Vor dem Zoll- und Einwanderungsbüro im Zentrum von Taschkurgan wartete eine Handvoll Männer im Schatten. Ein Bursche, der Ende zwanzig sein mochte, kam auf mich zu und stellte sich als Umair vor. Das blasse Gesicht war voller Aknenarben, das pechschwarze Haar glänzte vor Pomade.
»Glauben Sie alles, was Sie in den Nachrichten lesen?«, fragte er, als die Höflichkeitsfloskeln ausgetauscht waren.
»Tja …«, begann ich.
»Was ist mit dem 11. September?«, unterbrach er mich. »Glauben Sie wirklich, dass der Sohn eines Milliardärs aus Saudi-Arabien dahinterstand? Ich bin Ingenieur, und ich sage Ihnen, und das können Sie gern selbst überprüfen, amerikanische Ingenieure sagen übrigens dasselbe, ja, Ingenieure auf der ganzen Welt sagen genau dasselbe wie ich: Die Türme hätten nicht mit einem Flugzeug zum Einsturz gebracht werden können! Der Crash hätte einfach nicht genügend Hitze erzeugt, um die Eisen- und Stahlkonstruktion schmelzen zu lassen. Wissen Sie, wie viel Hitze nötig ist, damit solche Konstruktionen schmelzen?«
»Keine Ahnung«, gab ich zu. »Aber auch in Pakistan sind die Taliban doch für eine Reihe von Terrorangriffen verantwort…«
»Ja, wir hatten auch in Pakistan Terrorangriffe«, unterbrach mich Umair erneut. »Und ja, wir haben Probleme mit den Taliban, aber sagen Sie mir, woher kommen die Taliban?«
Er wartete nicht auf die Antwort, sondern hatte sie bereits zur Hand:
»Ja, die Taliban sind ein Produkt der Russen und Amerikaner!« Er sah mich aufgeräumt an. »So gut wie keiner der Terroristen, die man gefasst hat, ist beschnitten, und ihre Waffen stammen auch nie von hier. Also, ich weiß ja nicht, was wahr ist«, fügte er etwas vorsichtiger hinzu, »ich erwähne diese einfachen Fakten nur, damit Sie sich Ihre eigene Meinung bilden können.«
Immer mehr Männer gesellten sich uns zu. Einer der Neuankömmlinge hörte, dass ich aus Norwegen kam.
»Ich bin mit einem norwegisch-pakistanischen Mädchen verlobt«, warf er ein. »Wir haben uns in Islamabad kennengelernt, als sie dort studierte.«
»Wollen Sie in Pakistan oder Norwegen leben?«, fragte ich.
»In Norwegen, ganz klar.«
»Und wo in Norwegen?«
»Das weiß ich nicht genau, ich war noch nie dort«, antwortete er. »Aber ich werde schon einen schönen Ort für uns finden, wo Pakistaner gut leben können, einen Ort, wo schon andere Pakistaner wohnen.«
»Ich begreife das nicht«, wandte Umair ein. »Warum ins Ausland ziehen, um unter Pakistanern zu leben?«
Wir mussten über eine Stunde warten, bis wir von den chinesischen Sicherheitsposten weitergewunken wurden, die darauf achteten, dass alles zivilisiert ablief: Wir hatten ordentlich in einer Reihe zu stehen, Sprechen war streng verboten. Das Gepäck wurde in einem gewaltigen Apparat durchleuchtet, dann bekamen wir den Ausreisestempel aus China.
Insgesamt wollten rund vierzig Personen an diesem Tag nach Pakistan. Mit Gepäckstücken beladene pakistanische Männer, ein Dutzend Chinesen auf Gruppenreise, alle von Kopf bis Fuß in Gore-Tex-Kleidung, und ich. Wir alle wurden zu wartenden Kleinbussen gebracht. Ich fand einen freien Fensterplatz neben Abdul, einem Medizinstudenten aus Lahore. Die Brille und der dichte Bart erschwerten es, sein Alter zu schätzen, aber er erzählte, er sei vierundzwanzig und unverheiratet. Er hatte gerade ein fünfjähriges Medizinstudium irgendwo in China absolviert. Nun war er auf dem Heimweg, um das Praktische Jahr in einem Krankenhaus anzutreten, in dem er die Sprache verstand.
»Wieso wollten Sie Arzt werden?«, fragte ich ihn. Nach über zwei Wochen in China war es ein geradezu berauschendes Gefühl, ein unangestrengtes Gespräch auf Englisch zu führen, also hörte ich nicht auf, ihm Fragen zu stellen.
»Meine Eltern wollten, dass ich Arzt werde«, antwortete Abdul. »Ich respektiere sie und vertraue darauf, dass sie wissen, was für mich am besten ist.«
»Vertrauen Sie auch darauf, dass sie eine Frau für Sie finden?«, bohrte ich weiter.
»Ja, ich vertraue ihnen, aber selbstverständlich nehmen sie Rücksicht auf meine Wünsche.« Er schlug die Augen nieder. »Vor ein paar Jahren gab es ein Mädchen, das ich gern geheiratet hätte. Ich erzählte es meinen Eltern, und sie gaben mir ihr Einverständnis. Aber die Sache nahm kein gutes Ende …«
»Sie haben nicht geheiratet?«
»Nein.« Abdul seufzte leise und wechselte das Thema. »Wenn es um Geschichte geht, weiß man nie richtig, was stimmt«, sagte er. »Es wird immer verschiedene Ansichten, Meinungen und Theorien geben. Nehmen Sie zum Beispiel die Juden. Alle sagen, Hitler habe viele Juden umgebracht, ziemlich viele …«
»Sechs Millionen.«
»Ja, viele, wie gesagt. Aber ist es denkbar, dass er nicht ganz so viele getötet hat, einfach nur ziemlich viele, und alles andere eine Abmachung zwischen den Juden und den USA war, damit sie sich in Palästina ansiedeln konnten? Unter dem ottomanischen Reich durften sich ja keine Juden in Palästina niederlassen. Ja, ich sage nicht, dass es so war, ich sage nur, dass es eine Möglichkeit ist.«
»Sind Sie in den Konzentrationslagern in Polen gewesen?«, wollte ich wissen.
»Nein, ich habe nur im Internet darüber gelesen. Egal, mein Punkt ist, dass es immer viele Versionen der Geschichte geben wird. Und man weiß nicht, welche davon richtig ist.«
»Genau!«, rief ein großer Mann in den Dreißigern von einem der Fensterplätze auf der anderen Seite des Mittelgangs. Er hieß Muhammed, erfuhr ich, und promovierte in China gerade in Pharmakologie.
