In der letzten Woche hatte Muhammed, der Pharmakologe, den ich im Kleinbus von China nach Pakistan kennengelernt hatte, täglich angerufen oder eine SMS geschickt, um zu erfahren, ob ich ihn und seine Familie besuchen würde. Er lebte in dem Dorf Odigram (970 Meter über N.N.), einige Kilometer westlich von Saidu Sharif, der Hauptstadt des Distrikts Swat, allerdings habe ich nie herausgefunden, wo Saidu Sharif aufhörte und Odigram begann.
Wir fuhren eine lange Straße entlang, vorbei an verfallenen Häusern, Müll und einem Stromleitungsgewirr, das noch chaotischer war als der Verkehr. Irgendwann änderte die Straße ihren Namen – wir hatten die Stadt verlassen und das Dorf erreicht. Odigram, von den Griechen Ora genannt, ist vor allem dadurch bekannt geworden, dass es im Jahr 326 vor Christus von Alexander dem Großen erobert wurde.
Muhammed empfing uns überschwänglich. Im Bus hatte er Jeans und Lederjacke getragen, nun trug er einen hellbraunen Kaftan und eine bauschige Hose.
Akhtar und unser Fahrer wurden in ein Gästezimmer gebracht, das an der Straße lag, während ich hinter dem geschlossenen Tor des Wohnhauses bleiben durfte. Die Schlafräume waren rund um ein großes, luftiges Atrium angeordnet, das mit flachen Bänken und einem kleinen Tisch möbliert war. In einer Ecke unter dem Dach gab es eine offene Küche. Muhammeds alter Vater lag unter einer Decke auf einer der Bänke, er war so klein, dass es aussah, als könnte er jederzeit zwischen den Falten der Decke verschwinden. Muhammeds Mutter küsste mich zur Begrüßung auf die Wangen, und ich begrüßte auch Muhammeds junge Frau sowie seine Schwester und seinen Bruder. In dem Atrium wimmelte es von Kindern, allerdings machte sich niemand die Mühe, sie mir vorzustellen. Muhammeds Schwägerin, die auf die Straße gehen wollte, griff stöhnend nach ihrer Burka.
»Sie ist so warm«, klagte sie. »Sie sitzt so eng am Kopf, und es ist so schwer, etwas zu sehen.«
»Das ist unsere Kultur«, unterbrach Muhammed sie. »Hier kleiden sich die Frauen so. Das ist schon immer so gewesen.«
»Haben Sie Hunger, möchten Sie etwas essen?«, erkundigte sich die Mutter lächelnd, und Muhammed übersetzte.
Ich lehnte höflich ab, aber die Frauen gingen trotzdem in die Küche, und schon bald brachten sie mir frisch gepressten Mangosaft, Kuchen, Obstsalat und süßen Tee mit Milch.
»Sie isst nicht genug, ihr müsst ihr mehr zu essen geben!«, schimpfte der alte Vater aus den Falten seiner Decke.
Muhammeds jüngerer Bruder hieß Ahmed und war dreißig Jahre alt. Er trug Jeans, T-Shirt und eine dünne Brille und hatte ein schmales, ovales Gesicht mit einem kurz geschnittenen Bart. Er lächelte mich an.
»Sie sind also Norwegerin?« Es war eher eine Feststellung als eine Frage.
Ich nickte.
»Fantastisch!« Ahmed klatschte begeistert in die Hände. »Ich arbeite an meiner Doktorarbeit über den norwegischen Sozialanthropologen Fredrik Barth!«
»Ist das wirklich wahr?«, rief ich überrascht aus. »Ich bin Sozialanthropologin, und Fredrik Barth war mein großer Held! Ich hatte das Glück, ihm einige Male zu begegnen, und das war so, als träfe man Gott! Worüber schreiben Sie?«
»Ich vergleiche Barths Beobachtungen in den 1950er Jahren über das Swat-Tal mit der heutigen Zeit«, erklärte Ahmed eifrig. »Alles, worüber er schrieb, hat sich verändert! Damals war Swat noch ein eigenes Königreich, und wir gehörten weder zu Pakistan noch zu Afghanistan, aber auch die Kultur ist heute vollkommen anders. Barth beschreibt Bräuche, von denen ich nicht einmal gehört habe. Die sozialen Institutionen, die Art und Weise, wie Ehepaare zusammenleben, alles hat sich verändert! Barth beschreibt zum Beispiel etwas, das Hujra genannt wird, einen Ort, an dem sich die männlichen Oberhäupter der Gemeinschaft am Abend trafen. Die Tradition war einzigartig für Swat, aber es gibt sie nicht mehr. Die Frauen hatten ihr Gudar, aber auch das gibt es nicht mehr. Ich hatte nichts davon gehört, bevor ich bei Barth darüber las!«
Wir redeten lange über Barth und seine vielen Reisen – und darüber, wie seine berühmteste Theorie durch die Feldarbeit im Swat-Tal inspiriert wurde: Identität und das Bewusstsein für die eigene Kultur würden durch Grenzziehung geschaffen, durch die Begegnung mit einer anderen, fremden Gruppe.
Muhammed war nach draußen gegangen, um sich mit Akhtar und dem Fahrer im Gästezimmer zu unterhalten. Der Rest der Familie, auch die Kinder, saßen um uns herum und betrachteten uns mit stiller Neugierde. Die Frauen achteten darauf, dass unsere Teetassen stets randvoll waren.
»Die Gesellschaft in Swat ist noch immer sehr konservativ«, sagte Ahmed. »Unsere Frauen haben es nicht leicht.«
»Protestieren sie nie?«, wollte ich wissen.
»Protestieren?« Er lachte trocken. »Nein, sie kämen nicht einmal auf den Gedanken zu protestieren.«
Ein ungefähr fünf Jahre altes Mädchen, eine Nichte, kroch in seine Arme und flüsterte ihm etwas ins Ohr.
»Sie findet Sie so hübsch«, übersetzte Ahmed. »Sie fragt sich, woher Sie so feines, helles Haar bekommen haben.«
»Sagen Sie ihr, dass sie auch hübsch ist«, bat ich Ahmed.
