»Willkommen in Srinagar!« (1585 Meter über N.N.) Ein kleiner Mann mit Brille und Kugelbauch kam mir entgegen und schnappte sich meinen Rucksack. »Ich werde mein Äußerstes tun, damit Sie mit einem positiven Eindruck aus Kaschmir abreisen!«, verkündete er und hastete mit dem, was ich an Gepäck dabeihatte, davon.
Einige Wochen zuvor hatte ich über die Reiseroute in Nord-Indien kurz mit einem örtlichen Reisebüro diskutiert, dann aber entschieden, auf eigene Faust herumzufahren. Ich wollte nicht mehr dem Schema folgen, dass alles vorausgeplant war und ich nicht selbst bestimmen konnte, wo man mich unterbrachte. Javid Iqbal, der Leiter der Kaschmir-Abteilung des Reisebüros, hatte dennoch darauf bestanden, mich vom Flughafen abzuholen und mich herumzuführen.
»Ich werde mein Allerbestes tun, damit Sie einen gelungenen Aufenthalt haben und all Ihren Freunden und Verwandten erzählen, sie müssten nach Kaschmir reisen, das ist mir Lohn genug!«, beteuerte er. »Hier in Kaschmir sind wir sehr gastfreundlich. Ich sehe in Ihnen bereits eine Freundin der Familie, eine Verwandte!«
Javid war ein Jahr jünger als ich, aber der Typ, der ewig aussieht, als wäre er mittleren Alters. Er hatte bereits dünnes Haar und deutliche Falten auf der Stirn und rund um die Augen. Seine Zähne waren schief und unregelmäßig. Sein zeitloser Lieferwagen passte zu ihm. Auf der kurzen Fahrt in die Innenstadt fuhren wir an so vielen Soldaten vorbei, dass ich mit dem Zählen nicht nachkam, alle trugen Helm, Knieschützer und schusssichere Westen.
»Ich hoffe inständig, dass es Ihnen in Kaschmir gefällt«, wiederholte Javid, als wir an noch mehr schwer bewaffneten Soldaten vorbeifuhren. Der Verkehr war chaotisch, Autofahrer, Fußgänger und Motorroller kämpften um ihren Platz in den engen Straßen, ständig wurde gehupt. Überall lag Abfall, wie allerorts in Indien und Pakistan, aber die Häuser unterschieden sich von den farblosen Betonbauten, die sonst die Städte in diesem Teil der Welt prägen. Es waren Backsteinhäuser, die mit hübschen Holzschnitzereien verziert waren; an eigentlich allen Häusern sah ich sorgfältig gearbeitete Fensterrahmen und Veranden.
»Mein größter Wunsch ist, dass Kaschmir eines Tages unabhängig wird«, erklärte Javid und warf einen Seitenblick auf eine Gruppe indischer Soldaten. »Am besten mit den Scharia-Gesetzen!«, fügte er enthusiastisch hinzu.
»Sind die nicht ziemlich brutal?«, wandte ich ein.
»Aber nein, es ist ein Mythos, dass die Scharia-Gesetzgebung brutal ist«, behauptete Javid.
»Aber die Scharia beinhaltet häufig physische Bestrafung«, argumentierte ich.
»Ja, das stimmt, aber das ist auch nur gut so!«, rief Javid engagiert. »Ein Vergewaltiger, zum Beispiel, muss den Gesetzen der Scharia entsprechend in der Erde vergraben werden, sodass nur noch sein Kopf herausguckt, und dann muss er gesteinigt werden. Wenn die Leute wissen, dass sie solche Strafen riskieren, wird niemand mehr vergewaltigt. Und niemand wird mehr stehlen, weil allen Dieben eine Hand abgehackt wird!«
Javid lud mich zu sich nach Hause zum Tee ein. Er nahm mich mit ins Wohnzimmer, einen kleinen, mit Teppichen ausgelegten Raum ohne Möbel. Seine Mutter, eine freundliche Frau mit heller Haut und großen blauen Augen, wusste nicht recht, was sie tun sollte. Sie saß lächelnd da, während ich Tee trank, und jedes Mal, wenn ich die Tasse absetzte, schenkte sie nach. Zu ihrer Enttäuschung konnte ich nicht sehr lange bleiben, denn ich hatte eine Verabredung zum Mittagessen mit Sohail, einem jungen Geschäftsmann aus der Stadt, mit dem ich über einen gemeinsamen Bekannten in Kontakt gekommen war. Javid bestand darauf, mich ins Restaurant zu fahren und an dem Essen teilzunehmen.
»Ich mache mir Sorgen um Sie«, erklärte er. »Ich will diesen Mann kennenlernen, mit dem Sie sich treffen, um sicherzugehen, dass er ein guter Mann ist. Ich kenne ihn nicht, ich bin ihm noch nie begegnet, also ist es ganz normal, dass ich besorgt bin und ihn mir ansehen möchte.«
»Streng genommen kennen Sie mich auch nicht«, erwiderte ich.
»Ich habe bereits gesagt, dass Sie für mich wie eine Verwandte sind«, erklärte Javid. »Ich bin übrigens geschieden«, fügte er hinzu. »Meine Frau verließ mich, als meine Tochter erst drei Monate alt war. Ich behielt die Kleine, ihre Mutter machte sich sowieso nichts aus ihr. Das Einzige, was sie wollte, waren zweihunderttausend Rupien, und die hat sie bekommen. Direkt danach hat sie einen anderen Mann geheiratet und bekam mit ihm einen Sohn.«
»Wollen Sie wieder heiraten?«, erkundigte ich mich.
»Meine Mutter bedrängt mich jeden Tag, aber ich will mit Frauen nichts mehr zu tun haben. Mir reicht es, Vater zu sein. Meine Tochter ist jetzt neun Jahre alt und sehr gut in der Schule, sie begreift alles sehr schnell, ja, sie ist wesentlich klüger als ich! Meine Frau war besessen davon, einen Sohn zu bekommen, aber ich persönlich finde eine Tochter am besten.«
Ich mochte Sohail sofort. Er war siebenundzwanzig und trug Jeans und T-Shirt. Irgendwelche Stylingprodukte glänzten in seinem dunklen, welligen Haar. Er saß zusammen mit zwei Freunden, dem zweiunddreißigjährigen jovialen Mir Saqib und dem breitschultrigen und wortkargen sechsunddreißigjährigen Muzaffar. Alle drei betrieben Saft- und Mineralwasserfabriken im südlichen Kaschmir. Ich hatte mich noch nicht gesetzt, als Aijaz Hussain, der Vizepräsident der Parteijugend der Bharatiya Janata Party (BJP), der Partei des Ministerpräsidenten Narendra Modi, unangekündigt auftauchte und sich an unseren Tisch setzte. Obwohl alle gerade erst gekommen waren, hatte ich das Gefühl, mitten in eine erregte Diskussion geplatzt zu sein. Javid blieb sitzen und folgte mit großen Augen der Debatte – glücklicherweise mit geschlossenem Mund.
»Indien ist ein säkulares, demokratisches Land«, erklärte Aijaz engagiert. »Lasst es mich so sagen: Ein Strauß Blumen ist schöner als eine einzige Blume! Wir haben eine siebzigjährige gemeinsame Geschichte mit Indien, und viele aus Kaschmir dienen in der Armee oder studieren in Indien. Die Menschen sollen ihr Land lieben, das ist meine Meinung. Wir in der BJP wollen eine Brücke zwischen Indien und Kaschmir bauen.«
»Und was ist mit den Millionen von Menschen, die Indien ermordet hat?«, wandte Sohail. Er war bereit, sich auf die Diskussion einzulassen. »Sei so nett und antworte mir.«
»Das ist passiert, bevor wir an die Macht kamen«, parierte Aijaz. »Ich sage doch nicht, dass alles perfekt ist. Wir haben administrative Probleme. Wir kämpfen mit der Korruption. Der öffentliche Sektor ist schwach.«
»Wie steht es mit dem Verhältnis zu Pakistan?«, fragte ich.