»Zurzeit gibt es jedenfalls zwei Geschichten über die Ereignisse in Pakistan«, sagte Muhammed. »Die Amerikaner haben alles richtig gemacht, oder die Amerikaner haben alles falsch gemacht. Aber was werden die Leute in hundert Jahren sagen? Was ist eigentlich richtig, und was ist falsch?«
Es gelang mir nicht, den langweiligen Snack zu essen, den ich mir gekauft hatte, denn zwischen dem Philosophieren über die immanente Relativität der Wahrheit reichten Abdul und Muhammed ununterbrochen Häppchen aus ihren reichhaltigen Proviantpaketen herum.
»Das chinesische Essen mag ich nicht«, erklärte Abdul.
»Nein, chinesisches Essen ist grauenhaft«, stimmte ihm der Pharmakologe zu.
»Mögen Sie nicht mal die Nudeln?«, fragte ich.
»Nudeln? Das ist doch was für Kinder!« Muhammed ahmte nach, wie die langen Streifen eingeschlürft werden, und lachte verächtlich.
»In den Jahren in China habe ich richtig gut gelernt, pakistanisch zu kochen«, sagte Abdul und reichte mir einen Stapel selbst gebackener Chapati.
»Wissen Sie, dass die Chinesen Schlangen essen?«, fragte mich Muhammed. »Und Hunde, Frösche und Insekten? Sie essen alles!«
Die beiden chinesischen jungen Männer, die vor uns saßen, verstanden zum Glück kein Wort Englisch. Außerdem waren sie eingeschlafen, sobald der Fahrer den Motor angelassen hatte; sie schliefen noch immer tief.
»Mit ihm hier würde ich gern mal ein ernstes Wort reden!« Muhammed schüttelte den mageren pakistanischen Burschen neben sich ein wenig. »Er hat die Schule geschmissen und reist zwischen China und Pakistan hin und her, um Edelsteine zu verkaufen. Er ist jung, er sollte lieber weiter zur Schule gehen!«
Da der Junge kein Englisch verstand, übersetzte Muhammed seine Tirade. Der Junge grinste verlegen und zeigte mir auf seinem Mobiltelefon ein Foto, ein hübsches Mädchen, das einen langen bunten Schal umgelegt hatte.
»Ich bin in sie verliebt, und nun haben meine Eltern die Verlobung mit ihr organisiert«, erzählte er stolz. »Wir wollen bald heiraten.«
Muhammed schüttelte resignierend den Kopf. »Er schmeißt sein Leben weg und ist zu dumm, das selbst zu erkennen!«
Die Straße erstreckte sich in gerader Linie über ein graues Plateau, umgeben von schneebedeckten Berggipfeln. An dem leichten, aber zunehmenden Druck an den Schläfen spürte ich, dass wir bergauf fuhren. Hin und wieder kamen wir an kleinen Ziegen-, Esel- oder Yakherden vorbei, hier und da standen zwei, drei weiße Jurten, ab und an sahen wir einen einsamen Hirten, aber im Großen und Ganzen hatten wir die Landschaft und die Straße für uns allein. Die Schilder rieten zu einer Höchstgeschwindigkeit von vierzig Stundenkilometern, doch hier gab es offensichtlich keine elektronischen Geschwindigkeitsmessungen. Am allerletzten chinesischen Grenzposten überprüften zwei junge Soldaten in dicken Pelzjacken, ob alle einen tagesfrischen Stempel in ihren Pässen hatten. Dann winkten sie uns weiter.
Das letzte Stück ging steil bergauf. Der Druck auf den Schläfen nahm zu, die Gehörgänge füllten sich mit Luftbläschen. Wenige Minuten später hatten wir den höchsten Grenzübergang der Welt (4693 Meter über N.N.) erreicht. Die Pakistaner klatschten munter in die Hände, als wir China verließen und durch das schwülstige pakistanische Betonportal fuhren.
Der Fahrer bewilligte gnädig einen zweiminütigen Fotostopp. Sowie ich aus dem Kleinbus stieg, war ich umringt von beleibten Männern mit Vollbart, langen, weiten Kitteln und Sandalen, die alle ein Selfie mit der bleichen Ausländerin machen wollten. Im Gegensatz zur chinesischen Seite kann man auf der pakistanischen bis zum eigentlichen Grenzübergang fahren, der zu einer populären Touristenattraktion geworden ist. Eifrig wie kleine Kinder schwenkten die bärtigen Männer ihre Mobiltelefone, und ich lächelte mit ständig neuen Gesichtern an meiner Seite in alle Richtungen, bis der Fahrer ungeduldig hupte, und ich mich erleichtert von den Handyblitzen losriss.
»Sind Sie nicht glücklich?«, erkundigte sich Abdul. Er lächelte breit, als wir zur pakistanischen Grenzstation hinunterfuhren, die beinahe hundert Kilometer tiefer im Tal lag.
»Doch schon, natürlich«, antwortete ich höflich.
»Wir sind extrem glücklich, wieder in unserem Heimatland zu sein«, sagte Muhammed. »Endlich können wir wieder frei atmen. In China wird man ständig überwacht. Jetzt sind wir frei!«
Die Straße schlängelte sich steil den Khunjerab-Pass hinab, entlang eines reißenden Flusses, flankiert von gezackten braunen Bergen, die so hoch waren, dass ich durch das Fenster des Kleinbusses ihre Gipfel nicht sehen konnte. Khunjerab bedeutet »Tal des Blutes« auf Wakhi, der persischen Sprache, die vom Volk der Wakhi hier im Oberen Hunza, in Taschkurgan sowie auf der tadschikischen und afghanischen Seite der Grenze gesprochen wird. In den Bergen folgen die politischen Grenzen selten den linguistischen. Angeblich ist der Name des Tals auf die blutigen Überfälle auf Handelskarawanen zurückzuführen, die hier zur Blütezeit der Seidenstraße stattfanden.