»Das gleiche traurige Schicksal erwartet dieses kleine Mädchen«, seufzte er. »Sie wird verheiratet und an das Haus gefesselt sein. Sie hat keinerlei Möglichkeiten.«
»Aber nur, weil alle ihr erzählen, dass es so ist.«
»Das stimmt«, nickte Ahmed. »Ich werde ihr sagen, dass sie eine Ausbildung braucht und einen Beruf ergreifen soll! Sie müssen übrigens unbedingt meine Frau begrüßen, sie spricht auch Englisch.« Er winkte eine junge Frau heran, die auf einer Bank an der Wand gesessen hatte, ein paar Meter vom Rest der Familie entfernt. Sie hatte dunkle, mandelförmige Augen und trug eine helle, traditionelle Tracht. Ein ganz leichter cremefarbener Schal hing locker über dem langen Haar.
»Komm her, Sara, setzt dich näher zu uns! Du kannst mit ihr Englisch sprechen, niemand sonst hier wird verstehen, was du sagst!«
»Ja, kommen Sie und setzten Sie sich zu uns«, forderte ich sie ebenfalls auf. Schließlich ließ sie sich überreden und kam näher.
»Wir sind seit fünfzig Tagen verheiratet«, lächelte Ahmed. Es funkelte in seinen Augen.
»Wie haben Sie sich kennengelernt?«
»Das ist eine sehr gute Frage!«, lachte Ahmed enthusiastisch. »Wir kannten uns praktisch kaum, bevor wir geheiratet haben.«
»Das heißt, die Ehe war arrangiert?«
»Nein, es war eine Liebesheirat, die allererste in der Familie!«
»Aber Sie hatten sich vorher nicht gekannt?«, fragte ich verwirrt.
»Nein!«
»Wie haben Sie dann kommuniziert? Übers Handy?«
»Okay, okay, lassen Sie es mich erklären«, erwiderte Ahmed. »Wir müssen zurück ins Jahr 2009. Um den Taliban zu entgehen, die damals die Kontrolle über das Swat-Tal hatten, lebte die ganze Familie in einem Lager für Heimatvertriebene. In dem Flüchtlingslager lernte ich Saras ältere Schwester kennen, eine Studentin, die in ihrer Freizeit den Flüchtlingen half. Sie stieß auf viele Schwierigkeiten, gab aber nie auf, und ich war fasziniert, wie sie die Dinge anpackte. Und da ich auch Student war, tat ich etwas ganz Unerhörtes: Ich bat um ihre Telefonnummer – und bekam sie! Von da an chatteten wir viel zusammen. Wir diskutierten über alles Mögliche. Über das Studium, das Leben, über alles. Als ich anfing, nach einer Lebensgefährtin zu suchen, sah sich ihre jüngere Schwester nach einem Ehemann um, und wir fanden heraus, dass wir beide zusammengehören.«
»Sie haben Sara also durch ihre große Schwester kennengelernt?«
»Ja, ja, so war das!«, rief Ahmed begeistert. »Aber sie war sehr jung, als ich sie das erste Mal traf, fast noch ein Kind.«
»Ich komme nicht ganz mit«, gestand ich. »Wie haben Sie Sara denn kennengelernt? Sie haben doch mit ihrer älteren Schwester gechattet?«
»Sara schlief zusammen mit ihrer älteren Schwester in einem Bett, sodass ich am Telefon praktisch beide gleichzeitig kennengelernt habe! Von Anfang an war ich ziemlich beeindruckt von Sara. Sie schien empfindsam und klug zu sein. Egal, wonach ich fragte, ich bekam eine vernünftige Antwort. Sie wollte etwas aus ihrem Leben machen. Ihr größter Wunsch war es, der Menschheit zu dienen.«
»Wie wollten Sie denn gern der Menschheit dienen, Sara?«, erkundigte ich mich.
»Durch ihn«, antwortete Sara und nickte Ahmed lächelnd zu.
»Ich bin so stolz auf sie«, sagte Ahmed. »Sie ist eine Pionierin! Sie ist die Erste in der Familie, die aus Liebe geheiratet hat. Zwei Jahre musste sie kämpfen, um mich zu heiraten.«
»Bei uns ist es normal, innerhalb der Familie zu heiraten«, erklärte Sara. »Ich musste mich beinahe mit meinem Vetter prügeln, um einer Heirat mit ihm zu entgehen.«
»Ich musste auch kämpfen«, fügte Ahmed hinzu. »Anderthalb Jahre kämpfte ich beinahe jeden Tag. Nur mein Vater unterstützte mich. Er sagte, ich dürfe diejenige heiraten, die ich wollte.«
»Und wann sind Sie sich das erste Mal von Angesicht zu Angesicht begegnet?«, fragte ich neugierig.
»2016«, antwortete Ahmed. »Am Valentinstag. Sie trug einen Schleier vor dem Gesicht, sodass ich nur ihre Augen sehen konnte, aber ich war trotzdem total fasziniert. Wir trafen uns in einer Eisdiele. Sie kam mit ihrer Schwester, denn eine Frau kann in dieser Gegend nirgendwo allein hingehen. Genau ein Jahr später hielt ich um ihre Hand an, auch am Valentinstag. Ich rief sie an und fragte, ob sie mich heiraten wolle, und sie hat einfach nur geweint. Erst einen Monat später hat sie geantwortet. Es war ein langer Monat, das kann ich Ihnen sagen! Ich hatte solche Angst, dass sie Nein sagen würde! Eigentlich dachte ich, sie würde überhaupt nicht antworten. Ihr Vetter bedrängte und quälte sie, er wollte sie heiraten. Aber sie hat Ja gesagt! Ich bin nur noch herumgehüpft, so glücklich war ich!«
»Ist der Vetter zur Hochzeit gekommen?« Ich stellte mir vor, dass die Stimmung in diesem Fall ein wenig beklommen gewesen sein muss.