»Normalerweise sage ich, dass wir unsere Freunde besser machen können, nicht aber unsere Nachbarn«, erwiderte Aijaz. »Wir wünschen uns eine bessere Beziehung zu Pakistan, aber wir wollen kein Teil von Pakistan werden. Pakistan ist ein muslimischer Staat. Wir sind eine Demokratie.«
»Die Minderheiten und die Schiiten fühlen sich in Indien sicherer als in Pakistan«, erklärte Sohail. »Siebzig Prozent der Bevölkerung in Kaschmir sind Sunniten. Der Rest sind Schiiten, Sikhs, Christen, Hindus und andere Minderheiten.«
»Gehören Sie einer Minderheit an?«, fragte ich Aijaz.
»Ja, ich bin Schiit. Die Vorkämpfer für die Freiheit reden immer über den morgigen Tag, aber der morgige Tag ist immer der nächste Tag, der kommt nie«, fuhr er fort. »Es ist besser, sich zum Heute zu verhalten, zur gegenwärtigen Situation.«
»In der gegenwärtigen Situation werden jeden Tag Menschen umgebracht«, wandte Sohail ein. »Vor zehn Tagen wurde ein Freund von mir in Pulwama erschossen, nicht weit von hier. Shabir Bhat hieß er, er war auch Mitglied der BJP. Drei Stunden, bevor er erschossen wurde, habe ich ihn noch getroffen. Er fragte, ob ich Geld für die Armen hätte, für das Opferfest. Er wurde sechsundzwanzig oder siebenundzwanzig Jahre alt. Man stelle sich vor, er wurde während des Eid al-Adha ermordet. Beim Opferfest opfern wir Allah Ziegen. Und seine Mutter musste ihren eigenen Sohn opfern!«
»Wer hat ihn getötet?«, wollte ich wissen.
»Hisbollah-Mudschaheddin«, antworteten die jungen Männer am Tisch im Chor.
»Sie werden von Pakistan aus gesteuert«, erklärte Somail. »Sie haben ihre Basis in Muzaffarabad, der Hauptstadt von Azad Kaschmir, dem pakistanischen Teil von Kaschmir. Alles, was hier passiert, muss erst vom Hauptquartier abgesegnet werden.«
»Pakistan ist die größte Bedrohung für Kaschmir«, sagte Aijaz. »Sie wollen die gesamte Region destabilisieren. Ein instabiles Kaschmir liegt in ihrem Interesse, nicht aber im Interesse Indiens. Auch Gilgit-Baltistan in Nord-Pakistan ist im Übrigen ein Teil von Kaschmir. Das muss meiner Ansicht nach auch indisch werden.«
»Gibt es viele hier, die Ihre Sicht unterstützen?«, wollte ich wissen.
»Die Leute denken meist mit dem Herzen, nicht mit dem Hirn«, seufzte Aijaz. »Sie sind nicht rational.«
»Er hat zwölf Leibwächter!«, lachte Sohail.
»Das ist ernst und nicht zum Lachen!«, schimpfte Aijaz. »Die Menschen in Kaschmir werden im Dunkeln gelassen. Sie verstehen nicht, dass es Leute gibt, die sich an einem Blutbad bereichern. Eine Pistole kann keinen Frieden schaffen, sie kann nur töten. Diejenigen, die glauben, Waffen könnten Kaschmir den Frieden bringen, irren sich.«
»Waren Sie jemals in Gefahr?«, fragte ich nach.
»Natürlich. Was glauben Sie, warum ich so viele Leibwächter habe? Ich wurde zwei, drei Mal angegriffen. Einmal wurden drei Terroristen vor meinem Haus erschossen. Ich habe die Leibwächter jetzt seit einem Jahr.«
»Ist es nicht anstrengend, nie allein sein zu können?«
»Nein, ich lege großen Wert auf meine Sicherheit. Um die Wahrheit zu sagen, ist es in dieser Region gefährlich. Ich weiß, dass ich riskiere, morgen ermordet zu werden.«
Wir gingen in den Garten des Cafés, und unter dem Versprechen der vollen Anonymität konnte ich mit einem der Leibwächter von Aijaz sprechen. Er hatte ein schmales Gesicht und einen Vollbart, lächelte häufig und schien verlegen zu sein. Aijaz setzte sich neben ihn, umgeben von drei weiteren Leibwächtern. Unter freiem Himmel bot er ein leichteres Ziel für eventuelle Attentäter.
»Ich bin achtunddreißig Jahre alt, bin verheiratet und habe zwei Kinder«, erzählte der Leibwächter. »Einen neunjährigen Sohn und eine dreijährige Tochter. Ich bin seit zwanzig Jahren Polizist, es gab keine andere Arbeit. Ich bin froh über diese Arbeit, aber sie ist gefährlich. Mein Bruder, der auch bei der Polizei war, wurde im Frühjahr bei einem Zusammenstoß zwischen der Polizei und Aufständischen getötet. Bei Shabir Bhats Begräbnis wurden wir mit Steinen beworfen und mussten uns zurückziehen, um zu vermeiden, dass die Situation außer Kontrolle geriet.«
»Ihre Familie muss sich große Sorgen um Sie machen.«
»Ja, meine Frau und meine Mutter rufen mindestens fünfzig Mal am Tag an, um zu hören, ob alles in Ordnung ist.«
»Möchten Sie, dass Ihr Sohn wie Sie Polizist wird?«
Er dachte lange nach.
»Es wäre gut, wenn er Polizist mit einem höheren Rang würde«, sagte er schließlich.
»Wenn Sie zwischen allen Berufen auf der ganzen Welt wählen dürften, was wären Sie am liebsten geworden?«
»Lehrer«, antwortete er und lächelte schüchtern in seinen Bart.
»Mussten Sie als Polizist schon einmal jemanden töten?«
»Ja, sicher.« Er sah mich überrascht an. »Es gilt als ›unbeabsichtigter Verlust‹, aber ist kein gutes Gefühl.«
»Was halten Sie vom Kaschmir-Konflikt? Würden Sie lieber in einem ein Teil von Pakistan leben, bei Indien bleiben oder die Unabhängigkeit wählen?«
»Die Unabhängigkeit.« Er blickte auf seine Schuhe. »Weil die Menschen in Kaschmir leiden«, fügte er leise hinzu. Dieser Kommentar, der ironischerweise vom Leibwächter eines der lokalen Führer der indischen Regierungspartei kam, führte dazu, dass der gesamte Tisch in brüllendes Gelächter ausbrach.
»Glauben Sie, Sie werden ein freies Kaschmir erleben?«, fragte ich ihn schließlich.
»Nein.« Die Antwort kam prompt. »Die Situation hat sich seit 1947 nicht verändert. Und ich glaube nicht, dass sie sich verändern wird.«
Wie Kaschmir ein Teil Indiens wurde, ist eine komplizierte Geschichte.