Der Name des Tals hat allerdings auch in der modernen Zeit seine bittere Berechtigung behalten: Während an der Straße, auf der wir fuhren, gebaut wurde, sollen über tausend Arbeiter bei Erdrutschen und anderen Unglücksfällen ums Leben gekommen sein. Die Straßenarbeiten dauerten bis in die 1960er Jahre. Zuvor hatten Pakistan und China sich über den Grenzverlauf geeinigt, mit dem Ergebnis, dass China Pakistan ein Weidegebiet überließ und dafür ein Gebiet von rund fünftausend Quadratkilometern im Nordosten erhielt. Das Gebiet, das an China abgetreten wurde, ist ein Teil der umstrittenen Kaschmir-Region. Indien hat weder die Vereinbarung noch die Grenze anerkannt, und auch die Grenze zwischen Indien und China ist nicht ratifiziert: In den Ecken des Himalaya lösen sich die Grenzen auf und werden zu gestrichelten Linien, umstritten und diskutiert, bewacht von schwer bewaffneten Soldaten und Atomgefechtsköpfen. Es gibt zahlreiche Konflikte, und das Potenzial für weitere ist sogar noch größer, aber zwischen den Ländern Pakistan und China, die Indien als gemeinsamen Feind ansehen, herrscht Friede und Eintracht. Dass die beiden Länder sich in einer frühen Phase der Existenz Pakistans über den Grenzverlauf geeinigt haben, schuf eine gute Basis für die bilaterale Freundschaft, und diese Freundschaft wird regelmäßig mit großzügigen chinesischen Krediten geschmiert.
»Pakistan hat Gebiete an China abgetreten, weil die Regierung Angst vor einem Angriff der Sowjetunion hatte«, meinte Abdul. »Beim Krieg in Afghanistan ging es eigentlich um die pakistanischen Häfen im Süden.«
»Ach so?«, sagte ich.
»Das wissen doch alle«, erwiderte Abdul und zuckte die Achseln.
Die Straße führte immer weiter hinunter, der Druck auf die Schläfen ließ nach und verschwand schließlich ganz. Die Berghänge schienen unfruchtbar und öde, und doch lebten dort meinem Reiseführer nach bedrohte Tierarten wie das Marco-Polo-Schaf, der Moschushirsch und der Schneeleopard. Ich war es so gewohnt, im Kleinbus zu sitzen und immer weiter zu fahren, dass ich überrascht war, als Muhammed verkündete, wir hätten die pakistanische Grenzstation in Sost (2800 Meter über N.N.) erreicht.
»Versprechen Sie mir, mich und meine Familie in Swat zu besuchen!«, rief er, bevor er aus dem kleinen, heruntergekommenen Grenzgebäude verschwand.
Während ich in der kurzen, aber chaotischen Schlange zur Passkontrolle wartete, kam ein drahtiger Mann auf mich zugelaufen. Er trug von Kopf bis Fuß Jeans-Kleidung, das Haar war braunblond und die Haut sonnengebräunt – er sah eher aus wie der Held eines Spaghettiwesterns als ein typischer Pakistaner.
»Ich bin Akhtar, Ihr Guide«, verkündete er. »Ich habe bereits fünf Stunden auf Sie gewartet. Man weiß nämlich nie, wann der Bus aus China kommt.«
Draußen standen in einer langen Reihe große, bunte Lastwagen, dekoriert mit Drachen, Filmstars und Koranzitaten. Sie warteten auf Ladung aus China, die sie ans Meer transportieren sollten. Wir mussten glücklicherweise nicht so weit fahren und hatten nach einer guten halben Stunde Passu (2450 Meter über N.N.) erreicht, Akhtars Dorf.
»Die Guides, mit denen ich in den neunziger Jahren zusammengearbeitet habe, sind alle mit ausländischen Frauen verheiratet«, erzählte er. »Einer lebt in Australien, ein anderer in Kanada, ein dritter in Frankreich.«
»Gab es keine, die Sie heiraten wollte?«, fragte ich.
»Doch, schon, aber ich war bereits verheiratet«, grinste er. »Außerdem kann ich mir nicht vorstellen, woanders zu leben als in Passu. Das ist mein Paradies.«
Im Winter leben rund vierhundert Menschen in Passu, im Sommerhalbjahr mehr als doppelt so viele. Das Dorf verteilt sich weit über eine Ebene an einem Fluss, die dank eines komplizierten Bewässerungssystems bemerkenswert fruchtbar ist. In den kleinen Gärten wurden Kartoffeln und anderes Gemüse angebaut. Apfel- und Pflaumenbäume standen in voller Blüte, und auf den flachen Steindächern waren Aprikosen zum Trocknen ausgebreitet.
Akhtar kannte tatsächlich jeden in dem kleinen Dorf und grüßte ausgiebig alle, denen wir begegneten. Die meisten Frauen trugen keine Kopfbedeckung, doch im Gegensatz zu den Frauen in Kaschgar ließen sie ihr Haar freiwillig unbedeckt. Viele waren hellhäutig, einzelne hatten sogar blaue Augen, und die meisten hatten braunblondes, sonnengebleichtes Haar wie Akhtar. Sie glichen den Menschen, denen ich einige Jahre zuvor im Pamir begegnet war – nicht überraschend, denn wir waren nicht sehr weit von der tadschikischen Grenze entfernt. Die Wakhi in Hunza sind nahe Verwandte der Menschen, die im Pamir in Tadschikistan, in Taschkurgan in China und im Wakhan-Korridor in Afghanistan leben. Früher konnten sie sich ungehindert besuchen und wie ein Volk leben, doch nun sind sie durch rote Striche auf der Landkarte und strenge Visaregeln getrennt.
Ungastliche, sechs-, siebentausend Meter hohe Berge umgaben das Dorf wie eine unwirkliche Filmkulisse. Geologisch gesehen wäre es möglich gewesen zu behaupten, dass ich bereits im Himalaya war, aber semantisch und linguistisch befand ich mich im Karakorum, dem Gebirgsmassiv, das sich vom Grenzgebiet zwischen Indien, Pakistan und China bis nach Afghanistan und Tadschikistan erstreckt, rund fünfhundert Kilometer insgesamt. Karakorum bedeutet »schwarzer Schotter« auf Türkisch, aber der Name wird dem Gebirge offen gesagt nicht gerecht: Keine Bergkette der Welt kann mit einer größeren Ansammlung von Gipfeln über siebentausend Meter Höhe aufwarten.
»Berge unter siebentausend Metern haben bei uns normalerweise keinen Namen«, informierte mich Akhtar mit einem Schulterzucken. »Es gibt zu viele davon.«
Die Berge im Karakorum sind bekannt für ihre steilen Abhänge und ihre Unwegsamkeit. Die Besteigung des K2, des zweithöchsten Berges der Welt, ist zum Beispiel weitaus herausfordernder als der Aufstieg zum Mount Everest. Lange war das Hunzatal eine der unzugänglichsten Gegenden im Karakorum, und es gab viele Mythen über den Ort und seine Bewohner. Die Pfade, die dorthin führten, waren legendär.