»Nein, sind Sie verrückt?« Ahmed sah mich mit großen Augen an. »Wenn wir verheiratet sind, haben wir Männer keinen Kontakt mehr mit unseren Kusinen, und die Frauen haben keinen Kontakt mehr zu ihren Vettern. Ich habe nicht einmal die Telefonnummern meiner Kusinen. Wir Männer dürfen, wenn es um Frauen geht, nur Kontakt zu Schwestern, Schwägerinnen, der Mutter und der Schwiegermutter haben. Und zu Töchtern und eventuellen Enkelinnen natürlich. Das ist alles. So streng ist das hier.«
Er sah sich um. Muhammed war noch immer bei Akhtar und dem Fahrer.
»Niemand in der Familie weiß, was wir Ihnen gerade erzählt haben«, sagte er leise und zwinkerte mir zu. »Da wir Englisch reden, kann uns hier niemand verstehen.«
»Was haben Sie Ihrer Familie erzählt?«
»Wir haben gesagt, wir hätten uns auf dem College kennengelernt und würden zusammen studieren«, sagte Sara und lachte.
»Sie war ja noch ein Kind, als ich studiert habe, aber solche Dinge wissen sie ja nicht«, fuhr Ahmed fort. »Sie haben nie studiert. Sara ist die Erste in der Familie, die einen Master hat, in Soziologie. Ich bin so stolz auf sie!«
»Wie war das für Sie, bei Ahmeds Familie einzuziehen?«, wollte ich von Sara wissen.
»Schwierig«, antwortete sie leise. »Die Kultur, die Menschen, die Familie, alles war schwierig. Und es ist noch immer schwierig.«
»Was ist denn so schwierig?«
Sie blickte zu Boden, antwortete nicht.
»Du kannst offen reden«, beharrte der frisch verliebte Ehemann. »Wenn du willst, gehe ich, dann kannst du ganz offen reden. Nur sag, wie es ist, halt nichts zurück.«
Aber Sara wollte nicht reden und wandte stumm den Blick ab.
»Sie haben einen Master, aber Sie arbeiten nicht«, stellte ich fest. »Es muss doch langweilig sein, nur zu Hause zu sitzen?«
»Ja, es ist unglaublich langweilig«, bestätigte Sara und blickte mich wieder an.
»Ich weiß, dass sie sich langweilt«, sagte Ahmed, der neben seiner Doktorarbeit Soziologie unterrichtete. »Wir reden viel darüber, wenn wir unter uns sind. In unserer Gesellschaft ist es nicht leicht für Frauen, einen Beruf auszuüben. So ist unsere Kultur nun einmal, leider. Unsere Kultur zwingt uns, viele Dinge zu tun, die wir eigentlich gar nicht tun wollen. Heute, zum Beispiel, musste ich Sara früh wecken, obwohl sie müde war, weil sie gestern Abend bis spät in die Nacht hinein Gäste bedient hat. Ich hätte sie am liebsten ausschlafen lassen, aber meine Eltern bestanden darauf, sie hatten noch mehr Gäste. Also, was habe ich getan? Ich habe sie geweckt, obwohl ich es gar nicht wollte.«
»Könnten Sie sich vorstellen zu arbeiten, Sara?«
»Ja!« Die Antwort kam prompt und entschieden. »Ich würde gern als Dozentin an der Universität arbeiten.«
»Es gibt nur wenige weibliche Lehrer in unserer Gegend«, meinte Ahmed. »Drei, vier, höchstens. Es ist ungewöhnlich. Ich würde sie so gern arbeiten lassen, aber es ist nicht so leicht.«
»Sie haben bereits einen Masterabschluss«, wandte ich mich an Sara. »Würden Sie auch gern promovieren?«
»Oh, ja!« Sie lächelte breit und warf ihrem Mann einen Blick zu.
»Es gibt viele Frauen in Pakistan, die promovieren«, sagte Ahmed. »Aber in unserer Gegend … Es ist nicht so leicht.«
»Können Sie nicht einfach nach Islamabad ziehen, zum Beispiel?«, schlug ich vor.
Er schüttelte traurig den Kopf.
»Nein, das geht nicht. Die Kultur ist so stark. Von hier fortzuziehen, ist vollkommen undenkbar.«
»Aber sie wird doch wohl die Erlaubnis bekommen zu arbeiten, damit sie sich nicht den ganzen Tag langweilt«, sagte ich. »Das ist doch kein Leben.«
Sara blickte ihren Ehemann hoffnungsvoll an.
»Klar«, lächelte Ahmed frisch verliebt. »Sie wird die Erlaubnis bekommen zu arbeiten. Das verspreche ich.«
Sara strahlte.
»Wissen Sie«, sagte Ahmed, »es ist das erste Mal, dass Sara und ich an diesem Tisch sitzen und uns so gemütlich unterhalten. Sonst essen wir hier nur. Es herrscht keine gute Stimmung im Haus, sie bekommt nur Befehle. Die ganze Zeit ›hol dieses, hol jenes, geh zum Basar, tu dies, tu das‹. Meine Frau ist nicht glücklich hier. Sie wird schlecht behandelt, vor allem von Muhammed. Er schlägt sie.«
In diesem Moment trat Muhammed in die Tür, und als wollte er demonstrieren, was sein jüngerer Bruder gerade erzählt hatte, ging er rasch auf dessen Frau zu und schlug ihr fest auf den Hinterkopf, bevor er sich neben mich setzte.
»Sie dürfen sie nicht schlagen«, sagte ich.
»Warum nicht?« Muhammed lächelte angestrengt. »Das ist unsere Kultur. Frauen müssen geschlagen werden, sie müssen heruntergedrückt werden wie Sprungfedern. Sonst schnellen sie hoch und sind außer Kontrolle. So wie das da«, sagte er und zeigte auf ein Kinderfahrrad, das an der Wand lehnte. »Die Federn müssen heruntergehalten werden, damit es funktioniert, alle Teile müssen stramm zusammensitzen.«
»Eine Ehefrau ist kein Fahrrad«, wandte ich ein.
Ahmed juchzte vor Freude und griff nach meiner Hand. »Genau, ganz genau!«
»Das ist unsere Kultur«, wiederholte Muhammed sauer.
»Kultur ist bloß eine schlechte Entschuldigung, damit Sie sich gegenüber Ihrer Ehefrau miserabel verhalten können«, widersprach ich.
