Leh (3500 Meter über N.N.) war wie ein Disneyland im Himalaya. Souvenirläden und Reisebüros lagen dicht nebeneinander, und man hatte den Eindruck, als würden die Reiseveranstalter sich in Klischees übertreffen wollen: Mystic Ladakh Tour, Ladakh Exotic Tour, Authentic Ladakh Tour, Marvels of Ladakh, Ladakh – the last Shangri-La, Discover the Secrets of Ladakh … Weniger spirituell orientierte Touristen wurden mit Angeboten für Paragliding und Off-road-Motorradtouren mit »garantiertem Adrenalinkick« gelockt. Die reichlich vorhandenen Läden mit Wander- und Trekkingausrüstung warben mit spottbilligen Kopien der teuersten Markenwaren, während die Cafés Bananenpfannkuchen, Milkshakes, Pizza, Spaghetti und »echten Kaffee« anboten. An jeder Ecke gab es eine German Bakery – ein sicheres Zeichen, dass man im Himalaya ein Touristenmekka erreicht hatte. In den Gassen der Händler wimmelte es von Ausländern, viele von ihnen so sportlich, dass sie auch in der Stadt mit Wanderstöcken gingen. Sie trugen die anspruchsvollste Trekkingkleidung, die sich für Geld kaufen ließ. Die antimaterialistischen Gegenparts der Freiluftmenschen, die ebenfalls zahlreich vorhanden waren, schlurften in kunterbunter, locker sitzender Kleidung und einem seligen Lächeln um den westlichen Mund umher. Die Dreadlocks waren vermutlich kaum einmal gewaschen worden, seit ihre Träger den Einreisestempel nach Indien bekommen hatten.

Bis vor nicht allzu langer Zeit war Leh nur den zähesten und ausdauerndsten Abenteurern vorbehalten gewesen. Die Hauptstadt Ladakhs liegt eingeklemmt zwischen dem Karakorum und dem Himalaya-Gebirge, südlich der umstrittenen Region Aksai Chin und der ebenso umstrittenen chinesischen Grenze. Kulturell ist Ladakh eng mit Tibet verbunden, politisch wird heute aber in Delhi entschieden. Die Ladakh-Region, die auch gern »Klein-Tibet« genannt wird, war seit dem 19. Jahrhundert ein Teil von Indien, doch die Bewohner dieser Ecke des Himalaya hatten im Großen und Ganzen mehr Kontakt zu den Nachbarvölkern als zur indischen Staatsmacht. Aufgrund der strategischen Lage an der Kreuzung zwischen Tibet und Xinjiang im Norden, Baltistan in Nord-Pakistan im Westen und Kaschmir im Süden war Leh eine wichtige Station für die Handelskarawanen im Himalaya. Von Leh aus wurden lokale Produkte wie Wolle, Salz und getrocknete Aprikosen sowie indische Waren wie Baumwollstoffe, Perlen, Gewürze, Reis, Zucker und Tabak exportiert. Geld spielte dabei eine eher seltene Rolle, die Waren wurden meist gegen andere Waren getauscht.

Nach der Teilung von Indien und Pakistan 1947 und Chinas Okkupation von Tibet 1950 wurde Ladakh kulturell und geografisch isoliert. Für Menschen wie mich und die anderen Ausländer, die es sich mit Bier und Cappuccino in den Straßencafés von Leh gut gehen ließen, ist die Welt in den letzten Jahrzehnten zugänglicher denn je geworden – dank Billigflügen und Pässen, die sozusagen überall Zutritt verschaffen. Für die einheimische Bevölkerung, die jahrhundertelang Berge und Täler überqueren musste, um Waren zu tauschen, ist die Welt hingegen kleiner geworden und voller Schranken, obwohl Straßen und Transportmöglichkeiten nie besser waren.

Heute ist es beinahe zu einfach, nach Leh zu kommen. Bevor die Straße 1950 fertig wurde, dauerte die Reise von Srinagar nach Leh mehr als zwei Wochen – nun lässt sie sich in einem Auto an einem einzigen Tag oder einigen wenigen Stunden im Flugzeug bewältigen. Die Höhenkrankheit ist ein üblicher Nebeneffekt der modernen Transportmittel, denn Leh liegt dreieinhalbtausend Meter über dem Meeresspiegel, beinahe so hoch wie Lhasa, die Hauptstadt von Tibet. Obwohl ich langsamer gereist war als die meisten, spürte ich doch die Höhe. Es rumorte die ganze Zeit leicht hinter den Schläfen, und ich geriet bei der geringsten Anstrengung außer Atem. Nachdem ich eine Weile durch die geschäftigen Straßen der Händler gelaufen war, machte ich kehrt, das Hotelbett rief.