»Schon bald konnten wir das weiße Glitzern des Hunzaflusses in der schwarzen Schlucht unter uns sehen«, schrieb der junge Wilfred Skrede über die Tour durch das Hunzatal 1941. »Bis dorthin waren es tausend Fuß, und der Berghang fiel nahezu senkrecht ab. Auf beiden Seiten des Tals gingen die Gipfel mehrere tausend Fuß in die Höhe. Shrukker und der Bursche mussten ziehen und zerren, um die Pferde vorwärts zu treiben. An Reiten war nicht zu denken. An den steilen Abhängen gab es viele lockere und gefährliche Steine. Berstend vor Stolz erzählte Shrukker von all den tödlichen Unfällen, die es hier gegeben hatte.«
Die riskanten Pfade waren jahrhundertelang die wichtigsten Verteidigungsanlagen des kleinen Fürstentums. Hunza liegt eingeklemmt zwischen Tibet im Norden, Kaschmir im Osten und Afghanistan im Westen, aber da es so schwierig war, dorthin zu gelangen, konnte der örtliche Emir im Großen und Ganzen in Frieden herrschen. Die wenigen Reisenden aus dem Westen, denen es gelang, unversehrt nach Hunza zu kommen, bevor in den 1970er-Jahren eine Straße gebaut wurde, haben – vermutlich unter dem Einfluss eines Adrenalin- und Endorphinrauschs nach den vorangegangenen Strapazen – Hunza als einen Garten Eden beschrieben, als ein irdisches Paradies, ein Shangri-La, ein geheimes Bergreich, bevölkert von den Nachkommen Alexanders des Großen; als einen Ort, an dem die Menschen so gesund, demokratisch und harmonisch leben, dass sie außerordentlich alt werden, angeblich bis zu einhundertfünfzig Jahren.
»Der Älteste im Dorf wurde hundertzwölf Jahre alt«, sagte Akhtar. »Er starb letztes Jahr. Meine Großmutter ist fast hundert und noch immer gesund und rüstig. Die Leute werden alt hier, aber unsere Generation wird kaum so alt werden«, fügte er resignierend hinzu und zündete sich eine Zigarette an. »Wir leben nicht mehr so gesund. Ich habe es geschafft, ein halbes Jahr mit dem Rauchen aufzuhören, habe aber so zugenommen, dass ich wieder angefangen habe.«
In dem einfachen Hotel, in dem ich untergebracht war, gab es weder Strom noch Internet. Eine muntere Großfamilie aus Lahore sorgte dafür, dass es dennoch lebhaft zuging.
»Was führt eine Ausländerin in diese Ecke?«, erkundigte sich die Matriarchin der Familie. »Und was ist Ihr Eindruck von den Pakistanern? Seien Sie ehrlich! Wie finden Sie Pakistan? Seien Sie bitte ganz ehrlich!«
Die ganze Großfamilie sah mich erwartungsvoll an.
»Ich bin gerade erst angekommen, es ist ein bisschen früh, um schon etwas sagen zu können«, erklärte ich. Sie schienen so enttäuscht über meine Antwort zu sein, dass ich rasch hinzufügte, hier sei es sehr, sehr schön und Pakistan ein sehr, sehr interessantes Land.
Ich ging trotz hitziger Diskussionen zwischen den Familienmitgliedern im Zimmer neben mir früh zu Bett und wachte entsprechend früh auf – geweckt von hitzigen Diskussionen einer Herde kleinwüchsiger Bergkühe im Garten direkt unter meinem Fenster.
Während des Frühstücks warf Akhtar den Touristen aus Lahore einen Seitenblick zu.
»Ich verstehe nicht, wieso die Pakistaner hierherkommen«, sagte er verbissen. Streng genommen war er auch Pakistaner, aber er sprach von sich konsequent als einem Wakhi aus Hunza. Für Akhtar war »Pakistaner« eine herabsetzende Bezeichnung für die Menschen der bevölkerungsreichen Punjab-Provinz im Süden.
»Diese Stadtmenschen sitzen bloß den ganzen Tag in ihren Autos«, beklagte er sich. »Passu muss man zu Fuß erleben.«
Um nicht mit den Großstädtern in einen Topf geworfen zu werden, schlug ich vor, nach dem Frühstück zum Passu-Gletscher zu gehen. Der Weg war steinig und zum Teil zugewuchert, aber Akhtar, der Sohn eines Bergsteigers, hüpfte so leichtfüßig ins Tal, dass es aussah, als hätte er Federn in den Schuhen. Das letzte Stück kletterten wir über lockeres Geröll; ich blickte so wenig wie möglich nach unten.
»Ist es noch weit?«, fragte ich außer Atem.
»Nein, wir sind da«, erwiderte Akhtar.
»Aber wo ist der Gletscher?«, fragte ich verwirrt.
»Direkt vor Ihrer Nase«, sagte Akhtar und zeigte auf einen gewaltigen schwarzen Schotterhaufen knapp hundert Meter unter uns. Ich hatte nach Eis und Schnee Ausschau gehalten, aber der Passu-Gletscher war ganz schwarz und mit kleinen Steinen und Sand bedeckt. Der Karakorum machte seinem Namen alle Ehre.
»Dort«, sagte Akhtar und zeigte auf einen See. »Dort lag der Eisgletscher, als ich ein Kind war. Damals gab es noch keinen See hier. Und vor zehn Jahren lag er dort«, fügte er hinzu und zeigte auf einen Punkt ungefähr in der Mitte des Berghangs. »Vor drei Jahren nahmen wir Touristen mit zu der Stelle, wo wir jetzt stehen. Von hier aus konnten wir auf den Gletscher gehen.«
Kräftige Schmelzwasserströme flossen aus dem Gletscher in den neu entstandenen See. Der Passu-Gletscher wird jeden Monat vier Meter kürzer, und der Schmelzprozess beschleunigt sich. »Der dritte Pol der Welt« werden die Eisgletscher im Karakorum, Himalaya und Hindukusch gern genannt. Insgesamt gibt es über vierundfünfzigtausend Gletscher in der Bergregion, und nirgendwo liegen die Eismassive dichter beieinander als im Karakorum: Mit Ausnahme der Polarregionen ist der Karakorum die Gegend auf der Erde mit der größten Gletscherdichte. Allein in Pakistan gibt es siebentausend Gletscher, und rund drei Viertel der Wasserreserven des Landes lagern im Eis. Der Himalaya, der Ort des Schnees, ist vor allem ein Ort des Eises.