Und Ahmed sprang auf und rief begeistert: »Ja, ja, so ist das, genau so! Kultur ist bloß eine schlechte Entschuldigung!«
Bevor ich aufbrach, versprach ich Ahmed und Sara, in einem Jahr wieder Kontakt zu ihnen aufzunehmen, um zu hören, ob Ahmed sein Versprechen gehalten hatte und Sara arbeiten durfte.
Ich habe nie eine Antwort bekommen.
Die pakistanischen Taliban, Tehrik-i-Taliban, wurden 2007 gegründet und übernahmen noch im selben Jahr die Kontrolle über das konservative Swat-Tal. Unter der zweijährigen Herrschaft der Taliban wurde es Mädchen verboten, zur Schule zu gehen, die Scharia-Gesetzgebung wurde eingeführt, und Menschen, die diese Gesetze brachen, riskierten, auf dem Marktplatz aufgehängt zu werden. Lange nachdem das pakistanische Militär die Taliban aus Swat vertrieben hatte, blieben Sympathisanten und einzelne Zellen weiterhin in Pakistan aktiv, vor allem im Nordwesten, an der Grenze zu Afghanistan. 2012 wurde der späteren Nobelpreisträgerin Malala Yousafzai von einem Taliban-Anhänger im Swat-Tal in den Kopf geschossen, weil sie öffentlich das Recht der Mädchen auf Bildung verteidigt hatte.
Die Taliban führten nicht nur gegen die ihrer Ansicht nach westliche anti-islamische Kultur Krieg, sondern auch gegen das eigentliche Kulturerbe. Im Herbst 2007 wurde das eintausendfünfhundert Jahre alte Riesenrelief Buddhas in Swat von pakistanischen Taliban zerstört. Das Gesicht nahm großen Schaden, aber zum Glück zündeten nicht alle Sprengladungen. Das ehemals wichtige Pilgerziel war die zweitgrößte Buddha-Abbildung in Zentralasien, nur übertroffen von den Riesenstatuen im Bamiyan-Tal in Afghanistan. Auch sie wurden von den Taliban gesprengt – bereits 2001.
Es führte keine Straße zu dem Relief, sodass Akhtar und ich über Felsbrocken klettern und auf überwucherten Pfaden laufen mussten, um dorthin zu kommen. Auf dem Weg kamen wir an einem kleinen Hof mit Eseln und meckernden Zicklein vorbei. Der Bauer, ein sehniger Greis mit ledrigem, runzligem Gesicht, begleitete uns schweigend das letzte Stück. Er sprach kein Urdu, und Akhtar beherrschte die lokale Sprache nicht, doch ohne die Hilfe des Bauern hätten wir den Riesenbuddha trotz seiner Größe vermutlich nicht gefunden. Erhaben, die Beine im Lotussitz und mit einem fernen, friedlichen Ausdruck im Gesicht war er irgendwann im 7. Jahrhundert aus der Felswand herausgehauen worden. Es war kaum zu erkennen, wo die Restaurierungsarbeiten der italienischen Archäologen begonnen hatten und wo die fünfzehnhundert Jahre alten Formen endeten. Die Restaurierung hatte viele Jahre gedauert und war erst wenige Wochen zuvor beendet worden.
Trotz des Versuchs der Taliban, die Vergangenheit auszulöschen, gab es überall im Swat-Tal physische Spuren der buddhistischen Blütezeit. In den Klosterruinen Takht-i-Bahi, einem der wichtigsten Ausgrabungsgebiete in Pakistan, traf ich den Archäologen Muhammad Usman Mardavi, zusammen schleppten wir uns bei brütender Hitze den steilen Berg hinauf. In den Klosterruinen wimmelte es von Menschen, viele hatten gewaltige Lautsprecher, Propangasflaschen und Picknickkörbe mitgeschleppt. Im Vorhof des einstigen Hauptgebäudes tanzten Gruppen von jungen Männern fröhlich in der erstickenden Hitze, johlten und schrien. Überall in den Ruinen, die offenbar ein ausgesprochen beliebter Ort zum Feiern waren, flog Müll herum.
»Nur rund dreißig Prozent des Geländes sind ausgegraben«, berichtete Mardavi und zeigte auf die spitzen Hügel, die uns umgaben. »Wir wissen nicht, was sich unter ihnen verbirgt, weil wir noch nicht so weit vorgedrungen sind. Insgesamt war Takht-i-Bahi über sechzig Hektar verstreut, es gab Klöster, Stupas, buddhistische Grabbauten, unterirdische Meditationszellen sowie eine Reihe weltlicher Gebäude. Einzelne Bauten waren drei Stockwerke hoch, und wenn Sie die Bauweise studieren, werden Sie feststellen, dass sie erdbebensicher waren. Diejenigen, die all dies gebaut haben, müssen ausgesprochen tüchtige Ingenieure gewesen sein, denn in dieser Region des Hindukusch kommt es ständig zu Erdbeben. Das Kloster wurde bis ins 7. Jahrhundert genutzt, bis zum beginnenden Niedergang des Königreichs Gandhara.«
»Pakistan hat eine unglaublich reiche Geschichte«, bemerkte ich.
»Ja, natürlich, hier leben ja auch seit über zwölftausend Jahren Menschen«, erwiderte der Archäologe. »Insgesamt gibt es über 87 000 registrierte archäologische Fundstätten in Pakistan. Die wenigsten von ihnen sind ausgegraben, denn es würde viele Milliarden kosten, sie alle zu erkunden. Gar nicht zu reden von den Instandhaltungsarbeiten …«
Er warf einen betrübten Blick auf die Grillfeste und Tanzorgien.
»Alle alten Zivilisationen entwickelten sich an Flussufern«, dozierte Mardavi weiter. »Ägypten hatte den Nil, die Sumerer den Tigris. Am Indus blühte die Indus-Zivilisation auf. Von den vierhundert antiken Städten, von denen man weiß, dass sie am Flussufer lagen, sind nur Harappa und Mohenjo-Daro ausgegraben. Die Menschen, die dort lebten, hatten ein Normgewicht und ein Schriftsystem, das nicht piktografisch war. Sie bauten mit Backsteinen und Ziegeln und verfügten über avancierte Entwässerungssysteme. Man darf sich fragen, ob diese Menschen nicht cleverer waren als wir …«
»Wann kam der Islam hierher?«, fragte ich so laut es ging, um die pakistanische Popmusik zu übertönen, die aus den vielen mitgebrachten Lautsprechern durcheinanderdröhnte.