An der Rezeption saß ein kleines französisches Mädchen mit einer gewaltigen Sauerstoffmaske auf dem Gesicht. Man sah die Streifen, die die Tränen auf ihren Wangen hinterlassen hatten, ihre Mutter hielt sie im Arm und forderte sie auf, tief und ruhig zu atmen. Im Garten des Hotels lernte ich einen großen, sehnigen Schweden kennen. Er hatte schulterlange weiße Haare, einen kurzen Bart und trug ein T-Shirt mit einer Startnummer des Ladakh-Marathons. Steif bewegte er sich auf einen der Tische in der Sonne zu und sank stöhnend auf einen Stuhl.

»Oh, verflucht, das war der brutalste Marathon, den ich je gelaufen bin«, stieß er aus. »Noch brutaler als der in der Antarktis.«

»Aufgrund der Höhe?«, vermutete ich.

»Nein, nein, ich war ja akklimatisiert, aber es war nur so jävligt kuperat.[3]  Die letzten fünf Kilometer ging es bergauf. Keiner ist das letzte Stück gelaufen, alle sind gegangen. Einige sind gekrochen.«

Der Schwede hieß Håkan Jonsson, ein achtundsechzig Jahre alter Radiologe, der den größten Teil seiner Freizeit nutzte, um Marathons an seltsamen Orten zu laufen und Geld gegen die Kindersterblichkeit in Südafrika zu sammeln.

»Haben Sie irgendwelche Tipps für andere Orte, wo ich Marathon laufen kann?«, fragte er und trank einen Schluck aus seiner Bierdose. »Ich bin bereits auf allen Kontinenten gelaufen. Es gibt einen Plan, wo man innerhalb einer Woche auf sämtlichen Kontinenten Marathon laufen kann, aber ich glaube, das schaffen vermutlich nur die härtesten Teams.«

Er lud mich an seinen Tisch ein, und wir unterhielten uns über dieses und jenes. Ich erzählte von meinen letzten Reisen, und als ich die Mongolei erwähnte, erstrahlte ein Leuchten auf seinem Gesicht.

»Ich wollte schon immer mal die Mongolei besuchen«, sagte er.

»Vielleicht gibt es dort ja auch einen Marathonlauf?«

Håkan suchte bereits im Internet.

»Tatsächlich, es gibt einen, aber der findet im Winter statt«, sagte er enttäuscht. »Nachdem ich sowohl am Südpol wie am Nordpol Marathons gelaufen bin, glaube ich nicht, dass ich in die Mongolei reisen will, um auf Eis und Schnee zu laufen. Es ist jävligt[4]  schwer, auf Schnee zu laufen.«

Ich fand keinen Grund, ihm zu widersprechen.

Der Palast von Leh liegt auf einer Felskuppe mit Sicht über das Zentrum. Die sperrige Konstruktion ist aus Holz, Stein und Lehm gebaut, neun Stockwerke hoch und erinnert sehr an den Potala-Palast in Lhasa, der ungefähr in derselben Epoche fertiggestellt wurde. Das Gebäude wurde im 17. Jahrhundert während der Regierungszeit von Sengge Namgyal gebaut, der als »Der Löwenkönig« bekannt wurde. Er war der Sohn einer muslimischen Prinzessin aus der Nachbarregion Baltistan im Westen, wurde selbst allerdings ein überzeugter Buddhist, der im Laufe seines Lebens in seinem ganzen Reich Klöster renovieren und bauen ließ. Die Nachkommen des Löwenkönigs wohnten noch mehr als zweihundert Jahre in dem Palast, bis Ladakh 1834 von den Sikhs annektiert und die lokale Königsfamilie hinausgeworfen wurde. Sie sind seither nicht wieder eingezogen.

Vom Dach aus hatte man eine Panoramasicht über die Stadt und die bläulichen Berge, die sie umkränzten. Von hier aus sah die Stadt erstaunlich klein aus, die geschäftigen Ladengassen glichen kurzen Stummeln.

Etwa vierzig Kilometer außerhalb von Leh liegt das Hemis-Kloster, eines der Klöster, die durch den Löwenkönig seine einstige Größe zurückbekammen. Heute ist das Hemis-Kloster eines der größten und reichsten Klöster der Region. Wie so viele vor mir wollte ich dort auf die Jagd nach dem geheimen Testament von Jesus gehen – allerdings ohne große Hoffnungen, es zu finden.