Als die muslimischen Kriegsherren aus Zentralasien im 14. Jahrhundert nach und nach Nord-Indien unterwarfen, war Kaschmir hauptsächlich von Hindus und Buddhisten bewohnt. Im Laufe der nächsten Jahrhunderte konvertierte nahezu die gesamte Bevölkerung zum Islam. Im 18. Jahrhundert geriet Kaschmir unter die brutale Herrschaft der afghanischen Durrani-Könige, und 1819 wurde Kaschmir von Ranjit Singhs Sikh-Heer annektiert, das bereits Lahore und große Teile von Punjab erobert hatte.
Dank des fähigen Heerführers Gulab Singh wuchs Kaschmir unter dem Sikh-Reich beträchtlich. Im Norden, an der Grenze zu Tibet, wurde Ladakh ein Teil Kaschmirs, ebenso wie Baltistan im Nordwesten, im heutigen Pakistan. Gulab Singh selbst war kein Sikh, sondern Hindu, er stammte aus einer Familie in Jammu, die Dogri sprach. Als Belohnung für seinen Einsatz wurde er von Ranjit Singh zum Fürsten über ganz Jammu und Kaschmir ernannt.
Als Ranjit Singh 1839 starb, brach das gewaltige Reich, das er geschaffen hatte, augenblicklich auseinander. Sechs Jahre nach seinem Tod führte die Britische Ostindien-Kompanie Krieg gegen die Sikhs, wenige Monate später war das Sikh-Reich Geschichte. Die Briten hatten jedoch kein Interesse, direkt über die neuen Territorien zu regieren, die sie erobert hatten. Gulab Singh, der Fürst von Jammu und Kaschmir, hatte sich während des Krieges zurückgehalten und als Vermittler zwischen Briten und Sikhs nützlich gemacht. Als Belohnung ließen die Briten ihn die Gebiete zurückkaufen, die er regiert hatte. So kam es, dass Gulab Singh der erste Maharadscha, der erste Großkönig von Jammu und Kaschmir wurde, dem größten Vasallenstaat Britisch-Indiens.
Als Gulab Singh 1857 starb, wurde sein Sohn Ranbir Maharadscha, und unter seiner Herrschaft wurden auch Gilgit, Hunza und Nagar im heutigen Nord-Pakistan Teile von Kaschmir. Die Briten interessierten diese lokalen Expansionen an der Peripherie ihres Reiches nicht, da ohnehin ganz Indien unter britischer Herrschaft stand.
Die Singh-Familie oder die Dogra, wie ihre Mitglieder normalerweise bezeichnet werden, beherrschte einen komplexen Außenposten Indiens: In Jammu im Süden stellten die Hindus die Mehrheit, außerdem bestand ein bedeutender Teil der Bevölkerung dort aus Sikhs. In Kaschmir waren sunnitische Moslems in der Mehrheit, während im Norden, im dünn besiedelten Ladakh, Buddhisten den größten Anteil der Bevölkerung stellten. In Gilgit und Hunza im Nordwesten bestand die Bevölkerung hauptsächlich aus schiitischen Muslimen.
1947 saß die vierte Generation Singh, Hari Singh, auf dem Thron von Jammu und Kaschmir. Er war vor allem für seinen enormen Verbrauch von Geld und Frauen bekannt, doch in diesem Jahr sah er sich mit einer Wahl konfrontiert, die seinen Nachruhm prägen sollte: Als Maharadscha eines unabhängigen Fürstentums konnte er persönlich entscheiden, ob Jammu und Kaschmir künftig zu Pakistan oder zu Indien gehören sollten. Da die Mehrheit der Bevölkerung aus Muslimen bestand, wäre Pakistan die natürliche Wahl gewesen. Hari Singh hoffte jedoch, die Unabhängigkeit behalten zu können und vertagte die Entscheidung immer wieder. Der Maharadscha war jedoch ausgesprochen unbeliebt wegen der hohen Steuern, die er der Bevölkerung auflegte, und im westlichen Kaschmir kam es zu Unruhen. Nach einigen Wochen erklärten die Demonstranten, sie würden sich nicht länger von Hari Singh regieren lassen und ernannten eine eigene Regierung. Dieser Teil von Kaschmir gehört heute unter dem Namen Azad Kaschmir, Freies Kaschmir, zu Pakistan.
Die Situation wurde erst recht bedrohlich, als eine große Gruppe bewaffneter Paschtunen aus dem westlichen Pakistan – unterstützt durch die pakistanischen Verantwortlichen – die Grenze überschritten, um den Dschihad, den Heiligen Krieg, gegen die Ungläubigen zu führen und den Maharadscha zu zwingen, Jammu und Kaschmir zu einem Teil Pakistans zu machen. Die Invasion hatte allerdings die entgegengesetzte Wirkung: Ein verzweifelter Hari Singh bat Indien um Hilfe, den Aufstand niederzuschlagen, und unterschrieb am 26. Oktober 1947 die Vereinbarung, die Kaschmirs Schicksal besiegelte.
Jammu und Kaschmir waren nun offiziell ein Teil Indiens.
Es war dunkel geworden, als Javid mich an den Nigeen-See fuhr, den friedlichsten See in Srinagar. Ein Shikara-Führer erwartete mich an der Brücke und fuhr mich über den See zu dem Hausboot, auf dem ich schlafen sollte. Shikaras, eine weniger luxuriöse Ausgabe der venezianischen Gondeln, sind das eigentliche Symbol von Srinagar. Wie in Venedig steht der Führer hinten mit einem Ruder, mit dem er sowohl rudert wie steuert. Bevor wir aufbrachen, versprach Javid, am nächsten Morgen zurückzukommen, um mir die schönsten Stellen von Srinagar zu zeigen. Das Motorengeräusch seines zeitlosen Lieferwagens entfernte sich immer weiter, und schließlich waren nur noch Zikaden und Ruderschläge zu hören. Der Mond spiegelte sich in der blanken Wasseroberfläche.
Srinagar ist bekannt für seine Hausboote, ein Erbe der Briten, die im Sommer nach Kaschmir kamen, um zu jagen, zu fischen und sich in dem relativ kühlen Bergklima zu entspannen. Der Maharadscha gestattete keinem Menschen, der nicht aus Kaschmir stammte, Boden oder Häuser in Kaschmir kaufen, daher waren Hausboote die Lösung. In der Zeit der Briten wurden einzelne Hausboote auch zum Transport benutzt, doch heute sind die allermeisten Schiffe als schwimmende Hotels fest vertäut.
»Warum kommen Sie so spät?«, fragte mich Ajaz, der Sohn des Bootsbesitzers, der an Deck stand, um mich zu empfangen. »Der Bootsführer hat viele Stunden gewartet. Sind Sie sich darüber im Klaren, wie viel das kostet?«
Er zeigte mir meine Kajüte und erklärte mir, das Abendessen sei bald fertig. Ich war der einzige Gast und hatte das ganze Hausboot für mich. Die Kajüte war eine Zeitkapsel mit roter Auslegeware, dekoriert mit geblümten Gardinen und hundert Jahre alten Schwarz-Weiß-Fotos. Wenig hatte sich verändert, seit vornehme Briten hier Urlaub gemacht hatten.
Jetzt hält sich in Kaschmir so gut wie niemand mehr auf, um sich zu erholen. Als 1989 die Aufstände gegen Indien aufflammten, sank die Zahl internationaler Touristen rasant. 1995 wurden sechs westliche Touristen, die es dennoch gewagt hatten zu kommen, von islamistischen Terroristen gekidnappt – und prompt war der Konflikt in Kaschmir weltweit auf den Titelseiten der Zeitungen. Ein Norweger, Hans Christian Ostrø, gehörte zu den Gekidnappten. Dem Siebenundzwanzigjährigen wurde nach anderthalb Monaten in Gefangenschaft der Kopf abgeschlagen. Eine Geisel konnte fliehen, während die übrigen vier vermutlich erschossen wurden. Die meisten westlichen Länder warnen ihre Bürger noch immer vor einer Reise nach Kaschmir.