»Im Jahr 1023, als Mahmud von Ghazni das Swat-Tal angriff«, antwortete der Archäologe. »Vor dieser Zeit waren die Menschen hier Buddhisten und Hindus. Der Buddhismus kam schon sehr früh hierher, vor mehr als tausend Jahren, und lange war Swat eines der wichtigsten Pilgerziele für Buddhisten aus der ganzen Region. Die Menschen kamen von weit hier, um von den Meistern zu lernen, die hier lebten, ja, einzelne kamen sogar aus China. Viele, ich selbst eingeschlossen, sind der Ansicht, dass Padmasambhava, auch bekannt als Guru Rinpoche, im 8. Jahrhundert hier in Swat geboren wurde. Allerdings haben wir noch nicht genau herausgefunden, wo er geboren wurde, tatsächlich ist es noch immer ein Mysterium. Padmasambhava verbreitete den tantrischen Buddhismus im Himalaya, bis Tibet und Bhutan. Sie werden ihm auf Ihrer Reise in den Bergen überall begegnen.«
Ich sehnte mich bereits zurück nach der Höhe, weg von Straßensperren, Verkehrschaos, stummen Geisterfrauen, bewaffneten Wachposten und gaffenden Männern. Die Berge waren nicht weit entfernt, noch immer konnte ich weiße Gipfel am Horizont sehen, aber zu den Bergen gehören auch Täler und Pässe; Flüsse haben dort ihre Quelle, und Städte liegen zu ihren Füßen.
Peschawar (331 Meter über N.N.) liegt südlich von Takht-i-Bahi und ist eine der ältesten Städte Südasiens. Ihre Geschichte gleicht einem Lehrbuch zentralasiatischer Dynastien: Perser, Griechen, Inder, Türken und Afghanen waren hier, Buddhisten, Hindus, Moslems, Sikhs und Christen haben hier regiert. Aufgrund ihrer Lage unmittelbar östlich des Chaiber-Passes, einer der wenigen Stellen, an denen es möglich ist, die ungastlichen Berge des Hindukusch zu überqueren, war Peschawar eine wichtige Station auf dem Handelsweg zwischen dem indischen Subkontinent und Zentralasien, und damit auch ein natürliches Ziel für einfallende Heere. Mahmud von Ghazni, der den Islam ins Swat-Tal brachte, kam zum Beispiel auf diesem Weg, und ein paar Jahrhunderte später auch Dschingis Khans Mongolenheer. Auch Alexander der Große und sein Heer ritten über den Chaiber-Pass, und obwohl Alexanders enormes Reich den Tod des mächtigen Heerführers nicht überlebte, blieb Griechisch mehrere Jahrhunderte lang die Administrationssprache in Peschawar. Viele der buddhistischen Statuen, die in dieser Periode entstanden, haben eine auffällige Ähnlichkeit mit den Götterstatuen der Akropolis.
Der notorisch schlecht gelaunte amerikanische Schriftsteller Paul Theroux beschreibt in seinem Reiseklassiker Basar auf Schienen Peschawar mit überraschend freundlichen Worten. »Ich würde gern dorthin ziehen«, schreibt er, »mich auf eine Veranda setzen, alt werden und zuschauen, wie die Sonne über dem Khaiber-Pass untergeht.« Dies sind starke Worte von Theroux.
Offenbar war in Peschawar einiges passiert, seit der amerikanische Reiseschriftsteller die Stadt in den 1970er Jahren besucht hatte. Oder vielleicht sollte man richtigerweise sagen, es war ausgesprochen wenig geschehen. Die alten Kolonialgebäude erschienen mir noch verfallener als die Häuser in der Altstadt Havannas, aber im Gegensatz zu der kubanischen Hauptstadt, wo die Zeit ganz offensichtlich stillsteht, zumindest aus architektonischer Sicht, drängen sich in Peschawar hässliche Neubauten aus Beton zwischen die Holzhäuser. In den baufälligen alten Häusern wohnen keine Menschen mehr, stattdessen werden viele von ihnen als Warenlager genutzt. Irgendwann, vielleicht sogar noch in den siebziger Jahren, als Paul Theroux durch die Basare schlenderte und davon träumte, hier alt zu werden, muss die Stadt schön und bunt gewesen sein, mit luftigen Veranden aus geschnitztem Holz und sorgfältig gearbeiteten Fassaden. Heute ertrinkt sie in verfallenen Bauten, Müll und einem faszinierend anarchischen Stromleitungsgewirr. Die Leitungen rollen sich in chaotischen Trauben umeinander, ein dickes, aggressives Spinngewebe, und es gibt so viele davon, dass sie Teil des Straßenbildes sind, eine permanente künstlerische Installation. Es ist ein Wunder, dass der Strom nicht öfter ausfällt.
Die verwinkelten Gassen im Qissa-Khwani-Basar, dem Basar der Geschichtenerzähler, waren ebenso chaotisch wie der Rest der Stadt, ein Sammelsurium von Farben und Gerüchen. Die eigentliche Auswahl an Waren hingegen war wohlgeordnet: Jede Gasse war einem bestimmten Sortiment gewidmet. In einer Straße wurden nur Küchengerätschaften verkauft, in einer anderen nur Gewürze, in einer dritten Frauenkleider. Sämtliche Verkäufer waren Männer, auch in den Geschäften, die mit Spitzenhöschen und sexy BHs lockten. Als einziger westlicher Besucher des Basars und als einzige nicht verschleierte Frau erregte ich natürlich Aufsehen. Die Verkäufer winkten und johlten freundlich, als ich an ihnen vorbeiging. In der Gasse mit den Küchengerätschaften kam ein Mann in den Vierzigern auf uns zu, nahm Akhtar beiseite und redete lange und ernst mit ihm. Aufgrund der langen Blicke, die sie mir zuwarfen, vermutete ich, dass ich Thema der Unterhaltung war.