1894, fünf Jahre, bevor der selbst ernannte Prophet Mirza Ghulam Ahmad seine Theorie lancierte, Jesus sei nicht am Kreuz gestorben, sondern liege in Srinagar begraben, erschien das Buch Die Lücke im Leben Jesu über das unbekannte Leben von Jesus Christus in Indien und Tibet. Der Autor war der russische Abenteurer Nicolas Notowitsch, der beschreibt, wie er auf einer Reise durch Ladakh einige Jahre zuvor im Hemis-Kloster auf ein geheimes, goldenes Buch stieß, das beschrieb, wie Jesus oder Issa, wie die buddhistischen Mönche ihn nannten, in Indien umhergereist sei und als junger Mann den Hinduismus und Buddhismus studiert habe. Der Abt sei zunächst zurückhaltend gewesen und habe ihm das Buch nicht zeigen wollen, behauptet Notowitsch, denn es sei nur hochstehenden Lamas zugänglich. Auf dem Rückweg nach Leh brach sich Notowitsch bei einem Reitunfall den Fuß und musste drei Tage im Kloster bleiben, um sich zu erholen. Um den Rekonvaleszenten zu unterhalten, holte der Abt Issas Biografie und las ihm daraus vor. In der kurzen Zeit, die er im Kloster verbrachte, gelang es Notowitsch auf wundersame Weise, eine Übersetzung zu verfassen, die er komplett in seinem Buch wiedergab. Hauptsächlich geht es darin um Issas Jahre in Indien. Bereits im vierten Kapitel reist der vierzehnjährige Jesus nach Osten: »Heimlich verließ Issa das Haus des Vaters, ging aus Jerusalem fort und schloss sich einer Gruppe Händler auf dem Weg nach Sindh an. Er wollte seine Kenntnisse über Gottes Wort perfektionieren und die großen Buddhas studieren.«

Die nächsten fünfzehn Jahre reist Jesus in Indien herum, behauptet Notowitsch, lernt Sprache und Gebräuche und versucht, die Buddhisten und Brahmanen, denen er begegnet, zu überzeugen, dass es nur einen ewigen, unteilbaren Gott gibt. Dann reist er zurück nach Palästina und wird gekreuzigt.

Während seiner Expedition hatte Notowitsch einige Fotos gemacht, erklärt er in seinem langen Vorwort, aber als er zurück im Flachland war, bemerkte er zu seinem Entsetzen, dass sämtliche Negative zerstört waren. Das verhinderte nicht, dass sein Buch eine Sensation wurde. Von der französischen Erstausgabe wurden im Erscheinungsjahr elf Auflagen gedruckt, und die Nachricht von den aufsehenerregenden Klosterschriften brachte es zu einem groß aufgemachten Artikel in The New York Times. Schon bald kursierten allerdings Zweifel am Wahrheitsgehalt von Notowitschs unglaublicher Geschichte. Die freundlichsten Kritiker meinten, die Lamas in Ladakh hätten sich wohl damit amüsiert, einem naiven westlichen Reisenden Räuberpistolen zu erzählen, ein paar Forscher machten sich allerdings auch die Mühe, Kontakt zu dem Abt im Hemis-Kloster aufzunehmen. Sie wurden von diesem darüber informiert, dass das Kloster seit fünfzehn Jahren keinen Besuch mehr von Europäern hatte und Notowitschs Buch eine reine Lüge war. Die Theorie, dass Jesus den größten Teil seines erwachsenen Lebens in Indien verbracht haben soll, hat dennoch überlebt. Immer wieder erscheinen Bücher, die behaupten, Jesus sei in den mystischen Jahren, über die die Bibel schweigt, in Indien gewesen. Der Gedanke, dass er vielleicht nur zu Hause bei seinen Eltern lebte und eine Tischlerlehre absolvierte, ist unbestritten weniger spannend.

Die in Rot und Weiß gestrichenen Klostergebäude waren groß und gepflegt, sie bildeten ein strenges Rechteck um einen offenen Platz. Im Klostergarten wimmelte es von jungen Mönchen, und in einer Ecke stand eine Gruppe Frauen in schwarzen Wollkleidern, vertieft ins Gespräch. Ich ging in die gut sortierte Buchhandlung des Klosters, aber Notowitschs Buch war unter all den Ausgaben über den Dalai Lama und die buddhistische Philosophie nicht zu finden.

»Haben Sie irgendwo das Buch von Notowitsch?«, fragte ich den Mönch an der Kasse. Er schüttelte den Kopf, von Notowitsch hatte er noch nie gehört. Ich ging zurück in den Klostergarten und fragte einen der Mönche, der im Schatten saß und sich unterhielt, ob er schon einmal von Notowitsch gehört hätte. Hatte er nicht. Ich hatte es beinahe schon aufgegeben, jemanden zu finden, der mir weiterhelfen konnte, als ich einen dritten Mönch fragte, einen großen, schlanken Mann in den Dreißigern, ob er möglicherweise von dem russischen Abenteurer gehört hatte.