Nach anderthalb Stunden klopfte Ajaz an die Tür und verkündete, das Abendessen sei fertig. Der Speisesaal war klein und gemütlich, mit Möbeln aus hellem Holz und schönen Schnitzereien. Ajaz setzte sich auf einen Stuhl und sah mir beim Essen zu.
»Stimmt es, dass der amerikanische Präsident Roosevelt hier gewohnt hat?«, fragte ich. Im Internet hatte ich irgendwo gelesen, dass Roosevelt auf genau diesem Hausboot zu Gast gewesen war; deshalb hatte ich hier eine Kajüte bestellt. Ich hatte gehofft, den Hauch der Geschichte in den Wänden zu spüren.
Ajaz strahlte, er holte ein gerahmtes Bild von der Anrichte.
»Dies ist eine Kopie des Dankschreibens, das der amerikanische Präsident meinem Großvater geschickt hat«, erklärte er. »Er hat 1925 einen ganzen Monat hier gewohnt.«
Da Präsident Roosevelt 1919 gestorben war, musste es sich um seinen ältesten Sohn handeln, Theodore Roosevelt jr., der es nie so weit wie sein Vater gebracht hatte. Der Brief war auch unterzeichnet von seiner Frau Eleanor Butler Roosevelt und zwei anderen Roosevelts, deren Vornamen ich nicht eindeutig entziffern konnte.
Ich dankte Ajaz, dass er mir das Dankschreiben gezeigt hatte, und zog mich in meine Kabine zurück, satt von Jasminreis, Curry, britischer Geschichte und indischer Politik. Abgesehen vom intensiven Zirpen der Zikaden am Ufer war es ganz, ganz still auf dem Hausboot.
Sehr früh am Morgen, es war noch dunkel, kletterte ich an Bord der Shikara, die bereits auf mich wartete. Der Bootsführer ruderte mich schweigend über den See. Von einer Handvoll naher und ferner Moscheen erklangen die ersten Gebetsrufe des Tages. Das Boot glitt friedlich übers Wasser, unter einer Brücke hindurch und durch schmale Wasserläufe, die von Lotusblumen und Wasserlilien bekränzt wurden. Auf der Suche nach etwas zu essen, trippelten Enten und kleine Vögel auf den großen grünen Blättern umher.
»Ist es in Ordnung, wenn ich bete?«, fragte der Bootsführer. Ich nickte, selbstverständlich, und er begann, gedämpft zu murmeln, wobei er mehrfach kniete und wieder aufstand. Der Himmel änderte seine Farbe von schwarz zu grau, bevor er langsam bläulich, dann goldenrot und schließlich milchig weiß wurde. Ein neuer Tag brach an, und als der Bootsführer sein Gebet beendet hatte, ging die Fahrt weiter durch Blumen und schwimmende Gärten. Srinagars berühmte schwimmende Gärten bestehen aus Unkraut und Wurzeln, die miteinander verflochten sind, bis sie eine Art schwimmende Matte bilden, die ungefähr einen Meter dick ist und auf der man von Melonen bis Gurken alles anbauen kann. Britische Offiziere berichteten seinerzeit häufig von Beschwerden der Einheimischen, Diebe hätten ihre Gärten abgeschleppt und ihre Ernte sei geplündert worden.
Kurz nach sechs Uhr, als es richtig hell geworden war, hatten wir den schwimmenden Gemüsemarkt erreicht. Die Gärtner und Bauern waren im Morgengrauen von nah und fern mit Shikaras voller Zwiebeln, Kohl, Salat, Gurken und anderem Gemüse herbeigerudert, das sie in ihren schwimmenden Gärten geerntet hatten. Sie verkauften es nun an Gemüsehändler, die es an Hausfrauen und Restaurants in Srinagar weiterverkauften. Überall wurde gehandelt und verhandelt, Geldbündel wechselten die Hände, und Gemüse wurde von einem Holzboot zum anderen verladen.
Eine Handvoll Verkäufer hatten sich auf die Touristen spezialisiert, die hin und wieder den Weg hierherfanden, und ruderten eifrig auf mich zu. Ein älterer, weißhaariger Mann verkaufte Kahwah, eine Spezialität in Kaschmir. Das Getränk besteht aus grünem Tee mit gehackten Mandeln, der mit Safran und Zimt gewürzt und mit Honig gesüßt wird. Ich kaufte eine Tasse für den Bootsführer und eine für mich; das süße, heiße Getränk schmeckte ebenso golden wie der Sonnenaufgang, den ich gerade erlebt hatte. Ein ernster junger Mann mit einem schmalen, kantigen Gesicht versuchte, mir Pappmaché-Figuren zu verkaufen. Sein Kamerad, der deutlich fröhlicher zu sein schien, lockte mit kleinen Safran-Dosen.
»Pappmaché ist leicht, es wiegt nichts, ein perfektes Geschenk, um es im Gepäck mitzunehmen!«, erklärte der Pappmaché-Verkäufer, der Amir hieß, wie ich später erfuhr.
»Safran aus Kaschmir nimmt überhaupt keinen Platz weg und ist auf der ganzen Welt berühmt!«, argumentierte sein Freund, dessen Namen ich nicht erfuhr.
Wir diskutierten eine Weile über Pappmaché und Gewürze. Die beiden Freunde übertrafen einander im Anpreisen ihrer Waren, deren Vorzüge überhaupt kein Ende nehmen wollten.
»Ziehen Sie Pakistan, Indien oder die Unabhängigkeit vor?«, fragte ich schließlich, um das Gespräch in eine andere Richtung zu lenken.
»Die Unabhängigkeit, ganz klar.« Amir benötigte keine Bedenkzeit. »Ich will, dass Kaschmir frei ist, so wie früher. Die Inder töten uns. Seit 1947 haben sie Millionen umgebracht! Indien ist außerdem ein Land von Vergewaltigern, sie vergewaltigen dort Frauen als Gruppe. Die Pakistaner sind nicht viel besser, sie sind nur an unserem Boden interessiert, genau wie die Inder. Pakistan bedeutet im Übrigen Stillstand. Sie haben nicht begriffen, dass wir im 21. Jahrhundert leben und Frauen frei sein müssen.«
»Apropos Frauen«, sagte ich. »Was ist die übliche Form der Ehe hier in Kaschmir. Arrangierte Ehen oder Liebesheiraten?«
»Wir arrangieren Liebesheiraten«, lachte der Safranverkäufer.
»Ich glaube nicht an die Liebe«, erklärte Amir mit düsterem Blick. »Ich hatte einmal eine schlechte Erfahrung mit einem Mädchen. Ganz schlecht. Ich habe nur geweint, als es vorbei war. Nie wieder Liebe. Nie wieder! Die Liebe ist nichts für mich.«
Einer, der an die Liebe geglaubt haben muss, war der Großmogul Jahangir, der Anfang des 17. Jahrhunderts seiner Königin Nur Jahan, was so viel bedeutet wie »Licht der Welt«, einen Liebesgarten schenkte. Srinagar ist bekannt für seine üppigen persischen Gärten, und Shalimar Bagh, der Garten, den Jahangir anlegen ließ, ist möglicherweise der schönste. Shalimar bedeutet »Heim der Liebe« auf Sanskrit, während Bagh das persische Wort für »Garten« ist.