»Was hat er gesagt?«, fragte ich, als der Mann gegangen war.
»Nichts«, erwiderte Akhtar ausweichend.
»Kommen Sie, was hat er gesagt?«
»Er war um Ihre Sicherheit besorgt«, erklärte Akhtar widerwillig. »Er meinte, es sei hier nicht sicher für Sie. Er riet uns, so schnell wie möglich von hier zu verschwinden.«
Plötzlich sah ich überall potenzielle Gefahren. Männer, die mir ein wenig zu nahe kamen, obwohl es auf dem Fußweg genügend Platz gab. Männer, die mich aus den Schaufenstern oder hinter Straßenecken hervor anstarrten. Verbargen sie Messer oder Pistolen in ihren Westen, hatten sie eine automatische Waffe neben der Kasse? An einem der zahlreichen Kontrollposten auf dem Weg in die Stadt war uns von der Polizei kostenlos eine bewaffnete Wache angeboten worden, aber ich hatte dankend abgelehnt. Durch Wachen würde ich nur noch mehr auffallen, als ich es ohnehin schon tat. Hatte ich einen Fehler begangen, als ich eine Eskorte ablehnte?
Am Ausgang des Basars kam ein weiterer Mann auf uns zu und begann mit Akhtar zu reden. Er hatte einen rötlichen Bart und eine dicke Brille und gestikulierte heftig.
»Er sagt, er habe einen Hindutempel im Hinterhof, und fragt sich, ob Sie ihn wohl sehen möchten?«, übersetzte Akhtar.
»Glauben Sie, es ist sicher?«
»Absolut«, erklärte Akhtar im Brustton der Überzeugung. »Er stammt aus den Bergen, wie ich. Aus Kaschmir.«
Wir gingen in den Hinterhof, wo tatsächlich ein alter Shiva-Tempel stand. Er hatte die Form einer ovalen Kuppel und war durch die Luftverschmutzung grau, beinahe schwarz; um den Tempel herum lag Müll. Genau gegenüber stand ein kleiner, glänzend weißer Sikh-Tempel, vollkommen sauber und vorbildlich instand gehalten. Die Frauen der Familie begrüßten Akhtar und mich herzlich. Keine hatte ihr Haar bedeckt, die jüngste hatte sich mit Lippenstift und Nagellack hübsch gemacht. Auf einer kleinen Erhöhung vor der Wohnung saß ein dünner, weißhaariger Mann, der von Kissen gestützt wurde. Er hieß Saeed Muhammad und war laut eigener Aussage siebzig Jahre alt, aber er musste älter sein, denn er hatte 1947 die Flucht aus Kaschmir miterlebt.
»Unser Vater führte uns hierher«, erzählte der alte Mann mit einer hellen, zitternden Stimme. »Ich war noch klein, daher erinnere ich mich nicht mehr an sehr viel. Ich wurde in Jammu geboren, im südlichen Teil von Kaschmir. Wir Moslems wurden von den Hindus umgebracht. Ich erinnere mich an die Morde, an diese Dinge erinnere ich mich. Ich weiß noch, wie traurig es war, von unserem Haus und unserem Land Abschied zu nehmen, von unserem ganzen Besitz. Abgesehen von unseren Tieren haben wir nichts mitgenommen. Auf der Flucht mussten wir uns tagsüber verbergen, wir versteckten uns an Flussufern und im Wald. Abends zogen wir langsam weiter. Die ganze Familie floh gemeinsam, meine drei Brüder, meine vier Schwestern, Onkel und Tanten. Wir sind über zwei Wochen gelaufen und gelaufen.«
Der Alte lächelte betrübt. Eine der jungen Frauen brachte uns Kekse und Tee mit Milch.
»Alle meine Geschwister sind tot«, erzählte Saeed Muhammad weiter, während er an dem dampfenden Tee nippte. »Ich bin der Einzige in der Familie, der sich noch daran erinnert, wo wir herkommen. Kaschmir ist ein Paradies. In Kaschmir trinken die Leute nicht so viel Tee wie hier, sie trinken Milch. Der ganze Tee hat meine Haut dunkler werden lassen. Ich vermisse Kaschmir jeden einzelnen Tag, das sage ich Ihnen. Es ist kühler dort, hier ist alles anders, aber wir mussten lernen, hier zu leben. Als wir hierherkamen, erhielten wir das Haus und alles, was wir brauchten, von den Paschtunen, die hier wohnten. Wir dachten, wir würden schon bald wieder nach Hause können, doch inzwischen habe ich aufgehört, daran zu glauben, Inschallah, dass es zu einer Lösung in dem Konflikt kommt. So Gott will.«
Die Teilung von Indien und Pakistan führte 1947 zu dem vermutlich größten und dramatischsten Bevölkerungsaustausch in der Geschichte der Menschheit. Punjab, eine der bevölkerungsreichsten Regionen in Indien mit einer großen Anzahl von Muslimen, Hindus und Sikhs wurde zweigeteilt. Rund vierzehn Millionen Menschen fanden sich auf der »falschen« Seite der neuen Grenze wieder und mussten Haus und Hof verlassen. Millionen von Sikhs und Hindus verließen Pakistan, während eine entsprechende Anzahl Moslems von der indischen Seite der Grenze nach Pakistan flüchtete. Die Flüchtlinge nutzten alle zur Verfügung stehenden Fortbewegungsmittel: Züge, Busse, Autos, Fahrräder, Pferde, Esel, Kamele, die eigenen Füße – und viele erreichten nie ihr Ziel. Die Anzahl der infolge der Teilung Ermordeten variiert von zweihunderttausend Toten – mit dieser Zahl operierten die britischen Behörden – bis zu zwei Millionen. Vermutlich liegt die wahre Zahl irgendwo in der Mitte.
