Die Straße hinauf zu den Märchenwiesen (3300 Meter über N.N.) gilt aus gutem Grund als eine der gefährlichsten der Welt. Die einheimischen Bauern haben sie selbst angelegt, und sie windet sich wie ein zerknüllter Nähfaden den steilen, erdrutschgefährdeten Berghang hinauf. In der Breite gab es gerade mal Platz für einen Jeep, keinerlei weiteren Abstand; jede Kurve war eine Haarnadelkurve, und jedes Mal, wenn uns ein Jeep entgegenkam, musste unser Fahrer zurücksetzen und ganz außen am Straßenrand balancieren – mit einem halben Rad über der Felskante.

Irgendwann musste der Fahrer aussteigen und kaltes Wasser auf den Motor gießen, und meinen Nerven wurde eine kurze Pause gegönnt.

»Was ist das Schwierigste an diesem Job?«, fragte ich den Fahrer. Er hieß Alifdin und sah aus, als wäre er fünfzehn, aber er fuhr bereits seit zehn Jahren fünf, sechs Mal am Tag den Berghang hinauf und wieder hinunter.

»Nichts«, versicherte Alifdin und setzte sich wieder ans Steuer. Ich schloss die Augen.

Die Fahrt dauerte anderthalb Stunden, fühlte sich aber an wie anderthalb Wochen. Als ich aus dem Jeep stieg, war ich durchgeschwitzt, obwohl wir bisher nicht einen einzigen Meter gegangen waren. Die letzten Kilometer bergauf zu den Märchenwiesen mussten indes zu Fuß bewältigt werden – nicht weil es keine Straße bis dorthin gab, sondern um die ortsansässigen Bauern nicht ihres Lebensunterhalts zu berauben, der darin besteht, das Gepäck der Reisenden zu den Märchenwiesen hinaufzutragen. Ein Träger verschwand lächelnd mit meinem Rucksack, und Akhtar regelte unsere Begleitung. Weit entfernt sah ich die schneebedeckten Gipfel des Nanga Parbat, dem westlichsten Anker des Himalaya.

Der erste Europäer, der über den Nanga Parbat berichtete, war der deutsche Botaniker und Entdecker Adolf Schlagintweit. Mitte des 19. Jahrhunderts reiste er durch den Himalaya und den Karakorum, um wissenschaftliche Untersuchungen über die Berge und das Magnetfeld der Erde vorzunehmen. Von den Bewohnern erfuhr er, dass der M-förmige Berg, der eigentlich Teil einer zwanzig Kilometer langen Gebirgskette ist, zwei Namen trägt: Nanga Parbat, was auf Urdu »Der nackte Berg«, und Diamir, was in der Sprache der Einheimischen »Königsberg« bedeutet. Schlagintweit reiste weiter nach Norden durch Hunza und über den Kunjerap-Pass. Er plante, über Turkestan und Russland nach Deutschland zurückzukehren, aber er kam nur bis Kaschgar. Dort ließ ihm der brutale Emir, der ihn verdächtigte, ein chinesischer Spion zu sein, den Kopf abschlagen. Schlagintweit wurde achtundzwanzig Jahre alt.

Seither hat der Nanga Parbat viele weitere deutsche Leben gefordert. Obwohl es nie eine formale Absprache gab, wurden die höchsten Berge im Himalaya und Karakorum im 20. Jahrhundert einigermaßen gerecht unter den verschiedenen europäischen Nationen aufgeteilt. Die Briten beanspruchten den Mount Everest, die Italiener spezialisierten sich auf den K2, die Franzosen konzentrierten sich auf den Annapurna, während die Deutschen auf den Nanga Parbat, den Königsberg, fixiert waren.