Jahangir war der Sohn des Großmoguls Akbar, der Kaschmir 1586 annektierte. Jahangir war so begeistert von Kaschmir, dass Srinagar seine Sommerhauptstadt wurde. Jedes Jahr überquerte Jahangir mit dem gesamten Hof und dem Staatsapparat auf Elefanten die Berge, um einige Monate im Shalimar Bagh zu verbringen, umgeben von Bäumen, Blumen und Springbrunnen – und dem Himalaya als Hintergrund. Im obersten Pavillon soll er ein Zitat eingraviert haben lassen, das normalerweise dem Poeten Hazrat Amir Chusrau zugeschrieben wird: »Wenn es ein Paradies auf Erden gibt, ist es hier, ist es hier, ist es hier.« Auf dem Totenlager soll Jahangir nach seinem größten Wunsch gefragt worden sein. »Kaschmir, der Rest ist wertlos«, soll er geantwortet haben.
Der Garten war eine ganz kleine Welt für sich, mit Springbrunnen, Kanälen und den für Kaschmir typischen schlanken, eleganten Bäumen, wie ich sie noch nie gesehen hatte; außerdem gab es gepflegte Beete mit Rosen und bunten Blumen. In einem kleinen Wasserbecken mit einem »Baden verboten«-Schild plantschten kleine Jungen und Mädchen munter im Wasser. Auf den offenen Rasenflächen saßen Familien und Freunde, tranken Tee und plauderten. Hinter einem Baum, der prachtvolle rosafarbene Blüten trug, standen vier Männer und bedrohten einander mit erhobenen Fäusten und roten angespannten Gesichtern.
»Worum streiten sie?«, fragte ich Javid, der sein Versprechen gehalten hatte und mir die schönsten Orte von Srinagar zeigte.
»Ich weiß es nicht«, erwiderte er und zuckte die Achseln. »Vielleicht um Tee.« Er zwinkerte mir zu. »Was wollen Sie jetzt sehen?«
»Das Grab von Jesus«, antwortete ich.
Javid seufzte.
»Das wollen alle sehen«, sagte er.
Die Theorie, dass Jesus nicht am Kreuz starb, sondern in Srinagar begraben liegt, wurde von dem selbst ernannten Propheten Mirza Ghulam Ahmad 1899 lanciert. Ahmad behauptete, er selbst sei die Inkarnation des christlichen Messias und des Mahdi, einer Erlösergestalt, von der die Muslime glauben, sie würde auf der Erde erscheinen und die Menschen von Bosheit und Tyrannei befreien. Ahmad begründete die nicht sonderlich angesehene Ahmadiyya-Sekte, die heute mehrere Millionen Anhänger hat, aber von anderen muslimischen Glaubensgemeinschaften nicht anerkannt wird. Abgesehen von seinen Reisen in der Punjab-Provinz, um Anhänger zu gewinnen, schrieb Ahmad über neunzig Bücher – unter anderem Jesus in Indien, in dem er behauptet, Jesus hätte die Kreuzigung überlebt und wäre nach Kaschmir geflohen, wo er mit einhundertzwanzig Jahren eines natürlichen Todes starb. Laut Ahmad liegt Jesus in Roza Bal, der Grabstätte im Zentrum von Srinagar begraben.
Das umstrittene Grab lag in einem vernachlässigten weiß gekalkten Haus. Da das Tor verschlossen war, musste ich mich mit einem kurzen Blick durch ein Gitterfenster auf den mit einem grünen Tuch bedeckten Sarkophag begnügen. Vor dem Eisentor hing ein Schild, auf dem die Koranverse 4:157-159 auf Arabisch und Englisch wiedergegeben wurden: »Und weil sie [die Juden] sprachen: ›Siehe, wir haben den Messias Jesus, den Sohn der Maria, den Gesandten Allahs getötet‹ – doch sie töteten ihn nicht und kreuzigten ihn nicht (zu Tode), sondern es erschien ihnen nur so – (darum straften Wir sie). Und siehe, diejenigen, die darüber uneins sind, sind wahrlich im Zweifel über ihn. Sie wissen nichts davon, sondern folgen nur Vermutungen. Und sie töteten ihn mit Gewissheit nicht. Ganz im Gegenteil: Allah erhöhte ihn zu Sich; und Allah ist mächtig und weise.«
Offiziell liegt Yuz Asaf, ein muslimischer Sufi-Heiliger aus dem Mittelalter, in Roza Bal begraben, aber Millionen von Menschen, und durchaus nicht nur Ahmadiyya-Anhänger, glauben, Yuz Asaf sei nur ein anderer Name für Jesus von Nazareth. Nachdem Lonely Planet 2010 diese Theorie erwähnte, wurde Roza Bal ein populärer Wallfahrtsort für die wenigen Touristen, die es wagen, Kaschmir zu besuchen – zur Freude der Ladenbesitzer in der Nachbarschaft, die vermutlich für das Schild mit dem Koranzitat verantwortlich sind.
Javid sah auf die Uhr.
»Es ist noch nicht zu spät«, erklärte er. »Wir haben noch Zeit, den schwimmenden Markt zu besuchen, wenn Sie wollen.«
Wir fuhren zum Hafen, und Javid verhandelte lange mit einem der Bootsführer über den Preis unseres Ausflugs. Als sie sich endlich einig waren, nahmen wir in dem schmalen Holzboot auf weichen Kissen Platz. Noch einmal glitt ich in ein Netzwerk aus schwimmenden Handelsgassen, nur war es diesmal eine ganze Stadt im Wasser. Kleine Kioske, Eisenwarenhändler, Geschäfte mit Waren des alltäglichen Bedarfs, Kaffee und Souvenirläden standen auf Holzflößen, die lange Gassen bildeten, die nur von Booten aus zugänglich waren. Javid bat den Bootsführer, vor einem Pappmaché-Laden zu stoppen, und ich ging hinein und schaute mir die sorgfältig gearbeiteten Figuren ein paar Minuten lang höflich an, bevor ich wieder zur Tür ging.
»Gefällt Ihnen hier wirklich nichts?«, fragte Javid.
»Ich kann keine großen Pappmaché-Figuren in meinem Rucksack mitnehmen«, erklärte ich ihm. »Er ist ohnehin schon voll genug.«
»Wir versenden sie in jedes Land der Welt«, versuchte es der Verkäufer, der die Diskussion verfolgt hatte.
»Was ist zum Beispiel hiermit?« Javid zeigte auf eine grelle Vase.
Ich schüttelte entschieden den Kopf und setzte mich wieder auf die weichen Kissen. Nach ein paar Minuten bat Javid den Bootsführer erneut zu halten, diesmal vor einem Geschäft, das sich auf Schals spezialisiert hatte.
»Unsere Pashmina-Schals sind die besten der Welt«, behauptete Javid und lächelte. »Sie nehmen auch nicht viel Platz weg im Rucksack. Viele Touristen kaufen hier Schals, sie sind ausgesprochen beliebt.«
Gehorsam ging ich hinein und wurde herzlich willkommen geheißen von zwei Verkäufern, einem alten und einem jungen. Der jüngere begann sofort, Schal um Schal vor mir auszubreiten. Es gab sie in allen erdenklichen Farben und Mustern; einige waren so weich, dass sie wie eine zweite Haut über der Schulter lagen.