Pakistan, der Name bedeutet »Land der Reinen«, ist seit seiner dramatischen Geburt 1947 von Unruhen geprägt. Klan-Streitigkeiten, Militärputsche, verbreitete Korruption und Grenzkonflikte mit Indien haben ihre Spuren in dem jungen Staat hinterlassen. Über die durchlässige Grenze zu dem vom Krieg zerstörten Afghanistan kamen zeitweise unkontrolliert nicht nur Flüchtlinge, sondern auch Extremisten und Waffen ins Land. Nach der sowjetischen Invasion Afghanistans 1979 strömten hunderttausend Flüchtlinge jeden Monat über den Chaiber-Pass nach Peschawar. In den 2000er Jahren, nach den Angriffen auf die Zwillingstürme in New York und der anschließenden Invasion Afghanistans – diesmal mit den USA an der Spitze –, herrschte in Pakistan inneres Chaos. Auf dem Höhepunkt 2009 kam es zu über zweieinhalbtausend Angriffen durch Terroristen und Aufständische. Über dreißigtausend Menschen, überwiegend Zivilisten, wurden bei Terrorangriffen in den letzten zwanzig Jahren in Pakistan ermordet, hauptsächlich in der unruhigen Grenzregion im Nordwesten, doch die Terroristen schlugen im ganzen Land zu. Niemand war sicher. Allein im Qissa-Khwani-Basar in Peschawar haben Extremisten 2010 und 2013 zwei große Bombenattentate ausgeführt.
Mit jedem Toten blieben verzweifelte Familien zurück. Mütter, Väter und Großeltern, Frauen, Ehemänner, Geschwister. Dazu kommen Tanten, Onkel, Kusinen, Vettern, Schulkameraden und Nachbarn – viele Hunderttausend Menschen insgesamt.
Einer der blutigsten und brutalsten Angriffe in der Geschichte des modernen Pakistan fand im Jahr 2014 statt. Am Vormittag des 14. Dezember stürmten mindestens sechs bewaffnete Terroristen eine Schule in Peschawar und ermordeten hundertzweiunddreißig Schüler.
Einer der Getöteten war der vierzehn Jahre alte Omar.
Als ich nach dem Besuch des Basars zurück ins Hotel kam, lernte ich Omars Vater kennen, Fazal Khan, einen leise sprechenden Mann mit gutmütigen Augen und einem dichten, gepflegten Bart. Von dem Moment an, wo er sich an den Tisch setzte, bis er nach exakt einer Stunde wieder aufstand, redete er ununterbrochen.
»Ich entschied mich, meinen Sohn auf die Army Public School zu schicken, weil ich davon ausging, dass es dort sicherer sei«, erzählte er auf Englisch, das er perfekt sprach, da er viele Jahre im Ausland gelebt hatte. »Die Sicherheitssituation in Pakistan war schlecht zu der Zeit, ständig explodierten Bomben. Die Army Public School war eine öffentliche, vom Militär betriebene Schule, und die Sicherheit der Schule war normalerweise gut. Zum Beispiel wurden keine Frauen in Burkas hereingelassen. Jedes Mal, wenn es etwas Besonderes gab, wenn die Kinder geimpft werden sollten oder ein Museumsbesuch anstand, mussten wir Eltern eine Genehmigung unterschreiben. Aber an dem Tag, an dem der Angriff stattfand, bekamen sie einen Erste-Hilfe-Kurs im Auditorium, ohne dass wir davon wussten. Es stand auch nicht im Jahresplan. Alles andere stand im Jahresplan, selbst die kleinsten Dinge. Normalerweise war der Erste-Hilfe-Kurs nur für die Schüler der elften und zwölften Klasse, aber aus irgendeinem Grund wurden alle Klassen einbestellt. Der Kurs begann um zehn Uhr. Viertel nach zehn griffen die Terroristen das Auditorium an. Und nun sagen Sie mir: Wie kann es sein, dass der Hauptmann, der sich im Auditorium aufhielt, das Attentat ohne eine Schramme überlebte? Ohne eine einzige Schramme? Wenn die Terroristen die Armee angreifen wollten, wäre er doch ein ausgemachtes Ziel gewesen, leicht erkennbar an seiner Uniform. Aber er kam ohne eine einzige Schramme davon …«
Ich bestellte Wasser und Tee für mich, Fazal wollte nichts. Wir waren die einzigen Gäste in dem kleinen Hotelrestaurant.
»Ich selbst bin Anwalt und vertrete nun eine Gruppe von Eltern«, fuhr Fazal fort. »Alle Eltern haben das Recht zu erfahren, was mit ihren Kindern passiert ist. Vor dem Angriff war die Polizei vom Geheimdienst gewarnt worden, dass ein Attentat bevorstehe und eine Gruppe Terroristen einen Angriff auf die Army Public School plane. Nachdem sie diese Information erhalten hatten, hätten sie die Anzahl der Wachposten verdoppeln müssen, aber stattdessen reduzierten sie ihre Anzahl von zwanzig auf zwei. Ich und die meisten anderen Eltern sind überzeugt, dass der Angriff von staatlicher Seite geplant wurde. Das Ganze ist ein Spiel. Wir hätten zumindest eine ordentliche Ermittlung erwartet. Bald sind vier Jahre vergangen, und uns ist noch immer keine Gerechtigkeit widerfahren.«
Ich weiß nicht, an wie vielen Küchentischen ich gesessen und beinahe exakt die gleichen Worte und Anklagen gehört habe, vorgetragen mit der gleichen Trauer und dem gleichen Schmerz, nur in einer anderen Sprache, in einem anderen Land. Am 1. September 2004 nahm eine Gruppe von Terroristen über tausend Schüler und Lehrer der Schule Nr. 11 in Beslan im Nord-Kaukasus als Geiseln. Am dritten Tag stürmten russische Spezialeinheiten die Schule, und über dreihundert Menschen, der größte Teil Kinder, kamen in den Kämpfen und dem Chaos um. In den folgenden Jahren verbrachte ich Wochen und Monate in Beslan, ich reiste immer wieder dorthin, und jedes Mal wurde ich in ein Zuhause eingeladen, in dem das Kinderzimmer unberührt war – Zeitkapseln einer verlorenen Kindheit, eines zerstörten Lebens. Ich begegnete Müttern, die jeden einzelnen Tag auf den Friedhof gingen; ihr Leben hatte am 3. September 2004 aufgehört, sie lebten nicht mehr, sie existierten nur noch. Einer der Väter, die ich kennenlernte, war auf den Friedhof gezogen, um jede Stunde des Tages bei seiner toten Tochter zu sein.