Der Gipfel des Nanga Parbat ragt 8125 Meter über dem Meeresspiegel auf, damit ist der Nanga Parbat der neunthöchste Berg der Welt. In den 1930er Jahren, während des Aufstiegs des Nationalsozialismus, führte die Besteigung des Nanga Parbat zu einer regelrechten Besessenheit; es war die ultimative Männlichkeitsprüfung, das eigentliche Symbol der arischen Überlegenheit und Kameradschaft. Die ersten sechs Versuche, den Gipfel zu erreichen, kosteten über dreißig Menschenleben und missglückten alle. Erst 1953, einige Wochen nachdem Edmund Hillary und Tenzing Norgay den Mount Everest bestiegen hatten, stand ein Mensch zum ersten Mal auf dem Gipfel des Nanga Parbet. Aufgrund des schlechten Wetters hatte der Expeditionsleiter den Rückzug angeordnet, doch der einundzwanzigjährige Österreicher Hermann Buhl widersetzte sich der Order und kletterte allein weiter zum Gipfel. Ohne Sauerstoff und in schlechter Expeditionskleidung erreichte er am 3. Juli um neunzehn Uhr abends den Gipfel. Es war zu spät, um wieder abzusteigen, er war gezwungen, in über achttausend Metern Höhe ohne Schlafsack im Stehen zu übernachten. Als er am nächsten Morgen verfroren, erschöpft und dehydriert das Lager erreichte, hatte er das Gesicht eines alten Mannes. Vier Jahre später wurde Buhl in 7300 Metern Höhe von einer Lawine erfasst, als er den Gipfel der Chogolisa im Karakorum beinahe erreicht hatte. Seine Leiche wurde nie gefunden.

Seither ist der Nanga Parbat viele Male bestiegen worden, gilt aber noch immer als einer der gefährlichsten Berge der Welt. Auf drei Bergsteiger, die den Gipfel erreichen, kommt ein toter – nur der Annapurna in Nepal hat von allen Bergen im Himalaya eine höhere Todesrate –, daher trägt der Nanga Parbat auch den Beinamen Killer Mountain. Die örtlichen Behörden versuchten, den morbiden Beinamen zu entschärfen, doch nach den grausamen Ereignissen im Sommer 2013 passte er plötzlich beinahe zu gut.

Am Abend des 22. Juni 2013 stürmten sechzehn bewaffnete Terroristen, nachdem sie zwei Tage zu Fuß unterwegs gewesen waren, das Nanga Parbat Base Camp. Sie brüllten, sie seien Taliban und von al-Qaida, und zwangen Bergsteiger, Guides, Träger und Köche aus ihren Zelten. Zehn ausländische Bergsteiger wurden an diesem Abend regelrecht hingerichtet.

Wir hatten nicht den Ehrgeiz, den Gipfel des Nanga Parbat zu erreichen, unser Ziel war die weit weniger strapaziöse Märchenwiese, Fairy Meadows. Eine Gruppe deutscher Bergsteiger, die sich in den 1950er Jahren von den grünen Ebenen und der unübertroffenen Aussicht auf den Nanga Parbat hatten verzaubern lassen, hat dem Ort seinen Namen gegeben. Da ich Ausländerin war, wurde ich zu der märchenhaften Wiese von einem bewaffneten Leibwächter eskortiert. Die verantwortlichen Behörden wollten kein Risiko eingehen – das Angebot war kostenlos, aber obligatorisch. Mein Leibwächter hieß Bartak, ein großer, hagerer Bursche Ende vierzig mit einem langen braunen Bart, freundlichen Augen und einer gut geölten Kalaschnikow.

Ich war die einzige Ausländerin auf dem Weg, und ausnahmsweise war ich imstande, beinahe alle anderen zu überholen. Ununterbrochen passierte ich verschwitzte, keuchende Jugendliche aus den großen Städten im Süden; ausnahmslos alle spielten in voller Lautstärke Musik auf ihren Mobiltelefonen, um die Stille der Berge zu übertönen. Junge Männer aus dem Dorf gingen herum und boten den dicksten Wanderern Pferde an. Die Pferde blieben selten lange arbeitslos. Eine ununterbrochene Linie aus Saftkartons, Kaugummipapier, leeren Chipstüten und Schokoladenpapier zog sich neben dem Weg dahin.

»Sie wohnen im Müll und sie sterben im Müll«, bemerkte Akhtar verächtlich.