»Sie haben Glück«, erklärte der junge Verkäufer. »Der Herr, mit dem Sie hier sind, sagt, er nimmt keine Provision. Er möchte, dass Sie den besten Preis bekommen, daher bin ich bereit, Ihnen ein gutes Angebot zu machen. Normalerweise bezahlen wir zwanzig Prozent Provision an die Guides und Bootsführer, denn wir sind abhängig davon, dass sie ihre Kunden hierherbringen, aber da dieser Mann darauf verzichtet, fällt die Vermittlungsprovision weg.«
Schals aus Kaschmir sind tatsächlich auf der ganzen Welt berühmt, und in einem Anfall von Inspiration entschied ich, meine Weihnachtseinkäufe vorzuziehen. Der Verkäufer strahlte und präsentierte einen Schal nach dem anderen für die ganze Familie. Javid handelte für mich energisch die Preise herunter – auf Englisch, sodass ich mich an den Verhandlungen beteiligen konnte. Wie Projektile flogen die Zahlen zwischen ihm und dem Verkäufer hin und her: 9700, 9500, 9450, 9300, 9150, 9000 … Letztes Angebot, nein, komm schon, mach ihr einen guten Preis, sieh mal, sie ist heute eure erste Kundin, aber ich muss doch auch leben, ich kann nicht mit leeren Händen dastehen, oh, komm schon, sie hat nicht so viel Geld, 8800, 8750, 8700 … Am Ende waren sie sich schließlich einig und sahen mich erwartungsvoll an. Ich fand den Preis in Ordnung und bezahlte die Summe, auf die sie sich verständigt hatten. Feierlich legte der Verkäufer meine Schals zusammen und übereichte sie mir, dann verschwanden er und Javid hinter einem Vorhang in einen Nebenraum. Ich stand auf und folgte ihnen.
»Bleiben Sie sitzen, er zeigt ihm nur die Toilette!«, rief der alte Verkäufer, der bisher kein Wort gesagt hatte. Ich hörte nicht auf ihn, zog den Vorhang beiseite und sah gerade noch, wie der Verkäufer Javid ein Bündel Geldscheine überreichte.
»Wir tauschen nur unsere Visitenkarten aus!«, erklärte Javid mit einem breiten Lächeln.
»Ja, ich wollte diesem ehrlichen Mann meine Visitenkarte geben, damit er auch mit anderen Touristen hierherkommen kann«, bestätigte der Verkäufer mit einem ebenso breiten Lächeln. Er begleitete uns auf die Anlegebrücke, um ein letztes Mal meine Hand zu ergreifen.
»Sie können sich glücklich schätzen mit diesem ehrlichen Mann, der keine Provision nimmt«, wiederholte er, als ich in die Shikara stieg. »Ich weiß nicht, warum er das tut, aber Sie haben wirklich Glück.«
Ein Wachposten schloss das Tor auf, und eine Haushaltshilfe öffnete die Eingangstür und führte mich in das mit Diplomen und Auszeichnungen geschmückte Empfangszimmer. Nach einer Weile kam Nayeema Mahjoor die Treppe hinunter. Bis die regionale Regierung sich vor einigen Monaten aufgelöst hatte, war sie für die PDP, die People’s Democratic Party, die Vorsitzende der Frauenkommission des Bundesstaates gewesen. Sie sprach langsam und artikuliert, ohne je den Faden zu verlieren – man merkte, dass sie eine zwanzigjährige Erfahrung als Rundfunkjournalistin hatte. Wie die meisten guten Journalisten redete sie lieber über andere und die generelle Situation als über sich selbst.
»Wir sitzen noch immer im Jahr 1947 fest«, sagte sie. »Dieser Konflikt ist noch nicht gelöst. Indien war uns gegenüber nicht ehrlich. Der Paragraf 370 sollte Jammu und Kaschmir eine gewisse Autonomie und ein eigenes Grundgesetz sichern, aber der Paragraf wurde systematisch ausgehöhlt, und die regionalen Regierungen waren von Indien eingesetzte Marionettenregierungen.«
Die Haushaltshilfe servierte Kekse und Tee.
»Haben Sie Fox News gesehen?«, erkundigte sich Nayeema. »Hier in Indien haben wir nur Fox-Sender. Die indische Obrigkeit hat nichts als Chaos und Misstrauen geschaffen. In den letzten Jahren hat die Regierung Modi einen konfrontativen Kurs gefahren: Modi oder nichts. Es gab eine Reihe von Razzien und Massenverhaftungen, genau wie in den 1990er Jahren. Viele Tausend Menschen haben durch Modis Gummigeschosse ihr Sehvermögen verloren, durch diese sogenannten nichttödlichen Waffen, die von den Soldaten gegen Demonstranten eingesetzt werden. Wir haben eine eigene Abteilung des Militärs hier, die AFSPA[1] , die können machen, was sie wollen, sie werden nie für irgendetwas zur Verantwortung gezogen. Sie können vergewaltigen und töten, ohne dass es irgendwelche Konsequenzen hätte. Sie ahnen ja nicht, wie viele Vergewaltigungen es gibt. In den siebziger Jahren trug hier keine Frau einen Schleier, aber jetzt sind fast alle verschleiert. Ich glaube nicht, dass es etwas mit religiöser Radikalisierung zu tun hat, sie versuchen nur, sich vor den Blicken der Soldaten zu schützen.«
Nayeema seufzte.
»Kaschmirs Frauen verlieren ihre Söhne, ihre Ehemänner, ihre Väter. Egal, ob sie für die Sicherheitsdienste arbeiten oder Aufständische sind, die Frauen haben die ganze Zeit Angst, dass den Männern etwas zustößt. Laut einer Untersuchung haben fünfundsechzig Prozent der Frauen in Kaschmir psychische Probleme. Als die Gewalt ihren Höhepunkt erreichte, konnten viele junge Mädchen nicht mehr zur Schule gehen. Reproduktive Gesundheit ist ebenfalls ein Problem. Viele Frauen mussten sich die Gebärmutter entfernen lassen, nicht selten als Folge einer Vergewaltigung. Ein anderes großes Problem ist die häusliche Gewalt. Die Männer lassen ihre aufgestaute Frustration über die Situation innerhalb ihrer eigenen vier Wände an den Frauen aus.«
»Haben Sie als emanzipierte Frau selbst Schwierigkeiten in einer von Männern dominierten Gesellschaft gehabt?«
»Oh mein Gott, ja! Wir waren viele Schwestern, und mein Vater war ein gebildeter Mann. Er hat uns jederzeit unterstützt. Er war liberal, aber unsere Verwandtschaft war leider längst nicht so. Als ich sieben Jahre alt war, spielte ich ein kleines Mädchen in einem Hörspiel im Radio. In meiner Familie löste das ein Erdbeben aus. Ich musste mich entweder von meiner Familie oder vom Radio verabschieden, wurde mir erklärt. Ich war klein und fragte meinen Vater: ›Was soll ich tun, was möchtest du?‹ Er antwortete: ›Sagen wir der Familie auf Wiedersehen, denn was wird als Nächstes kommen? Dass ihr nicht aufs College gehen dürft?‹ Er fügte hinzu, ich solle ihm versprechen, im Leben mein Bestes zu tun und meine Möglichkeiten nicht zu verschwenden. Wir Kinder haben seinen Wunsch alle befolgt. Meine Schwestern sind Ärztinnen und Regisseurinnen. Ich habe zweiundzwanzig Jahre für BBC World gearbeitet, ich bin also beim Radio geblieben, kann man sagen.«
»Haben Sie heute noch Kontakt zum Rest Ihrer Familie?«
»Nein. Einige meiner Schwestern haben sich mit ihnen versöhnt, aber ich nicht. Ich habe eine neue Familie bekommen, eigene Freunde. Ich arbeite für das Volk in Kaschmir, für alle hier, die mich brauchen. Sie sind meine Familie. Vor drei Jahren bin ich von London hierhergezogen, und in diesen drei Jahren hat sich die Situation noch einmal verschlimmert. Nun warten alle auf 2019 und die Wahlen. Gott möge verhindern, dass Modi wiedergewählt wird, aber wir müssen auf das Schlimmste vorbereitet sein. Vor drei Jahren habe ich ein Buch herausgegeben, das Lost in Terror hieß. Im Augenblick arbeite ich an einem neuen Buch. Es soll Lost in Peace heißen.«
»Weshalb haben Sie Bodyguards?«, fragte ich, als die mir zugestandene Zeit vorbei war.