»Ja, natürlich habe ich von Notowitsch gehört«, antwortete der Mönch. »Ich besitze auch sein Buch.«

»Ist es wahr, was in seinem Buch steht?«

»Natürlich, alles ist wahr«, erklärte der Mönch. »Sie sind nicht die Erste, die fragt. Im Laufe der Jahre sind viele Russen hierhergekommen und haben sich nach Notowitsch und Jesus erkundigt, und daher habe ich eines Tages meinen Lehrer, den Abt, gefragt, ob es wirklich wahr sei, dass Jesus hier gelebt hat. Er sagte, natürlich sei es wahr. Jesus meditierte in derselben Höhle wie Padmasambhava in dem Berg oberhalb des Klosters. Zu der Zeit gab es hier natürlich noch kein Kloster, aber es war bereits damals ein heiliger Ort. Sie können selbst zur Höhle gehen, wenn Sie wollen.«

»Das Manuskript über das Leben Jesu gibt es also hier im Kloster?«

»Ja, in der Bibliothek.«

»Haben Sie es gesehen?«

»Nein, nur der Abt darf es sehen.«

»Ist es möglich, den Abt zu sprechen?«

»Er ist in Tibet, das ist also schwierig.«

»Ich werde bald in Tibet sein. Vielleicht könnte ich ihn dort treffen?«

»Sie können es versuchen, aber es wird schwierig«, wiederholte der Mönch. »Die Chinesen behalten Touristen gut im Auge.«

»Haben Sie Notowitschs Buch gelesen?«

»Nein, leider nicht«, antwortete der Mönch. »Meine Ausgabe ist auf Russisch.«

»In der Kirche sind viele mit dem Inhalt von Notowitschs Buch nicht einverstanden, und auch in der Bibel steht nichts darüber, dass Jesus in Indien gewesen ist«, argumentierte ich.

»Die Bibel haben wir auch in unserer Bibliothek«, erwiderte der Mönch. »Wir haben dort alle Arten von religiösen Büchern. Es gibt im Übrigen viele, die glauben, dass Jesus in Indien gewesen ist. Haben Sie mal versucht, es zu googeln? Wenn Sie auf Google suchen, werden Sie viele Einträge finden, dass Jesus hier war. Für mich ist ohnehin am wichtigsten, dass mein Lehrer es bestätigt hat. Hätte er nicht gesagt, es ist wahr, würde ich auch nicht sagen, dass Jesus hier war, aber da mein Lehrer gesagt hat, es sei die Wahrheit, kann ich hier stehen und sagen, es stimmt. Jesus ist hier gewesen.«

Verblüfft verließ ich das Kloster. Tatsächlich hatte ich keine Bestätigung von Notowitschs Theorie erwartet. Nun gut, bestätigt ist vielleicht auch zu viel gesagt. Eventuell abgesehen von dem Abt, den ich nicht hatte sprechen können, hatte offenbar niemand das mysteriöse Manuskript mit eigenen Augen gesehen. Es gab lediglich diese zweifelhafte Expressübersetzung eines nicht sonderlich seriösen russischen Entdeckungsreisenden. Der Mythos blüht und gedeiht, ebenso wie der Mythos, dass Jesus in einem Grab in Srinagar liegt. Der ganze Himalaya ist voll von derartigen Mythen, nicht nur über den Erlöser der Christenheit, sondern auch über schwebende Lamas, abscheuliche Yetis und vergessene Paradiese in Tälern, in denen die Einwohner in glücklicher Harmonie leben und nicht von weltlichen Schwächen wie Alter und Krankheit geplagt werden.

Die westliche Vorstellung, dass sich in den nebligen, eisbedeckten und unzugänglichen Bergen Asiens tiefe Geheimnisse, Magie und Menschen mit ganz besonderen Einsichten verbergen, reicht weit zurück und wurde verstärkt durch die Abgeschlossenheit der Königreiche im Himalaya. Bis Mitte des vorigen Jahrhunderts waren Nepal, Bhutan und vor allem Tibet für Ausländer so gut wie hermetisch abgeschlossen. Dieses Faktum wirkte natürlich nur besonders stimulierend auf altgediente Entdeckungsreisende: Lhasa wurde zum ultimativen Ziel. Tibet war der weiße Fleck auf der Karte, das Märchenland östlich der Sonne und westlich des Monds, ein Märchenschloss. Bis weit ins 20. Jahrhundert unternahmen westliche Abenteurer lebensgefährliche Versuche, nach Lhasa zu gelangen – verkleidet als Bettelmönche und Handelsreisende, die gebeutelt von den Elementen zu Fuß über das Gebirgsplateau wanderten. So gut wie niemandem gelang es, doch die wenigen, die es schafften, konnten sicher sein, für den Rest ihres Lebens sichere Einnahmen aus Bücherverkäufen und Vortragsreisen zu haben.