Die Wiesen machten ihrem Namen alle Ehre. Sie waren mit leuchtend grünem Gras bedeckt, von Pappeln umgeben und hatten eine fabelhafte Aussicht auf den Mörderberg. Mehrere Zeltlager und einige Dutzend primitive Hütten standen bereit, um die Touristen zu empfangen. Während wir eine glühend heiße Linsensuppe aus einem der einfachen Cafés schlürften, hörten wir Schreie und Gebrüll vom anderen Ende der Märchenwiese.

»Sie haben Glück«, sagte Akhtar und schob die Suppenschüssel beiseite. »Kommen Sie!«

Ich lief ihm nach und landete mitten in einem Chaos aus Pferdehufen und Poloschlägern. Von Dächern und großen Findlingen aus verfolgten Männer des Dorfes eifrig die Rauferei, sie schrien und johlten. Akhtar und ich fanden einen ruhigen Platz an einem Abhang und setzten uns, um dem Polospiel zuzusehen. Die Spieler schienen keinerlei Regeln zu folgen; sie zielten mit ihren Schlägern ebenso oft auf die Gegenspieler wie auf den Ball, sie rissen und zerrten aneinander, und ohne Vorwarnung schlug jemand den Ball in unsere Richtung. Die Pferde donnerten direkt hinterher. Akhtar und ich sprangen auf und rannten, so schnell es ging, den Hang hinauf, doch die Pferde waren schneller, schon bald waren überall Hufe und Schwänze. Die Zuschauer auf den Dächern lachten so, dass sie sich festhalten mussten, um nicht hinunterzufallen.

Am Abend bekam ich Gesellschaft von drei Männern in den Dreißigern aus Islamabad. Sie zündeten ein Feuer an, wir blieben sitzen und unterhielten uns unter dem Sternenhimmel über pakistanische Politik.

»Der neue Ministerpräsident Imran Khan ist ein guter Mann«, sagte einer der Männer, ein Bursche mit halblangem Haar und Lederjacke.

Khan war wenige Tage zuvor als Ministerpräsident vereidigt worden. Als junger Mann gehörte er zu den erfolgreichsten Cricketspielern der Welt, als Kapitän hatte er Pakistans Cricket-Nationalmannschaft 1992 zum Gewinn des World Cup geführt. Vier Jahre später gründete er die Partei Pakistan Tehreek-e-Insaf, Pakistanische Bewegung für Gerechtigkeit, und wurde mit der Zeit eine herausragende Stimme der Opposition in der pakistanischen Politik. 2018 setzte sich seine Partei bei den Parlamentswahlen durch und eroberte einhundertzehn von zweihundertneunundsechzig Sitzen.

»Im Gegensatz zu anderen Politikern hat Imran Khan kein Interesse an Geld«, behauptete der Bursche in der Lederjacke. »Er hätte viele Millionen bekommen können, als er sich von seiner ersten, steinreichen Frau scheiden ließ, aber er wollte das Geld nicht. Sie wurden geschieden, weil sie es nicht ertrug, weiter in Pakistan zu leben, während er etwas für sein Land tun wollte. Das war eine klare Angelegenheit. Die andere Ex-Frau hingegen … Sie schreibt jetzt Bücher.«

»Was für Bücher schreibt sie denn?«, erkundigte ich mich.

Die Männer lachten schallend.

»Bücher, die für Kinder nicht geeignet sind«, erklärte mein Nebenmann, der einen dichten kurzen Bart trug. »Sie fing damit an, nachdem sie Imran Khan begegnet war, wenn Sie verstehen, was ich meine. Er ist ein Playboy, das ist seine einzige große Schwäche.«

Es schien nicht so, als wäre er der Ansicht, dass dies eine wirklich große Schwäche war.

»Haben Sie schon mal Hunzawasser probiert?«, fragte mich der Erste. »Hunza ist berühmt dafür, es ist wirklich gut, besser als Brandy!«

»Ich habe nicht einen Tropfen getrunken, seit ich nach Pakistan gekommen bin«, erwiderte ich.

»Was, haben Sie nicht?« Der dritte Mann sah mich überrascht an. »Sie Ärmste! Wir hätten Ihnen gern etwas abgegeben, aber wir haben leider nur Marihuana.«

»Was für Muslime sind Sie eigentlich?«, fragte ich frotzelnd.