Oder war. Denn nun schmelzen die meisten Gletscher in Rekordgeschwindigkeit. Im Schnitt schmelzen acht Milliarden Tonnen Eis jedes Jahr, und dabei sind nur die Tonnen eingerechnet, die nicht von neuem Schnee ersetzt werden. Der Prozess ist selbstverstärkend und vollzieht sich daher mit jedem Jahr schneller. Mit großer Wahrscheinlichkeit werden zwei Drittel der Eisgletscher bis zum Ende dieses Jahrhunderts geschmolzen sein. Diese Gletscher versorgen Asiens wichtigste und größte Flüsse mit Wasser, unter anderen den Indus, den Ganges und den Mekong. Die Folgen dieses Schmelzprozesses werden katastrophal sein. Zunächst werden die Bewohner der Bergregionen, insgesamt rund eine Viertelmilliarde Menschen, vom Wassermangel betroffen sein, aber absolut alle, die vom Wasser der eben genannten Flüsse abhängig sind, werden die Konsequenzen spüren – insgesamt anderthalb Milliarden Menschen. Die drastischen Veränderungen im Ökosystem werden nicht nur zu einem generellen Wassermangel führen, sondern auch das Risiko für Erdrutsche und Überschwemmungen erhöhen. Selbst wenn die Gesamtmenge an Wasser möglicherweise konstant bleibt, wird die Wasserzufuhr weitaus unregelmäßiger erfolgen: Trockenperioden werden durch Hochwasser abgelöst, dem wiederum Dürreperioden folgen.
Kurz gesagt, es wird gefährlicher werden, in den Bergen und an den Ufern der großen Flüssen zu leben.
Der Attabad-See (2559 Meter über N.N.) wird bei Google mit 4,8 von fünf Sternen bewertet und ist eine der populärsten Touristenattraktionen der Region. Mehrere Beiträge rühmen die Schönheit des Sees und beschreiben ihn als »einen der schönsten Seen Pakistans«. Andere loben die vielfältigen Möglichkeiten, Wasserski zu fahren, zu segeln oder zu fischen. Der türkisfarbene, von fotogenen Bergen umgebene See ist tatsächlich unglaublich schön, und natürlich bieten eifrige Geschäftsleute Bootsfahrten an oder verleihen Wasserscooter; am Ufer wird ein Restaurant mit Aussicht auf den See gebaut.
Aber unter der bildschönen Wasseroberfläche verbergen sich Straßen, Schulen, Moscheen, Geschäfte und Restaurants, ja, ganze Dörfer. Denn der Attabad-See ist nagelneu.
Am 4. Januar 2010 wurde das Dorf Attabad von einem gewaltigen Bergsturz erfasst. Das gesamte Dorf wurde von den Geröllmassen zerstört, rund zwanzig Menschen verloren ihr Leben. Der Erdrutsch war so heftig, dass der Fluss Hunza aufgestaut wurde und ein Binnensee entstand. Bis zum Juni, als die Behörden ernsthaft mit den Drainagearbeiten begannen, war der See zweiundzwanzig Kilometer lang und an seiner tiefsten Stelle hundert Meter tief. Über vierhundert Häuser waren in den Wassermassen verschwunden, sechstausend Menschen mussten evakuiert werden. Alle Dörfer nördlich des natürlichen Staudamms waren jahrelang ohne Straßenanbindung; Brücken und Straßen lagen unter Wasser, fast der gesamte Handel mit China war unterbrochen.
»Auch viele Häuser in Passu standen unter Wasser«, erzählte Akhtar. »Fünf Jahre mussten wir drei Stunden mit dem Schiff fahren, um zu einer Straße zu kommen.«
Akhtar kannte viele Geschichten von Dörfern, die durch Erdrutsche verschwunden waren oder überschwemmt wurden. Passu hatte ursprünglich jenseits des Flusses gelegen, aber 1964 wurde das gesamte Dorf unter einem Erdrutsch begraben. Niemand kam ums Leben, aber die Einwohner hatten auf die gegenüberliegende Seite des Flusses ziehen müssen.
Der Bergsturz in Attabad war eine Katastrophe mit Ansage. Im August 2009 hatte das Geological Survey of Pakistan geologische Untersuchungen in der Gegend vorgenommen; die Wissenschaftler stellten fest, dass Attabad in einer Hochrisikozone lag. Mehrere kurz zuvor erfolgte Erdrutsche hatten die Landmasse instabil werden lassen, und es war nur eine Frage der Zeit, wann es zu einem Bergsturz kommen würde. Die Geologen empfahlen den örtlichen Behörden, die Einwohner der am meisten betroffenen Gebiete zu evakuieren, aber unternommen wurde nichts, und einige Monate später kam es zu dem angekündigten Unglück.
Da die ursprüngliche Straße unter Wasser lag, führte die neue Straße nach Karimabad (2500 Meter über N.N.), unserem nächsten Halt, durch vier nagelneue, von den Chinesen gebaute Tunnel, sogenannte pakistanisch-chinesische Freundschaftstunnel. Ursprünglich hieß die Stadt Baltit, doch nachdem 1976 alle Fürstentümer in Pakistan von Ministerpräsident Ali Bhutto aufgelöst worden waren, änderte man ihren Namen in Karimabad zu Ehren seiner Hoheit Karim Aga Khan, dem religiösen Führer der Ismailiten. Die Mehrheit der Menschen in Hunza sind Ismailiten; die Glaubensgemeinschaft ist ein Zweig des Schia-Islams, bei dem auf Ausbildung und Wissenschaft großer Wert gelegt wird. Die Ismailiten beten nur drei Mal am Tag, viele fasten während des Ramadan nicht, und nur wenige Frauen bedecken ihr Haar.
»Aga Khan sagt, wenn du zwei Kinder hast, einen Sohn und eine Tochter, und dir nur einen Schulbesuch leisten kannst, dann musst du das Mädchen bevorzugen«, erklärte Akhtar.
In Pakistan sind über vierzig Prozent der erwachsenen Bevölkerung Analphabeten, doch in Hunza liegt die Zahl bei unter zwanzig Prozent. Die jungen Menschen können fast alle lesen und schreiben, auch die Mädchen, und tatsächlich lag neben dem Hotel, in dem ich wohnte, ein Mädchengymnasium. Die Schule, die von der Aga-Khan-Stiftung finanziert wurde, sah ordentlich und gepflegt aus, mit Grünanlagen, modernen Gebäuden, Tischtennisplatte und einem Badminton-Platz. Auf der Treppe, die zum Internatsgebäude führte, saßen drei Mädchen und machten gemeinsam Hausaufgaben. Sie gingen in die zwölfte Klasse und würden in anderthalb Jahren die Schule beenden.