Man musste nicht notwendigerweise in sechstausend Metern Höhe gefroren, sich blutige Scheuerwunden an den Füßen geholt und mit getrocknetem Yak-Fleisch ernährt haben, um auf der Tibet-Welle zu surfen. So unersättlich war das westliche Publikum, dass es so gut wie alles schluckte, was sich mit dieser Region befasste.

1956 erschien in Großbritannien das Buch Das dritte Auge, in dem der Autor, ein Lama namens T. Lobsang Rampa, über seine Jugend in Tibet erzählt. Er sei in einer reichen Familie zur Welt gekommen, schrieb er, aber als Siebenjähriger in ein Kloster geschickt worden. Das Klosterleben war hart, aber er wies bereits früh außergewöhnliche Fähigkeiten auf. In seinem Buch berichtet er detailliert über die Operationen, die die älteren Lamas eines Tages an ihm durchführten, als sie ihm ein kleines Loch zwischen die Augen bohrten und somit das dritte Auge öffneten. Das Buch wurde sofort ein enormer Bestseller.

Heinrich Harrer, ein österreichischer Bergsteiger, der zu den wenigen gehörte, die damals in Tibet gewesen waren, glaubte nicht an Rampas Geschichte. Er selbst hatte sieben Jahre in Tibet zugebracht, nachdem er 1944 über die Berge geflohen war, um der britisch-indischen Gefangenschaft zu entgehen. Er war einer der engsten Vertrauten des Dalai Lama geworden. Harrer heuerte einen Privatdetektiv an, der die Angelegenheit untersuchen sollte, und der Detektiv fand heraus, dass Rampa in Wahrheit Cyril Henry Hoskins hieß und ein ehemaliger Klempner von der Südküste Englands war. Hoskins war nie in Tibet gewesen – er hatte nicht einmal einen Pass – und sprach kein Wort Tibetisch. In seinem dritten Buch, Die Rampa-Story, erklärte der Klempner dann, wie alles zusammenhing: Eines Tages sei er in einen Baum im Garten geklettert, um eine Eule zu fotografieren. Er fiel herunter, wurde ohnmächtig, und als er wieder zu sich kam, sah er einen buddhistischen Mönch auf sich zukommen. Der Mönch war T. Lobsang Rampa, dessen Körper nach vielen unmenschlichen Proben erschöpft war. Rampa wollte daher gern in Hoskins Körper übergehen, und Hoskins, der in seinem Leben nicht so viel hatte erdulden müssen, war einverstanden und ließ Rampas Seele großzügig bei sich einziehen.

Rampa verfasste weitere siebzehn Bücher in seinem Klempner-Körper, und sie alle verkauften sich wie geschnitten Brot. Das dritte Auge ist bis heute das meistverkaufte Buch über Tibet in der Geschichte Großbritanniens.

Ein überfüllter Kleinbus brachte mich weiter nach Süden in den Urlaubsort Manali im Bundesstaat Himachal Pradesh. Als wir an der Busstation in Leh losfuhren, ging die Sonne unter, und schon bald waren wir von Dunkelheit umgeben. Der Abend wurde zur Nacht, und ich fror auf meinem Sitz. Wir mussten zwei Bergpässe überwinden; der Kleinbus humpelte und rumpelte über die matschige, schmale und kurvige Straße. Tatsächlich gehörte die Straße zu den dramatischsten in Indien, ebenso wie die Landschaft, aber ich nahm nichts anderes wahr als Grabenränder, die von entgegenkommenden Fahrzeugen erleuchtet wurden. Der Fahrer ließ die ganze Nacht über laute Musik laufen, eine eklektische Mischung aus indischer Popmusik und buddhistischer Meditationsmusik. Ich stopfte mir Stöpsel in die Ohren, knöpfte die Jacke so gut es ging zu und zog die Mütze über den Kopf. Phasenweise konnte ich auch schlafen, doch dann hielten wir an einem weiteren Kontrollposten, und der Fahrer schaltete das Licht ein und verlangte eine weitere Kopie meines Passes. Bevor ich wieder einschlief, dachte ich an all die Reisenden aus dem Westen, die noch immer nach Osten und in den Himalaya aufbrechen, auf der Suche nach geistiger Ruhe, Harmonie und spirituellen Einsichten, von denen sie meinen, dass sie zu Hause nicht zu finden sind. Die Literatur über den Himalaya kann grob in zwei Genres eingeteilt werden: Die Bücher handeln entweder von lebensgefährlichen Versuchen, den einen oder anderen Gipfel zu besteigen, oder von den Versuchen, die Abgründe und Gipfel der Seele zu begreifen – vornehmlich die eigenen Abgründe und Gipfel des Autors.