»Es gibt starke Moslems, und es gibt schwache Moslems«, erklärte der Bärtige. »Wir sind relativ schwach. In Pakistan bekommt man alles, was man will, man muss nur die richtigen Leute kennen.«

»Ich hoffe, Imran Khan liberalisiert das Land und macht es weniger streng«, bemerkte mein Nebenmann.

»Hat er jetzt nicht eine sehr religiöse Frau?«, wollte ich wissen. »Trägt sie nicht Burka und solche Sachen?«

»Sie ist sehr religiös, ja. Aber er nicht. Glücklicherweise!«

Die frische Bergluft hatte mich müde werden lassen, und ich ging früh zu Bett. Als ich in meinen Schlafsack kroch, wurde der Platz am Feuer in eine Diskothek verwandelt. Die drei Freunde hatten offensichtlich Lautsprecher aus Islamabad mitgeschleppt.

Am nächsten Tag stellte mich Akhtar einem Freund vor, Mursalin Khan.

»Mursalin möchte Ihnen gern das Dorf zeigen«, sagte er. »Ich bin ein Mann und habe hier keine Verwandten, also darf ich nicht hinein.«

»Aber ich schon?«

»Ja, natürlich. Sie sind ja eine Frau.«

Mursalin hatte ein schmales Gesicht, eine spitze Nase, Vollbart und tiefe Runzeln. Er sah aus, als wäre er deutlich über fünfzig, aber er sei erst vierunddreißig, behauptete er, ebenso alt wie ich. Er sprach gut Englisch und trug, wie die meisten hier oben, eine Daunenjacke und Salwar Kamiz, eine traditionelle südasiatische Tracht, die aus einem langen, lockeren Hemd oder einer Tunika sowie einer weiten, bauschigen Hose besteht und von Männern wie Frauen getragen wird.

Das Dorf lag hinter einem Zaun direkt gegenüber dem Polofeld; was sich hinter diesem Zaun befand, gehörte zu einer verborgenen Welt.

»Wenn sie zehn, elf Jahre alt sind, dürfen die Frauen das Dorf nicht mehr verlassen«, erklärte Mursalin. »Wenn sie auf die Felder müssen, um zu arbeiten, nehmen sie ganz bestimmte Wege, sodass möglichst wenige sie sehen.«

Mursalin nahm mich mit zu seinem Haus, einer einfachen Holzhütte mit nacktem Erdfußboden. Seine Frau, die Schwägerin und eine Handvoll Kinder unterschiedlichen Alters saßen draußen an die Wand gelehnt. Sie betrachteten uns lächelnd, aber ohne etwas zu sagen. Niemand sprach Englisch.

»Meine Frau arbeitet für die Familienplanung«, sagte Mursalin. »Das ist etwas Neues, womit die Behörden angefangen haben. Frauen arbeiten hier normalerweise nicht, aber für mich ist es okay, dass sie diese Arbeit hat. Ich vertraue ihr, und sie vertraut mir.«

»Wie viele Kinder haben Sie?«

Er dachte nach.

»Rund acht. Wir beteiligen uns nicht an der Familienplanung, wir akzeptieren die Kinder, die wir bekommen.«

Auf Mursalins Bitte hin servierte die älteste Tochter selbst gemachtes säuerliches Lassi und danach süßen Tee mit Milch. Die Ehefrau, die laut Mursalin fünfunddreißig, sechsunddreißig Jahre alt war und unter ihrem großen Schal bereits graue Haare hatte, wandte sich uns zu und sagte mit leiser Stimme etwas zu ihrem Ehemann.

»Sie fragt, ob Sie verheiratet sind?«, übersetzte Mursalin.

Ich nickte, und die Frau stellte die Frage, ob ich Kinder hätte und wie lange ich schon verheiratet sei.

»Meine Frau hat mir die Erlaubnis gegeben, noch eine Frau zu nehmen, eine Ausländerin«, informierte mich Mursalin mit einem Mal.

»Muss sie denn Ausländerin sein?«, wollte ich wissen.