»Was wollt ihr machen, wenn ihr fertig seid?«, wollte ich wissen.
»Ich möchte Ingenieurin werden«, sagte eine.
»Ich möchte Wirtschaft und Business studieren«, antwortete die zweite.
»Und ich möchte ein Medizinstudium in Lahore beginnen«, erklärte die dritte.
Auf der anderen Seite der Stadt lag Pakistans einzige Schreinerwerkstatt, die von Frauen betrieben wird. Die Chefin Bibi Amina, eine souveräne Dame mit kurzen braunen Haaren und einem scharfen Blick, führte mich herum. Sie war dreiunddreißig Jahre alt und arbeitete seit zehn Jahren in dem Unternehmen, das mit Hilfe von ausländischen Botschaften und Nichtregierungsorganisationen aufgebaut worden war und nun seit Langem profitabel arbeitete.
»Warum wollten Sie Schreinerin werden«, fragte ich sie.
»Um mich aus der Armut zu befreien«, antwortete sie ganz direkt. »Und um etwas Ungewöhnliches zu machen.«
Sie führte mich durch eine geräumige Werkstatt mit großen Maschinen, Hobelbänken, dicken Planken und Winkelschleifern.
»Ist es schwierig?«, erkundigte ich mich.
»Nein, nicht für mich«, antwortete Bibi, »ich kann schreinern, was ich will, Möbel, Türen, ganze Häuser, ich kann alles.«
»Haben Sie Familie?«
»Ich bin verheiratet und habe einen dreijährigen Sohn. Mein Mann arbeitet als Koch in Abu Dhabi, er ist nur im Urlaub zu Hause.«
»Es ist sicher nicht einfach, wenn der Mann so weit weg ist«, sagte ich mitfühlend, »vermissen Sie ihn sehr?«
»Aber nein, das ist gut so«, versicherte Bibi. »Wenn er zu Hause ist, gibt es nur Probleme!«
»Gab es negative Reaktionen, als sie einen so untraditionellen Frauenberuf gewählt haben?«, fragte ich weiter. Obwohl Hunza eine der liberalsten Regionen von Pakistan ist, war mir dennoch aufgefallen, dass sämtliche Arbeiten in den Hotels, den Restaurants und in den Geschäften ausnahmslos von Männern erledigt wurden.
»Anfangs gab es schon ein paar Schwierigkeiten. Viele Männer haben uns gesagt, das ist Männerarbeit, Frauen sollen so etwas nicht tun, es widerspreche unserer Religion und unserer Kultur. Aber jetzt haben wir Erfolg, jetzt läuft es gut.«
»Möchten Sie, dass Ihr Sohn auch Schreiner wird?«, fragte ich zum Abschluss.
»Oh nein, mit ihm habe ich größere Pläne! Er soll Architekt werden. Das ist ein guter Beruf. Es ist besser, ein Haus zu entwerfen, als es zu bauen.«
Über die Häuser und Hotels von Karimabad ragte das alte Sommerschloss des Emirs. Nun ja, »ragte« ist vielleicht zu viel gesagt. Für ein Schloss war es weder besonders groß noch sonderlich beeindruckend, es war mit einfachen Materialien wie Stein und Holz erbaut. Die dicken, soliden Wände waren mit Lehm bedeckt, und in den kleinen, primitiv ausgeschmückten Zimmern gab es entlang der Wände Sitzplätze auf dem Boden. Bevor die Fürstentümer aufgelöst wurden, hatte Nord-Pakistan sieben Alleinherrscher, der Emir von Hunza war einer von ihnen. Der älteste Teil der Burg war über siebenhundert Jahre alt, während die jüngsten Modernisierungen, darunter die bunten Glasfenster und ein Telefon mit Wählscheibe, aus der britischen Periode stammten. Ein verstaubtes russisches Gewehr hing an der Wand, ein übrig gebliebenes Requisit aus dem großpolitischen Drama, das die Region Ende des 19. Jahrhunderts geprägt hatte, als das britische und das russische Imperium um den Einfluss in Zentralasien wetteiferten. Der Machtkampf ist als The Great Game, das große Spiel, in die Geschichte eingegangen, ein Ausdruck, der in Rudyard Kiplings berühmten Roman Kim verewigt wurde.
Hunza wurde erst zu einem wichtigen Puzzleteil in der Schlussphase dieses Großmachtspiels, nachdem Russland den größten Teil Zentralasiens erobert hatte, unter anderem das heutige Usbekistan und Turkmenistan. Im Sommer 1889 gab es Gerüchte, der russische Hauptmann Bronislaw Grombtschewski habe den Emir von Hunza besucht und sei freundlich empfangen worden, und weitere Besuche seien geplant. Die Briten sahen Hunza als Teil ihrer Interessenssphäre – was die Russen allerdings auch in der Vergangenheit nicht im Geringsten interessiert hatte – und griffen ein. Wenn die Russen Hunza unterwarfen, war es nur noch ein kurzer Weg bis Indien, dem britischen Kronjuwel; die Briten hatten dort seit Langem einen russischen Angriff befürchtet. Im August 1889 wurde der britische Agent Francis Younghusband nach Hunza geschickt, um ein ernstes Wort mit dem Emir zu reden. Der Emir war möglicherweise nicht nur dabei, sich mit dem Feind zu verbünden, er hatte in den vorherigen Jahren auch die systematische Plünderung von Handelskarawanen zu verantworten, die auf dem Weg von Leh in Nord-Indien nach Yarkant in China waren.
Younghusband war erst sechsundzwanzig Jahre alt, aber bereits ein gewiefter Entdeckungsreisender. Einige Jahre zuvor war er auf eigene Faust von Peking nach Kaschmir gereist, auf dem Weg hatte er die Mandschurei und die Wüste Gobi durchquert sowie den eigentlich unwegsamen Muztagh-Pass im Karakorum-Gebirge überwunden. Seither war er nur noch zwei Mal überquert worden. Aufgrund seiner Leistung war Younghusband als Vierundzwanzigjähriger in die Royal Geographic Society aufgenommen worden – als jüngstes Mitglied aller Zeiten. Als er nach Hunza aufbrach, hatte man ihn zum Hauptmann befördert. Younghusband war ein Entdecker der alten britischen Schule, furchtlos und engagiert. Er hielt unter allen Umständen an der britischen Etikette und an seinem täglichen kalten Bad fest, auch wenn seine Diener dafür erst einmal ein Loch ins Eis hacken mussten.
