben dem Eingang und beschloss, den kleinen Weg bis zur Haustür frei zu schaufeln, schließlich hatte ich damit schon angefangen. Und während ich schaufelte, schoss mir plötzlich ein Gedanke durch den Kopf: Telma! Ich hielt inne. Sie gehörte doch auch zum Melrakkaslétta-KGB! War sie in Gefahr? Also doch Einseinszwei? Hätte ich Birna anrufen sollen? Aber was hätte ich denn sagen sollen? Etwa, dass es auf Langanes eine alte Frau gab, die Telma hieß und mit Großvater und Lúlli Lenin für die Russen spioniert hatte und deshalb beseitigt werden würde, in Lebensgefahr schwebte, vielleicht sogar schon tot war? Birna würde mir nicht glauben.

Ich stellte die Schneeschaufel an die Hauswand, zückte mein Mobiltelefon und versuchte sie anzurufen. Aber ihr Telefon war ausgeschaltet oder der Akku war leer, ich erreichte immer nur dieselbe automatische Stimme, ich konnte sie darum nicht warnen. Ich wiederholte den Vorgang etwa fünfmal, erfolglos.

Noch nie in meinem ganzen Leben hatte ich mir so viele Gedanken zugleich gemacht. Es fühlte sich an wie ein Feuerwerk. Wenn der Kopf explodiert und die Fischsuppe überläuft, ist das unangenehm. Also machte ich die Augen zu, zählte von zehn rückwärts bis null und dachte an Großvater. Ich dachte an früher, an den weiten Himmel über der Slétta, die Wolken, die mal wie Schafe, mal wie breite Streifen oder wie ein riesiger Suppendeckel aussahen, dachte ans Meer, daran, wie wir zusammen auf dem Boot waren, in das kleine Deckshaus gepfercht. Großvater, der zufrieden aufs Wasser schaute, in Gedanken versunken geradewegs auf den endlosen Horizont zufuhr, der nie näher rückte, egal, wie weit man fuhr, denn so sind Horizonte nun mal. Unerreichbar. Immer.

Plötzlich vermisste ich Großvater mit Haut und Haar, stand mit hängendem Kopf und hängenden Schultern da, vermisste den Geruch nach Benzin und nassem Holz, die Wärme und den Lärm des Motors. Ich mochte es, Großvaters Hände zu betrachten, denn sie waren so völlig anders, größer als meine oder die meiner Mutter. Hart, schwielig, unverwüstlich. Diese Hände brauchten keine Handschuhe.

»Großvater«, murmelte ich. »Was soll ich denn machen?«