»Als ich anfing, für die Regierung zu arbeiten, wurden sie mir zugeteilt«, erklärte Nayeema. »Normalerweise nehme ich sie nicht mit, wenn ich ausgehe. Allein bin ich sicher. Wenn sie dabei sind, bin ich ein Ziel.«
Sie stand auf und begleitete mich zur Tür.
»Mich in der Politik zu engagieren, war der größte Fehler, den ich begangen habe«, sagte sie, als wir uns verabschiedeten. »Ich glaube nicht mehr an politische Lösungen in Kaschmir.«
Sohail und Muzaffar, die beiden Mineralwasserfabrikanten, die ich am Vortag kennengelernt hatte, waren wie Javid entschlossen, meine persönlichen Guides in Srinagar zu sein. Javid zeigte mir die Touristenattraktionen und Geschäfte, Sohail und Muzaffar stellten mir Politiker und Aktivisten vor.
Nach dem Besuch bei Nayeema fuhren sie mich zum Büro von Khurram Parvez, einem der bekanntesten Menschenrechtsaktivisten in Kaschmir.
»Mein Leben ist gerade bedroht worden«, sagte Sohail auf dem Vordersitz. Er lachte nervös und sprach schnell und hektisch. »Ein paar Extremisten haben eine Tonaufnahme auf YouTube veröffentlicht, in der sie Fabrikbesitzer bedrohen, die weibliche Angestellte haben. Sie geben uns drei Tage, um sie zu entlassen. Mit Ausnahme der Fahrer habe ich nur weibliche Angestellte, insgesamt zehn! Die Situation ist hoffnungslos.«
Er schüttelte resigniert den Kopf.
»Meine Schwester ist mit einem Mann verheiratet, der sich nicht von ihr scheiden lassen will, obwohl er drei andere Frauen geheiratet hat! Ich bin zu Muftis und Imamen gegangen, aber niemand will mir helfen, alle sagen, der Islam lässt es zu, dass ein Mann vier Frauen haben kann, und der Mann meiner Schwester lebt in Übereinstimmung mit dem Islam. Meiner Meinung nach ist der Islam voller intellektuellen Nonsens! Wahrscheinlich bin ich die Person in Kaschmir, die am härtesten von dem Konflikt betroffen ist«, fügte er düster hinzu. »Ich kann den Islam nicht kritisieren, denn dann drohen die Mullahs, mich zu töten. Ich kann auch nichts Lustiges tun. Ich darf keine weiblichen Angestellten haben. Alles ist hier verboten! Wäre Kaschmir ein Teil Pakistans, wäre ich längst tot, dank Indien haben wir zumindest eine Art Minimum an Demokratie und Meinungsfreiheit. Ich kann sagen, was ich will – obwohl ich riskiere, ermordet zu werden …«
»Warum ziehen Sie nicht einfach weg aus Kaschmir?«, fragte ich. »Würde dadurch nicht alles viel einfacher werden?«
»Nein, nein, das geht nicht«, seufzte Sohail. »Meine Familie lebt hier. Meine Fabrik ist hier. Ich kann nicht einfach weg. Aber wenn Kaschmir frei wird und sich selbst überlassen ist, bin ich der Erste, der fortzieht, darauf können Sie sich verlassen!«
Khurram Parvez empfing uns in einem winzigen Büro in einem flachen, einfachen Wohnblock. Ich streckte meine Hand zum Gruß aus, bekam aber erst mal eine Gardinenpredigt.
»Sie müssen in Kaschmir vorsichtiger sein! Journalisten, deren Papiere nicht in Ordnung sind, werden deportiert – erst kürzlich wurde ein französischer Journalist verhaftet, der nur ein Touristenvisum hatte. Unglaublich, dass Sie mich von Ihrem eigenen Telefon angerufen haben! Sie haben nicht einmal einen verschlüsselten Dienst verwendet.«
»Die SIM-Karte ist nicht auf mich registriert«, erwiderte ich kleinlaut.
»Das spielt keine Rolle. Sie haben Ihren Namen gesagt, und mein Telefon wird überwacht. Bei Treffen wie unserem lege ich das Telefon normalerweise unter meinen Oberschenkel, damit sie nicht hören, was ich sage.« Er legte das Telefon demonstrativ unter seinen rechten Oberschenkel.
Nach den einleitenden mahnenden Worten sprach Khurram über die Menschenrechtsprobleme in Kaschmir. Wie viele andere Menschenrechtsaktivisten, die ich kennengelernt hatte, war er nicht zu bremsen, wenn er erst angefangen hatte.
»Seit 1989 hat der Konflikt über siebzigtausend Menschenleben gekostet, und mehr als achttausend Menschen sind verschwunden. Die Polizei ist extrem militarisiert. Laut den Behörden gibt es nur noch etwas über dreihundert militante Aufständische. Über sechshundertfünfzigtausend Soldaten sind im Einsatz, um sie zu bekämpfen! Das ist die größte Anzahl bewaffneter Kräfte in irgendeiner Region auf der ganzen Welt, nicht einmal an den Kriegen im Irak oder Afghanistan nahmen so viele Soldaten teil. Folter ist eines der größten Probleme hier – wir wissen von mindestens hunderttausend Fällen von Folter. Guantánamo wurde bekannt aufgrund von Fotobeweisen, aber hier in Kaschmir haben wir niemanden, der darüber berichten kann, sonst hätten Sie weit schlimmere Geschichten gehört. Einem Mann wurde die Zunge abgeschnitten, weil er die Bewohner eines Dorfes gewarnt hatte, dass das Militär im Anmarsch sei. Einem anderen wurden beide Beine abgehackt. Bevor sie ihm die Beine abhackten, ließen sie ihn einen Monat hungern. Dann schnitten sie kleine Stücke aus seinem Hintern und seinem Bauch und zwangen ihn, sie zu essen. Das ist der schlimmste Fall, den wir kennen.«
Khurram setzte sich seit Anfang zwanzig aktiv für die Menschenrechte ein, aber sein Engagement begann bereits 1990, mit dreizehn Jahren.
»In dem Jahr wurde gegen die Übergriffe der Soldaten auf Frauen demonstriert. Mein Großvater nahm an der Demonstration teil und wurde erschossen. Der Offizier, der den Schießbefehl gab, war mein Nachbar. Jeden Tag musste ich das Gesicht des Mörders meines Großvaters sehen. Ich war ein zorniger junger Mann. Zuerst wollte ich mich den militanten Aufständischen anschließen, ich las den Koran und andere religiöse Schriften. Nach und nach habe ich aber eingesehen, dass Zorn der falsche Weg ist. Zornige Menschen treffen falsche Entscheidungen. Ich lernte, meinen Zorn unter Kontrolle zu bringen und kam in Kontakt mit Menschenrechtsaktivisten.«
Khurram trank einen Schluck Kaffee und setzte seinen Monolog fort. Ich vermutete, dass ich die Fragen, die ich vorbereitet hatte, kaum würde stellen können.