Einige Tage, nachdem Younghusband und sein Gefolge in Hunza eingetroffen waren, tauchte ein Bote mit einer unerwarteten Einladung auf. Hauptmann Grombtschewski lud den Rivalen zum Abendessen ein! Bereits am darauffolgenden Tag trafen sich die beiden Gentlemen zu Suppe, Gemüse in Mehlschwitze und reichlich Wodka im russischen Lager im Karakorum. Das Treffen war historisch: Es war das erste Mal, dass zwei Spieler sich im Auftrag ihres jeweiligen Imperiums auf dem Spielfeld trafen. Der Ton war überraschend offenherzig, und Grombtschewski bestätigte bereitwillig den nagenden Verdacht der Briten: Nichts wünschten die Russen lieber, als Indien einzunehmen, Grombtschewski prahlte beinahe damit. Younghusband bemerkte, dass Pamir, eines der wenigen Gebiete Zentralasiens, die noch nicht von den Russen okkupiert waren, auf Grombtschewskis Landkarte rot markiert war.
Nachdem sie zwei Tage zusammen getrunken und wilde Abenteuergeschichten ausgetauscht hatten, gingen die beiden Konkurrenten auseinander.
»Wir und die Russen sind Rivalen, aber ich bin sicher, dass der einzelne russische und englische Offizier sich gegenseitig mehr wertschätzen als Individuen von Nationen, zwischen denen keine Rivalität besteht«, schrieb Younghusband in dem Expeditionsbuch The Heart of a Continent, das sich ausgezeichnet verkaufte, und fügte hinzu: »Wir spielen beide mit hohem Einsatz, und es gäbe überhaupt keinen Unterschied, wenn wir versuchten, diese Tatsache zu verbergen.«
Geschickt unterlässt es Younghusband allerdings zu erwähnen, dass er direkt nach dem gemütlichen Beisammensein Grombtschewski und sein Gefolge beinahe in den Tod geschickt hätte. Die Russen wollten weiter nach Ladakh, das unter britischer Kontrolle stand. Younghusband überredete die einheimischen Kirgisen, den Russen eine lebensgefährliche und vollkommen unmögliche Route vorzuschlagen, die über hohe Plateaus und Berge ohne Weidemöglichkeiten ins Nichts führte. Die Pferde gingen ein, und sämtliche Kosaken des Gefolges erlitten Erfrierungen; nur unter großen Schwierigkeiten gelang es ihnen, sich in Sicherheit zu bringen. Ein Jahr später konnte Grombtschewski noch immer nur mit Krücken laufen. Er hat nie erfahren, dass sein Gast ihn in die Irre geführt hatte. Mehrere Jahrzehnte später schickte er vom Totenbett aus seinem alten Rivalen einen Brief und ein Buch, das er über seine Abenteuer in Zentralasien geschrieben hatte. Younghusband hatte zu diesem Zeitpunkt als Präsident der Royal Geographic Society den Höhepunkt seiner Karriere erreicht und war mit zahlreichen Orden und Medaillen ausgezeichnet worden. Auch Grombtschewski hatte man befördert, er bekleidete den Rang eines Generalleutnants, doch während der Revolution von 1917 wurde er enteignet und nach Sibirien verbannt. Unglaublicherweise gelang es ihm, über Japan seinen Geburtsort in Polen zu erreichen, das inzwischen zur unabhängigen Republik geworden war. Er starb 1926 im Alter von einundsiebzig Jahren.
Younghusbands Treffen mit Safdar Ali, dem Emir von Hunza, waren bei Weitem nicht so gemütlich wie die Abendessen mit Grombtschewski. Younghusband war verblüfft über die helle Haut und die beinahe rötlichen Haare des Emirs, doch damit hörte die Bewunderung auch schon auf. Je häufiger sie sich trafen, desto mehr irritierte den Briten an seinem Gesprächspartner der vollständige Mangel an Manieren. Safdar Ali gab sofort zu, für die Überfälle auf die Handelskarawanen verantwortlich zu sein, allerdings war er nur bereit, die Plünderungen zu unterlassen, wenn die Briten ihn finanziell entschädigten – schließlich waren die Raubzüge seine Haupteinnahmequelle. Nach und nach wurde Younghusband klar, dass diese direkten Forderungen weder etwas mit Mut noch mit Charakterstärke zu tun hatten, sondern ganz einfach mit der vollständigen Unkenntnis seiner Umwelt. »Er meinte, die Kaiserin von Indien, der Zar von Russland und der Kaiser von China wären lediglich die Oberhäupter von Stämmen hier aus der Nähe. (…) Seiner Ansicht nach sind er und Alexander der Große Ebenbürtige. Als ich ihn fragte, ob er jemals in Indien gewesen sei, antwortete er, Großkönige wie er und Alexander würden niemals ihr eigenes Land verlassen!«
Der Emir benahm sich so ungehobelt, dass Younghusband sich schließlich weigerte, ihn weiterhin zu treffen. Das hinderte den Emir allerdings nicht daran, dem Entsandten der britischen Königin fortwährend Boten zu schicken, um weitere Geschenke wie Futterbeutel und Seife zu erbitten, ja, sogar das Zelt, in dem Younghusband wohnte, wollte er haben. Die Tatsache, dass Safdar Ali zwei Jahre zuvor seinen eigenen Vater ermordet und zwei seiner Brüder von einem Felsen gestoßen hatte, um an die Macht zu gelangen, stimmte Younghusband kaum milder.
Kurz vor Weihnachten verließ Younghusband Hunza in miserabler Laune, ohne irgendein konkretes Versprechen des Emirs erhalten zu haben.
Zwei Jahre später, 1891, besetzten die Russen Pamir. Younghusband, der in diesem Sommer eine Aufklärungsexpedition in diesem Gebiet unternahm, wurde eines Morgens geweckt, als über zwanzig Kosaken und russische Offiziere auf sein Zelt zuritten. Drei Tage zuvor hatte er mit ihnen zu Abend gegessen und auf Königin Victoria und Zar Alexander angestoßen, doch nun herrschte ein anderer Ton. Die Russen erklärten, er befinde sich auf russischem Territorium und baten ihn freundlich, die Region zu verlassen. Es machte die Sache nicht besser, dass Safdar Ali auch weiterhin die Handelskarawanen aus Indien überfallen ließ. Die Briten entschlossen sich, die »Tür« nach Indien ein für alle Mal zu verriegeln. Mit einer Armee von annähernd tausend Mann übernahmen sie das Nachbarfürstentum Nagar und zogen weiter nach Hunza. Als Safdar Ali begriff, dass die Russen ihm nicht zu Hilfe eilen würden, wie er es lange gehofft hatte, floh er mit Frauen, Kindern und allen geraubten Schätzen nach Kaschgar.