Dann kam der Schlaf, und schwebende Lamas, abscheuliche Yetis und verbissene Passkontrolleure überlagerten einander.

Als der Morgen graute, erwachte ich und stellte fest, dass ich mich in der Schweiz befand. Die steilen Berge, die zum Tal hin flacher wurden, waren nicht mehr braun und öde, sondern grün, üppig und mit Wald bewachsen. Die Region Kullu, die jahrhundertelang ein eigenes Königreich war, wurde erst nach 1947 mit dem übrigen Indien durch eine Straße verbunden. Die Frauen trugen bunte Kopftücher, viele Männer runde, bestickte Filzkappen. Im Laufe meiner Reise im Himalaya sollte ich, wenn ich meinem Atlas Glauben schenkte, insgesamt fünf Länder besuchen, doch in Wahrheit bin ich in weit mehr Ländern gewesen. Kaum war ich in einem neuen Tal, stieß ich auf neue Kleidungsstücke und Baustile, andere Götter und eine ganz andere Sprache.

In Manali (2050 Meter über N.N.) gab es noch mehr Hotels als in Leh. Die meisten von ihnen hatten indische Touristen zu Gast, die hierherkamen, um die Berge und die frische, saubere Luft zu genießen.

Und um Haschisch zu rauchen.

Es heißt, das beste Cannabis der Welt wird in dem Bergdorf Malana (2652 Meter über N.N.) angebaut, rund achtzig Kilometer von Manali entfernt. Der Fahrer war noch nie dort gewesen, sonst hätte er der Fahrt wohl kaum zugestimmt. Die letzte Stunde ging es in einem steilen Tal auf einer schmalen, steinigen Straße abwärts und aufwärts; Steine polterten und schrammten gegen den Unterboden des Wagens. An mehreren Stellen hatte es große Steinlawinen gegeben, und der Fahrer musste an Felsblöcken vorbeimanövrieren, indem er ganz außen am Straßenrand balancierte, mit freier Sicht auf den schäumenden Fluss tief unten.

»Ziemlich gefährliche Straße«, bemerkte er vielsagend. Es war das erste Mal, dass ich einen Inder über den Zustand einer Straße klagen hörte.

Den Beginn des Weges hinauf ins Dorf markierte ein geschwungenes Portal. Früher musste man tagelang laufen, um Malana zu erreichen, aber dank eines neuen Damms und der dadurch entstandenen riskanten Straße dauert es nur eine knappe Stunde, um dorthin zu kommen. Treppenstufen aus Beton führen hinauf zum Dorf. Auf dem Weg nach oben kam ich an drei indischen Touristen vorbei, die in einer Kurve saßen und schwer atmeten. Am Eingang des Dorfes stand ein kleiner Kiosk. Haschischrauch hing schwer über der Bude und dem jungen Burschen, der dort bediente.

»Willst du Malana Cream haben?«, fragte er lächelnd und bot mir einen ordentlichen Klumpen Haschisch an.

»Nein, danke«, lehnte ich höflich ab.

»Was ist mit Abendessen? Limonade? Schokolade? Übrigens, willst du übernachten? Ich kenne da ein kleines Gästehaus am Ende des Dorfes.« Er sah mich mit rot unterlaufenen Augen an.

»Ich will nicht übernachten«, erwiderte ich. »Stimmt es, dass die Einwohner des Dorfes Nachfahren der Soldaten Alexanders des Großen sind?« Ich hatte alles gelesen, was ich im Internet über Malana finden konnte, und in allen Artikeln und Blogs stand, die Einwohner von Malana meinten, sie seien die Nachfahren von Alexanders Heer und hätten daher so viele besondere Regeln.

»Alexander wer?«, fragte der Verkäufer verwirrt.

»Des Großen.«

»Nein, nein, wir sind keine Nachkommen des Großen, wir sind Nachkommen unseres Gottes, Jamadagni Rishi.«

Ich dankte für die Information und ging weiter ins Dorf.