Pakistanische Spezialeinheiten stürmten die Army Public School eine Viertelstunde nach Beginn des Attentats, konnten aber nicht verhindern, dass die Terroraktion sich zu einem Blutbad entwickelte. Die meisten Kinder im Auditorium wurden ermordet, durchlöchert von den Maschinengewehrpatronen der Täter.
»Viele Fragen sind noch immer unbeantwortet«, unterstrich Fazal. »Die Behörden können nicht einmal sagen, wie viele Terroristen an dem Angriff beteiligt waren. Offiziell heißt es sechs, aber Kinder, die überlebt haben, nennen höhere Zahlen, von acht bis vierundzwanzig. Ich habe Proteste und Demonstrationen organisiert, nicht nur für die Opfer nach dem Angriff auf die Schule, sondern für alle Terroropfer in ganz Pakistan. Ich wende meine gesamte Zeit dafür auf – ich kann nicht mehr arbeiten, ich kann mich auch nicht mehr konzentrieren. Glücklicherweise bin ich finanziell unabhängig, sodass ich mir ums Geld keine Sorgen zu machen brauche. Die Behörden mögen mich nicht und haben mich wegen antistaatlicher Tätigkeiten angeklagt. Die Höchststrafe beträgt mehr als zehn Jahre, aber ich habe keine Angst. Unser Kampf geht weiter, auch wenn ich mich vom Optimisten zum Realisten gewandelt habe. Ich glaube nicht länger daran, dass uns Gerechtigkeit widerfahren wird, aber wir müssen es dennoch versuchen. Wir müssen alles tun, was in unserer Macht steht. Absolut alles.«
Es heißt, die Zeit heilt alle Wunden, aber ich glaube nicht mehr, dass es wahr ist. Jedes Mal, wenn ich nach Beslan zurückkehrte, ging es vielen Hinterbliebenen schlechter: Mütter waren krank geworden, deprimiert oder verbittert, Väter hatten angefangen zu trinken. Wie Fazal Khan wandten viele ihre gesamte Zeit dafür auf, Antworten auf die vielen unbeantworteten Fragen zu finden. Wie konnte es dazu kommen? Warum ist es den staatlichen Stellen nicht gelungen, es zu verhindern? Und die schlimmste Frage von allen: Hätte ich mein Kind retten können, wenn ich etwas anders gemacht hätte?
»Ich war bei Gericht, als ich von der Terroraktion hörte«, sagte Fazal leise. »Mein Bruder rief mich an und informierte mich über den Angriff auf die Schule. Ich fuhr direkt zum Krankenhaus. Möge Gott verhindern, dass er unter den Verletzten ist, dachte ich. Ich war drei Stunden im Krankenhaus, ohne Omar zu finden. Um vier Uhr nachmittags fand mein Bruder Omar in einem anderen Krankenhaus. Es war ein schwarzer Tag. Dieser Tag hat unser aller Leben verändert. Ich bin achtundvierzig Jahre alt und habe vier Kinder. Der Älteste ist jetzt vierzehn, er geht auch auf die Army Public School, wie sein großer Bruder. Wir hätten aus Pakistan wegziehen können, wir hätten die Schule wechseln können, aber das wäre feige gewesen. Mein Jüngster ist erst drei Jahre alt, er wurde zwanzig Tage nach Omars Ermordung geboren. Wir Pakistaner investieren alles in unsere Kinder, wir leben unsere Träume durch sie aus. Meine Frau weint jede Nacht. Unser Leben hat sich total verändert, die Normalität ist fort, die Routine zerstört. Wir hängen im 16. Dezember 2014 fest. Omar lächelte immer, niemand kann sich daran erinnern, ihn jemals mit schlechter Laune erlebt zu haben. Alle, die an diesem Tag starben, waren einmalig. Vor knapp einer Woche, am 19. August, wäre Omar achtzehn Jahre alt geworden. Er hat fünf Schüsse abbekommen. Ich habe noch immer die Sachen, die er an diesem Tag getragen hat. Sie liegen in einer Schublade.«
Zwei Jahre zuvor hatte Fazal ein Krankenhaus in einem armen Bezirk am Rande von Peschawar eröffnet, wo es bis dahin kein Krankenhaus gegeben hatte, und es nach seinem Sohn benannt. Das Krankenhaus steht allen offen, und diejenigen, die sich keine medizinische Betreuung leisten können, werden umsonst behandelt.
»Omar wollte Schauspieler werden, aber ich hielt das für keinen ordentlichen Beruf«, erzählte Fazal weiter. »Eines Sonntags sagte er zu mir, er wolle Arzt werden, und ich habe ihm versprochen, ein Krankenhaus für ihn zu eröffnen. Am Mittwoch, drei Tage später, war er tot.«
Die Tehrik-i-Taliban übernahmen die Verantwortung für den Terrorangriff auf die Public Army School und erklärten, er sei die Rache für eine Militäraktion der pakistanischen Armee in Nord-Wasiristan an der Grenze zu Afghanistan gewesen. Nach dem Terrorangriff wurden die militärischen Aktivitäten in der Grenzregion intensiviert. Es gibt keine exakte Zahl, wie viele Todesopfer diese Militäraktionen gefordert haben, die gern als »Säuberungsaktionen« bezeichnet werden. Im Herbst 2018, nach neun Jahren militärischen Ausnahmezustands, erklärten die pakistanischen Verantwortlichen, es sei ihnen gelungen, sämtliche Verstecke der Taliban in Swat und den dazugehörigen Gebieten zu zerstören und wieder eine zivile Lokalregierung einzusetzen. Die Anhänger der Tehrik-i-Taliban sind nun weitgehend auf die afghanische Seite der Grenze verwiesen, aber die Grenze ist noch immer durchlässig, und immer wieder knallt es irgendwo im Land der Reinen.