Die Briten setzten seinen Halbbruder Muhammed Nazin Khan auf den Thron und behielten die Oberherrschaft über Hunza, bis ihnen Indien 1947 aus den Händen glitt.
»Der Guide im Sommerschloss hat behauptet, politische Gefangene seien nicht länger als eine Woche eingesperrt gewesen, aber das stimmt nicht«, sagte Akhtar, als wir hinunter ins Zentrum von Karimabad schlenderten. »Noch 1947, ein Jahr, bevor alle Königreiche in Pakistan abgeschafft wurden, saß ein Mann aus Passu sechs Monate im Kerker des Emirs. Haben Sie übrigens bemerkt, wie groß die Kornspeicher waren?«
Ich nickte.
»Wir im Oberen Hunza mussten an den Emir hohe Steuern bezahlen«, fuhr Akhtar fort. »Wenn wir mit einer kleinen Ziege kamen, hieß es, wir sollten mit einer größeren kommen. Er war nie zufrieden. Die Steuern gingen nicht nur an den Emir, sondern auch an seine Leibwächter und andere Leute hier im Süden. Niemand durfte ohne Erlaubnis das Territorium des Emirs verlassen, vor allem wir aus dem Norden nicht.«
Wir betraten das nächste Café, um einen Kaffee zu trinken. Akhtar war ein guter Freund des Betreibers, Didar Ali, eines gutmütigen Mannes um die sechzig.
»Mein Gott, eine italienische Kaffeemaschine!«, rief ich und zeigte auf die beeindruckende Maschine, die den halben Tresen einnahm.
»Ja, aber wir haben nicht genügend Strom, um sie zu betreiben«, lachte Didar Ali. »Wir haben hier ein Wasserkraftwerk, das die Norweger in den 1990er Jahren gebaut haben.«
»Funktioniert es noch?«, erkundigte ich mich.
»Ja, klar«, versicherte Didar und schüttelte sich vor Lachen: »Zumindest zehn Prozent davon.«
»Wie war der letzte Emir?«, wollte ich wissen, als ich meinen Cappuccino bekommen hatte – aus der Mokkakanne und mit handgeschäumter Milch.
»Als ich jung war, lief ich herum und schrie Parolen gegen den Emir«, erzählte Didar. »›Wir wollen Freiheit!‹, rief ich. Aber die Älteren wollten das System so behalten, wie es war, weil sie meinten, eine richtige Demokratie könne es sowieso nicht geben. Das große Spiel hat übrigens nie aufgehört. Es wird noch immer gespielt, nur die Spieler haben gewechselt. Statt der Briten haben wir heutzutage die Amerikaner, und die Chinesen haben den Platz der Russen eingenommen.«
»In Passu überlegen wir, das ganze Dorf von der Straße weg zu verlegen«, warf Akhtar ein. »Der Verkehr und all die Pakistaner sind lästig, und es wird immer schlimmer.«
»Persönlich begrüße ich Chinas Investitionen in der Region«, sagte Didar. »Als ich in den neunziger Jahren in Kaschgar war, gab es dort mehr Kamele als Autos. Jetzt ist die Stadt nicht wiederzuerkennen. Es ist unglaublich, was die Chinesen geschafft haben! Nach dem 11. September kamen keine Ausländer mehr hierher, viele Hotels gingen bankrott. Dank der Straße, die die Chinesen gebaut haben, kommen jetzt zumindest pakistanische Touristen.«
»Viel zu viele, wenn du mich fragst«, erwiderte Akhtar düster. »Eine Zeit lang habe ich in Passu ein Hotel betrieben, wir hatten beinahe ausschließlich pakistanische Gäste. Sie beschwerten sich immer über das Essen, immer war irgendetwas nicht in Ordnung. Wir gaben ihnen schließlich keine Handtücher mehr, weil sie die mitnahmen oder sich damit die Schuhe putzten. Es kam vor, dass sie dafür auch die Bettlaken benutzten. Ich verstehe nicht, warum sie hierherkommen, sie sitzen bloß in ihren Autos und beklagen sich, dass überall Berge sind.«
»Ich bewundere die EU!«, fuhr Didar unverdrossen fort. »Stell dir mal vor, was wir hier in der Region auf die Beine stellen könnten, wenn wir zusammenarbeiten würden! Pakistan, Indien, Iran, Afghanistan – was für ein Potenzial!«
»Ihr müsst euch wahrscheinlich erst einmal auf einen einheitlichen Grenzverlauf einigen?«, bemerkte ich.
»Seit Indien der Ansicht ist, dass Hunza und Gilgit-Baltistan, also so gut wie ganz Nord-Pakistan, zum Kaschmir gehören, sind wir nicht einmal ein ordentlicher Teil von Pakistan, wir unterliegen nur der pakistanischen Administration«, klagte Didar. »Wir können uns nur an Kommunalwahlen beteiligen, nicht an den nationalen Wahlen.«
»Andererseits brauchen wir auch keine Steuern zu zahlen«, sagte Akhtar.
»Es bezahlt doch sowieso kaum jemand Steuern«, seufzte Didar.
Am Abend, dem letzten in Hunza, fuhren wir hinauf nach Duikar, einem berühmten Aussichtspunkt mit einem Panoramablick über Karimabad. Die Wolkendecke, die seit unserer Ankunft wie eine Gardine vor den Bergen gehangen hatte, war gerade aufgerissen. Hinter uns gab es freie Sicht auf den Hunza Peak und Ladyfinger, und direkt vor uns sahen wir den Golden Peak und den Rakaposhi, der mit seinen 7788 Metern der höchste Berg in Hunza ist. Die Aussicht war so unübertroffen, so sublim, so grandios, dass das Synonymwörterbuch nicht reicht, um sie zu beschreiben. Da die Sonne unterging, änderten sich ständig das Licht und die Farben; in einem Augenblick war der Himmel lachsrosa, im nächsten glich er geschmolzenem Gold. Auch die Japanerin neben mir schien sich nicht sattsehen zu können. Sie muss tausend Fotos geschossen haben. Hin und wieder entfuhr der Tiefe ihrer Kehle ein beinahe tierisches »OOOHHH!«.
Zwei Dinge bereue ich bei meiner Reise durch den Himalaya noch immer. Eines ist, nicht länger in Hunza geblieben zu sein.