Ich achtete darauf, genau dem vorgegebenen Weg zu folgen, der durch das Dorf führte, ich hatte Angst vor einem Fehltritt, da es allen Besuchern, vor allem Ausländern, streng verboten war, die Wege zu verlassen. Von außen gesehen sah Malana beinahe aus wie ein gewöhnliches indisches Dorf, mit zwei, drei Meter hohen Häusern aus Stein und Holz, die mit Blechdächern in fröhlichen Farben gedeckt waren. Das Dorf war belebt, ich kam immer wieder an Gruppen von Männern und Frauen vorbei, die sich miteinander unterhielten, aber niemand erwiderte mein Lächeln. An einer großen Holzplattform, die der Tanzplatz des Dorfes sein musste, wurde in voller Lautstärke indische Popmusik gespielt. Ein großes gelbes Schild informierte auf Hindi und Englisch, dass das Berühren des Tempels dreitausendfünfhundert Rupien Bußgeld kostete.

Niemand beachtete mich. Ich war unsichtbar. Es war ein sonderbares Gefühl, nachdem ich in den letzten beiden Monaten unablässig beachtet worden war. Frauen und sogar Kinder traten irritiert zur Seite, wenn ich auf sie zukam, ansonsten übersahen sie mich komplett. Da ich mich im Vorfeld gründlich informiert hatte, wusste ich, dass es so kommen würde, dennoch war es seltsam und unangenehm. Ich nahm mich zusammen, ging auf eine Gruppe von Männern zu und fragte, ob jemand von ihnen Englisch spreche, aber sie machten sich nicht einmal die Mühe, mir zu antworten.

Ich war beinahe den Tränen nahe, als ich auf die drei Inder stieß, an denen ich beim Aufstieg vorbeigegangen war. Sie kauften gerade drei kleine Brocken Malana Cream von einem Mann mittleren Alters. Die Inder grüßten mich freundlich, und ich fragte sie, ob sie mir mit Übersetzen behilflich sein könnten. Dazu waren sie gern bereit, und ich bat sie, den Verkäufer zu fragen, ob er mir etwas über die Malana-Kultur erzählen könnte.

»Ich kann nicht sehr viel über den Ort sagen, denn wir sind ein zurückhaltendes und zurückgezogen lebendes Volk«, erwiderte der Verkäufer, der Moti Ram hieß und einundvierzig Jahre alt war. Moti war der Erste im Dorf, der zwölf Jahre zur Schule gegangen war, daher genoss er großen Respekt.

»Wir haben unseren eigenen König«, erklärte er. »Wir gehören nicht zur indischen Demokratie. Sie haben bestimmt die Schilder bemerkt, dass Sie ein Bußgeld zu zahlen haben, wenn Sie unsere Tempel berühren? Wir dürfen den Tempel ebenfalls nicht anfassen. Nur zehn Männer, die alle anderthalb Jahre gewählt werden, dürfen in den Tempel hineingehen. Und nur diese zehn Männer können Hasch aus unseren Cannabispflanzen herstellen. Laut unserem Glauben kam der Mogulkönig Akbar hierher. Er stahl unsere Schätze und verschwand mit ihnen, aber er wurde krank und musste hierher zurückkommen. So wurde er unser König. Wir haben einen eigenen Gedenktag für ihn, an dem wir fasten. An einem Tag im Jahr beten wir Akbar wie einen Gott an. All die anderen Tage ist er unser König. Wir haben auch unsere eigene Sprache, Kanashi, aber alle können auch Hindi.«

»Warum dürfen Sie keine Ausländer berühren?«, wollte ich wissen.

»Das Problem mit Ausländern ist, dass wir nie wissen, welcher Kaste sie angehören«, erklärte Moti. »Sie selbst wissen es nicht einmal. Wir gehören der Thakur-Kaste an, sie steht direkt unter den Brahmanen. Die Inder sind dagegen wie wir, daher dürfen wir sie berühren. Ich kann auch Sie mit der Hand berühren, aber dann muss ich mir auf jeden Fall die Hand waschen, bevor ich mein Haus betreten darf. Unsere Häuser sind heilig.«

»Stimmt es, dass die Einwohner Malanas Nachkommen der Soldaten Alexanders des Großen sind?«

»Das ist ein Mythos, der außerhalb des Dorfes erfunden wurde«, antwortete Moti. »Die Leute lieben gute Geschichten, aber in uns fließt kein griechisches Blut. Wir sind Inder.«

»Das steht so aber nicht im Internet über euch!«, wandte der junge Inder ein, der für mich dolmetschte.