»Ja, ich will nicht noch eine Frau aus dem Dorf heiraten. Ich habe den Plan, ins Ausland zu ziehen, hart zu arbeiten und eine Menge Geld zu verdienen, um meiner Familie hier zu helfen.«

»Welches Land würden Sie denn bevorzugen?«, fragte ich weiter.

»Sie könnte aus jedem Land kommen. Japan, Frankreich, Deutschland, Korea … Das ist nicht so wichtig, Hauptsache, wir verstehen uns und respektieren einander.«

»Was glauben Sie, wird die ausländische Frau davon halten, dass Sie bereits eine Frau und acht Kinder hier in Pakistan haben?«

»Ich werde eine Frau finden müssen, die tolerant ist«, antworte Mursalin. »Gegenseitiges Verständnis ist wichtig. Gestern war ich Guide für eine Deutsche, ich führte sie hier in den Bergen herum. Unterwegs erzählte ich ihr von meinem Plan, so wie ich es jetzt auch Ihnen erzähle. Sie wurde richtig böse und sagte, sie habe einen Freund zu Hause, und hinterher weigerte sie sich, weiter mit mir zu reden. Es war ziemlich dumm, dass es so endete. Ich verstehe nicht, warum sie so böse geworden ist.«

Er schüttelte den Kopf und bemerkte dann meinen Blick. »Fragen Sie sie! Los, fragen Sie sie selbst!«

»Entschuldigung?« Ich sah ihn verwirrt an.

»Fragen Sie sie, fragen Sie meine Frau, ob sie es zulässt, dass ich mir noch eine Frau nehme.«

»Erlauben Sie, dass Ihr Mann sich noch eine Frau nimmt?«, fragte ich gehorsam, und Mursalin übersetzte zufrieden.

Die Frau nickte und lächelte.

»Warum gestatten Sie es ihm?«, erkundigte ich mich, Mursalin übersetzte.

»So ist es im Islam«, antwortete sie. »Ein Mann kann vier Frauen haben.«

»Sie ist gläubiger als ich«, erklärte Mursalin. »Sie betet und fastet und hält sich an die Regeln. Ich versuche es, so gut ich kann, ja, aber ich schaffe es einfach nicht. Egal, ich glaube, das Wichtigste ist, ein guter Mensch zu sein. Sind Sie Christin?«

Ich schüttelte den Kopf.

»Welcher Religion gehören Sie an?«

»Ich habe keine Religion«, erwiderte ich.

Mursalin sah mich überrascht an und erklärte die Situation den Frauen. Es löste eine eifrige Diskussion unter ihnen aus.

»Sie sagen, dann steht es Ihnen frei, den Islam zu wählen«, übersetzte Mursalin. »Denn Sie glauben doch sicher an Gott?«

»Nein, ich glaube nicht an Gott.«

»Wie erklären Sie sich dann all dies?«, fragte Mursalin und breitete die Arme aus. »Die Sonne, den Mond, einen Tag wie diesen? Warum leben wir, warum sterben wir? Können Sie mir das beantworten?«

Das konnte ich nicht so ohne Weiteres.

»Sehen Sie!«, erklärte Mursalin triumphierend. »Hier reicht die Wissenschaft nicht aus. Die einzige logische Erklärung ist, dass es einen Gott gibt. Und der Islam ist die beste Religion, das versteht sich von selbst, denn es ist die letzte. Die richtigste. Alles steht im Koran, auch die Bibel, Jesus und andere Religionen werden erwähnt. Sie glauben doch nicht im Ernst, dass der Mensch von den Affen abstammt? So ein Quatsch! Im Koran steht, dass der Mann von Gott geschaffen wurde, und die Frau aus der Rippe des Mannes. Das ist die einzige logische Erklärung.«

Dann folgte eine längere Auslegung der Gebetsrituale und welche Gebete zu welchem Zeitpunkt gebetet werden sollen.

»Dauert es noch lange bis zum nächsten Gebet?«, fragte ich hoffnungsvoll.

Mursalin sah auf die Uhr.

»Fünfundzwanzig Minuten«, sagte er, aber es schien nicht so, als hätte er es eilig, sein Gebet zu verrichten. Stattdessen nahm er mich mit auf eine Führung durch den oberen Teil des Dorfes und zeigte mir das Stück Land, das er besaß, die Tiere, die ihm gehörten, und die Leute, die für ihn arbeiteten.