»Sechstausend Familien in Kaschmir stehen auf der schwarzen Liste und bekommen keinen Pass. Dem Leiter unserer Organisation wurde elf Jahre lang ein Pass verweigert, seinem Stellvertreter ebenfalls. Wir alle hatten große Probleme aufgrund unseres Engagements. Ich selbst habe 2004 ein Bein verloren. Ich war zusammen mit sechs anderen als Wahlbeobachter auf dem Weg ins Lolab-Tal, als eine Straßenbombe explodierte. Mein bester Freund und der Fahrer wurden getötet. Alles deutete darauf hin, dass die Behörden dafür verantwortlich waren, aber wir haben keine schlagenden Beweise und können es daher nicht behaupten. Mein Bein musste direkt unter dem Knie amputiert werden, ich verbrachte dreieinhalb Monate im Krankenhaus. Hätte ich nach dem Angriff aufgehört, wäre ich zu einem psychischen Wrack geworden, aber ich habe weitergearbeitet wie vorher. Ich kann nicht mehr laufen oder Fußball spielen – ich habe Fußballspielen geliebt –, aber ich kann meine Arbeit als Aktivist fortsetzen.«
Eine junge Frau brachte einen Stapel Dokumente ins Büro und verschwand rasch wieder.
»Es gab auch andere Probleme«, fuhr Khurram fort. »Am 16. September 2016 wurde ich verhaftet und für sechsundsiebzig Tage ins Gefängnis gesteckt, man warf mir vor, zu Protesten aufgerufen zu haben. Aber es war eine Möglichkeit, andere Insassen kennenzulernen und die Verhältnisse von innen zu sehen. Die Gefängnisse hier sind furchtbar. Das Essen ist schlecht, und es war fürchterlich heiß. In meinem Abschnitt mussten sich fünfundzwanzig Personen eine Toilette teilen.«
Khurram trank einen Schluck Wasser, und ich nutzte die Gelegenheit, eine Frage einzuwerfen.
»Es ist nicht leicht, optimistisch zu sein, wenn es um die Situation in Kaschmir geht. Was denken Sie über die Zukunft?«
»Da Europa nach Jahrhunderten mit Krieg zu einem friedlichen Ort geworden ist, und da Deutschland seine Nazis losgeworden ist, gibt es auch für Kaschmir noch Hoffnung«, antwortete er. »Ich glaube, Kaschmir wird früher oder später frei sein. Das hoffe und wünsche ich mir für meine Kinder. Die Hoffnung zu verlieren, ist kriminell. Und nicht alles ist dunkel, durchaus nicht. Zweihundert Millionen Inder sind unterernährt, aber hier in Kaschmir hungert niemand, trotz all unserer übrigen Probleme.«
»Und es ist ja auch eine Art Hoffnungsschimmer, dass ich hier, in Ihrem Büro, mit Ihnen reden kann.«
Khurram schüttelte den Kopf.
»Indien zeigt sich gern als Demokratie, aber die Verantwortlichen haben alles getan, um uns zu vernichten. Wir können uns als Organisation nicht registrieren lassen, und damit bekommen wir auch keine finanzielle Unterstützung aus dem Ausland und sind gezwungen, die Kosten auf ein Minimum zu beschränken. Dieses Büro, zum Beispiel, ist Privateigentum des Chefs. Ich verdiene kein Geld mit der Menschenrechtsarbeit, meine Frau und meine Mutter versorgen die Familie. Aber da ich meine Kinder liebe, muss ich mit der Arbeit fortfahren. Ich arbeite, damit meine Kinder eines Tages in einem freien und friedlichen Kaschmir leben können.«
Javid war nicht überzeugt, ob ich ganz verstanden hatte, wie schön Kaschmir ist. Am späten Nachmittag, dem letzten Nachmittag in der Region, nahm er mich mit nach Gulmarg (2650 Meter über N.N.), einem der besten Skisportorte. Die Autofahrt dauerte zwei Stunden und führte durch eine grüne hügelige Landschaft, vorbei an Apfel- und Aprikosenplantagen. Wir hielten an einem üppigen Apfelhain, und der Bauer ließ uns von den sich biegenden Obstbäumen so viele Äpfel pflücken, wie wir wollten. Die roten saftigen Kaschmir-Äpfel sind die beliebtesten Äpfel Indiens und machen über zwei Drittel des gesamten Verbrauchs aus. Annähernd die Hälfte der Bevölkerung in Kaschmir ist ökonomisch abhängig von Äpfeln.
Obwohl die Skisaison noch weit entfernt war, lief der Skilift klappernd den ganzen Tag. Javid und ich schwebten über kleinen Nomadenansiedlungen, grasenden Schafherden und schläfrigen Pferden. Über uns war der Himmel tiefblau.
Javid strahlte.
»Ist es nicht schön hier? Ist Kaschmir nicht das schönste Land der Welt?«
Sogar auf dem Gipfel, in viertausend Metern Höhe, war die Landschaft fruchtbar und üppig; die grünbedeckten Berge erstreckten sich in alle Himmelsrichtungen, scheinbar endlos und ohne Rücksicht auf problematische Landesgrenzen, militärische Straßensperren oder Kontrolllinien.
Ich bereute bereits, dass ich nicht länger in Kaschmir bleiben konnte, und während der weiteren Reise war ich mehrmals kurz davor, ein Flugticket nach Srinagar zu buchen, und sei es, um nur einen weiteren Tag auf einem Hausboot auf dem Nigeen-See zu erleben.
Pessimistisches Postskriptum
Nach meiner Abreise aus Indien ist die Situation in Kaschmir noch schlimmer geworden. Im Frühjahr 2019 gewann die BJP die Wahlen mit über siebenunddreißig Prozent der Stimmen, beinahe doppelt so vielen Stimmen, wie die Kongresspartei erringen konnte, und Modi blieb Ministerpräsident. Am 5. August 2019 zog die Regierung den Paragrafen 370 zurück, und Jammu und Kaschmir verloren damit den Sonderstatus, den die Bundesstaaten seit 1947 hatten – einschließlich des Rechts, eigene Gesetze zu erlassen. Es steht nun auch Menschen, die nicht aus Kaschmir stammen, frei, Land und Besitz in Kaschmir zu erwerben, eine Situation, die auf lange Sicht die Zusammensetzung der Bevölkerung dramatisch verändern wird. Außerdem wurde die Region Ladakh im Norden, die hauptsächlich von Buddhisten bevölkert ist, von Jammu und Kaschmir als sogenanntes »Unionsterritorium« abgetrennt. Parallel zu den Änderungen des Grundgesetzes wurden Zehntausende von zusätzlichen Soldaten in die ohnehin schon schwer militarisierte Region entsandt, mehrere Tausend Zivilisten wurden inhaftiert, allen Ausländern und Touristen wurde befohlen, Kaschmir zu verlassen, es wurde eine langwierige Ausgangssperre verhängt, das Internet und alle Telefonleitungen wurden abgestellt. Tonnen von überreifen Äpfeln verschimmelten, da keine Saisonarbeiter mehr aus anderen Teilen Indiens kommen konnten, um sie zu pflücken.
Bevor die Corona-Krise zuschlug und in ganz Indien ein Lockdown angeordnet wurde, waren einzelne Kommunikationsmöglichkeiten wieder zugelassen, aber große Teile von Kaschmir, diesem irdischen Paradies, sind noch immer vom Rest der Welt abgeschnitten. Vielen Apfelbauern gelang es, einen Teil der 2019er Ernte zu retten und die Äpfel in Erwartung besserer Zeiten in Kühlhäusern zu lagern.
Es könnte sein, dass sie lange warten müssen.