»Alles, was über uns im Internet steht, ist falsch«, erwiderte Moti ruhig. »Die Haupteinnahmequelle hier ist Haschisch«, erklärte er weiter. »Wir haben aber auch Kühe. Und Honig. Am liebsten verkaufe ich Honig. Für 11,6 Gramm Haschisch nehmen wir fünfzig Euro. In Amsterdam wird es für zweihundertfünfzig Euro pro Gramm verkauft. Cannabis ist in Indien verboten, aber für uns ist es heilig.«

Nicht alle Legenden vertragen eine Konfrontation mit ihren Protagonisten. Der Mythos, dass die tief religiösen Einwohner von Malana Nachkommen Alexanders des Großen sind, wird trotzdem weiterleben, so wie alle guten und aufregenden Geschichten ihr Eigenleben führen. Wollte man all diesen Geschichten glauben, dann hinterließen die virilen Soldaten Alexanders des Großen blauäugige Nachkommen in großen Teilen des eurasischen Kontinents; eine Heerschar von griechischen Genen erstreckt sich angeblich wie ein blondes Band vom Schwarzen Meer bis in die Bergtäler des Himalaya.

Als ich das Dorf verließ, blieb ich bei dem kleinen Kiosk stehen, um eine Tüte Chips zu kaufen. Ich wollte den Verkäufer bezahlen, aber er weigerte sich, das Geld anzunehmen.

»Du musst es auf die Erde legen«, sagte er.

Ich tat, was er sagte. Der Verkäufer bückte sich, hob den Schein auf und gab mir ein Zeichen, dass ich mich mit einer Tüte Chips aus der Chipstütenschale versorgen dürfe. Das Wechselgeld legte er ebenfalls auf den Boden vor mir. Rund um den Kiosk und am Eingang des Dorfes türmte sich der Müll; überall lagen leere Chipstüten und Limonadenflaschen.

»Ich habe Englisch, Geschichte und eine Menge anderer Dinge in Manali studiert«, vertraute mir der Verkäufer an. »Du kannst mich Jack nennen.«

»Und wie lautet Ihr Malana-Name?«

»Akshe«, antwortete er. »Hat dir Malana gefallen?«

»Nein«, antwortete ich wahrheitsgemäß.

»Mir gefällt Malana auch nicht«, sagte Jack. »Aber ich mag Haschisch.« Er kicherte. »Mein Vater raucht auch. Und mein Bruder.«

»Was ist mit Ihrer Mutter, raucht sie auch?«

»Nein, Frauen rauchen nicht, niemals.«

»Wieso musste ich das Geld auf die Erde legen?«

»Weil wir das hier so machen«, gab Jack zur Antwort. »Dieses Dorf ist ein heiliger Ort. Ich habe einen Freund in Australien«, fügte er hinzu. »Ich habe dort auch eine Freundin.«

»Ich dachte, Ihr dürft Ausländer nicht anfassen?«, bemerkte ich.

»Aber ja doch«, erwiderte Jack. »Ich schon. Ich bin nicht wie die anderen.«

Ein jüngerer Mann kam zu uns. Er hatte dunklere Haut als die übrigen Dorfbewohner und wässrige braune Augen.

»Ich stamme ursprünglich aus Kalkutta«, sagte er und kicherte ebenfalls. »Vor vier, fünf Jahren wurde ich von diesem Dorf adoptiert. Ich bin einundvierzig, aber eigentlich bin ich aufgrund des günstigen Klimas hier erst vierzig. Im Winter schneit es hier«, informierte er mich und verfiel dann in dumpfes, grübelndes Schweigen.

Auf dem Weg hinunter zum Auto stieß ich auf fünf westliche Touristen mit glänzenden Augen und dreckigen Dreadlocks, die bunte lockere Kleidung trugen.

»Ist es noch weit?«, fragte einer von ihnen außer Atem.

»Ihr seid bald da«, versicherte ich, und sie gingen erwartungsvoll lächelnd weiter. Zwei Frauen aus dem Dorf gingen hinter ihnen her. Sie stöhnten bei meinem Anblick auf und traten demonstrativ zur Seite. Ich sehnte mich bereits nach dem aufdringlichen indischen Normalzustand.

Auf dem Rückweg nach Manali fuhren wir an einem kleinen Umzug vorbei. Die Männer, die vorn gingen, spielten Trommeln und Flöten, die Männer ganz hinten trugen ein Räuchergefäß. In der Mitte trugen vier Männer eine Silberstatue in einer Sänfte. Die Statue war mit Blumen und Tüchern in allen möglichen Farben geschmückt.

»Was machen sie da?«, erkundigte ich mich bei meinem Fahrer.

»Sie feiern ihren Gott«, antwortete er.

»Welchen Gott?«

Er zuckte die Achseln. »Ach, nur einen Gott, irgendeinen lokalen Gott.«