»Sie sind aus dem Norden«, erklärte er. »Ich habe ihnen eine Menge Geld bezahlt, einige hundert Rupien, damit sie bei mir arbeiten. Wenn sie aufhören wollen, für mich zu arbeiten, müssen sie mir diese Summe zurückzahlen. Außerdem bezahle ich ihnen rund zweitausend Rupien pro Jahr.«

Ich rechnete es rasch aus. Tausend Rupien entsprachen rund sechs Euro.

»Das ist nicht viel«, sagte ich.

»Nein, aber sie bekommen ja auch Kost und Logis. Ich trage die Verantwortung nicht nur für meine Arbeiter, sondern auch für deren Familien. Wenn einer von ihnen beispielsweise eine Tochter verheiraten will, gebe ich ihm normalerweise tausend Rupien als Mitgift. Ich bezahle auch die Ärzte, wenn einer von ihnen krank wird.«

Die Häuser, an denen wir vorbeikamen, waren klein, einfach und so gut wie unmöbliert, überall wimmelte es von Hühnern, Kühen, Ziegen und kleinen Kindern. Auf einem Hügel vor einem der Häuser lag ein halb nackter Junge im Alter von fünf oder sechs Jahren und starrte mit großen Augen in die Luft. Die Fliegen summten wie eine schwarze Wolke um ihn herum.

»Er wurde so geboren«, bemerkte Mursalin. »Er liegt einfach nur da.«

Als wir das Dorf verließen, rief der Imam zum Gebet, aber Mursalin sah noch immer nicht so aus, als wäre er in Zeitnot. Stattdessen nahm er mich mit auf ein Plateau am Rande des Dorfes, von dem man einen fantastischen Blick nach Westen auf das Karakorum-Gebirge und den Hindukusch hatte. Zwischen den beiden Gebirgsketten schlängelte sich der Indus wie ein brauner Darm hindurch. Auf der anderen Seite des Dorfes gab es diesen Panoramablick auf den Nanga Parbat und den Himalaya, der sich weiter nach Osten durch Indien, Nepal und Bhutan bis zum Namjagbarwa in Tibet erstreckte, der östlichsten Verankerung des Himalaya, mehr als zweitausend Kilometer entfernt. Zwischen diesen drei höchsten Bergmassiven der Welt lagen die Märchenwiesen wie eine erzkonservative, versteinerte Fabelwelt.

Vier, fünf bärtige Männer standen auf dem Plateau verstreut. Alle starrten intensiv auf die Displays ihrer Mobiltelefone. Keinerlei moderne Signale dringen hinter die Grenzen der Märchenwiese, dies war der einzige Ort, an dem sie Kontakt zu ihrer Umwelt bekamen.

Mursalin bestand darauf, mich zurück zur Hüttensiedlung zu begleiten und ließ sich auch nicht zwei Mal bitten, als Akhtar ihn aufforderte, mit uns zu Abend zu essen. Während wir auf das Essen warteten, verschwand Mursalin. Die Linsen wurden serviert und waren bereits lauwarm, als er endlich zurückkam. Mit einem geheimnisvollen Lächeln zog er eine Cola-Flasche mit einer trüben hellbraunen Flüssigkeit aus der Daunenjacke und goss mit feierlicher Diskretion ein Glas für jeden von uns ein. Es schmeckte wie verwässerter, billiger Grappa.

»Hunzawasser«, flüsterte Mursalin und sah sich wachsam um. »Ich habe es vor ein paar Tagen gekauft, aber es gab bis heute keinen Anlass, es zu trinken. Prost!« Er hob das Glas und trank die hellbraune Substanz in einem Zug aus. »Ah, lecker, nicht wahr?«

Akhtar rümpfte die Nase, sagte aber nichts. Ich nickte höflich.

»Lasst uns auf Pakistan anstoßen!«, sagte Mursalin und füllte die Gläser erneut. »Und auf Imran Khan! Pakistan braucht neue Kräfte. Wir brauchen ein neues Pakistan. Prost!«