Das Spiti-Tal ist eines der ödesten und isoliertesten Täler Indiens, und die Straße, die dorthin führte, war in einem bedauernswerten Zustand. Der Landrover rumpelte in schmalen Spurrillen, über große Steine und durch tiefe Wasserpfützen. Rakesh, der gutmütige Fahrer, schaffte eine durchschnittliche Geschwindigkeit von fünfzehn Kilometern in der Stunde, begleitet von beliebten indischen Popmelodien, die er munter mitsummte, ohne auch nur einen Ton zu treffen.

Die grünen Wälder des Kullu-Tals lagen hinter uns, und die Landschaft war erneut braun, unfruchtbar und kahl. Wir fuhren auf dem Weg durch kein Dorf, es gab nur ein paar Kaffeezelte und Rastplätze. Erst unmittelbar nach Sonnenuntergang erreichten wir das kleine, armselige Nonnenkloster, in dem wir übernachten sollten.

Ein junger Mönch hieß mich in gebrochenem Englisch willkommen und stellte sich als Tenzin vor, mein einheimischer Guide. Er war achtundzwanzig Jahre alt und normalerweise Lama in einem der Klöster von Kaza, dem größten Dorf im Tal.

»Ich hoffe, Sie können mir mehr über den tibetanischen Buddhismus beibringen«, sagte ich lächelnd. »Es ist ein wenig verwirrend mit all den verschiedenen Schulen und Richtungen.«

Wir sollten die gesamte kommende Woche zusammen verbringen, aber Tenzin verlor keine Zeit und begann eifrig, mir die verschiedenen buddhistischen Schulen und ihre Unterschiede zu erläutern. Er listete lange komplizierte Namen der Haupt-, Zwischen- und Nebenzweige auf, die Namen dieses und jenes Oberhaupts, gelbe Kopfbedeckungen, rote Kopfbedeckungen, schwarze Kopfbedeckungen. Schon nach den ersten Sätzen kam ich nicht mehr mit. Als er begann, auf die subtilen Unterschiede der Lehre innerhalb der Nyingma-, Kagyü- und Gelugschule einzugehen, wurde ich glücklicherweise von einer jungen Nonne gerettet, die uns zum Tee einlud.

Die Gebirgsluft war kühl und schneidend, aber in der kleinen Küche war es heiß wie an einem Sommertag. Es roch nach Gas und frisch gebackenen Chapati. Tenzin und ich nahmen auf dicken Kissen an der Wand Platz, während vier junge Nonnen uns Tee und heiße, süße Milch servierten. Sie trugen T-Shirts und bodenlange purpurfarbene Röcke und hatten ganz kurz geschnittene Haare, genau wie die Mönche. Ich stellte ihnen einfache Fragen, wie lange sie schon Nonnen waren, wie alt sie waren, wie sie hießen, aber sie kicherten bloß und wandten den Blick ab.

Tenzin hatte Interesse am Christentum, er war neugierig und wollte gern mehr wissen. So einfach und pädagogisch, wie es mir möglich war, erzählte ich vom Garten Eden und Jesus, Gottes Sohn, den eine Jungfrau geboren und der eine Reihe von Wundern vollbracht hatte. Ich erzählte, dass er für die Sünden der Menschen ans Kreuz genagelt wurde, am dritten Tag aber aus dem Totenreich auferstand, und ich erzählte von der Dreieinigkeit, bei der es eigentlich nicht um drei, sondern lediglich um eine einzige Entität ging. Als ich meinen Vortrag beendet hatte, sah er ebenso verwirrt aus wie ich nach dem Schnellkurs ausgesehen haben musste, den er mir gerade in tibetischem Buddhismus gegeben hatte.

Irgendwann verschwand Tenzin auf die Toilette. Die Nonnen rückten näher an mich heran. Es stellte sich heraus, dass alle vier gut Englisch sprachen und ihnen ein ganzer Haufen von Fragen auf den Nägeln brannte. Sie wollten wissen, wie alt ich war, ob ich Geschwister hätte, einen Ehemann und Kinder, wo ich wohnte, was ich arbeitete, ob ich Buddhistin sei und wie mir ihr Kloster gefalle. Sie selbst stammten alle aus dem Spiti-Tal, das ähnlich wie Ladakh den Spitznamen Klein-Tibet trug.

Tibet liegt nur einen Katzensprung entfernt, auf der anderen Seite der Berge, und bevor China Tibet okkupierte, gab es einen engen Kontakt zwischen den beiden Nachbarvölkern, die ihre Sprache, ihre Kultur und ihre Religion teilen. Heute ist die tibetische Kultur vermutlich im Spiti-Tal besser bewahrt als in Tibet, wo große Teile des Kulturerbes unter der chinesischen Kulturrevolution verloren gingen und die einheimische Bevölkerung noch immer mit strengen Begrenzungen und massiver Überwachung leben muss.

Als Tenzin einige Minuten später zurückkam, zogen sich die Nonnen zurück und kicherten und schwiegen wieder.

Am nächsten Morgen waren zwei Nonnen bereits sehr früh bei den Frühstücksvorbereitungen. Sie saßen auf dem Boden und rollten dünne Teigwürste aus, die sie zu kleinen Broten formten und in einem großen Kessel mit kochendem Wasser versenkten. Die ältere Nonne hieß Sherab und war neunzehn, die jüngere war erst dreizehn Jahr alt und hieß ebenfalls Tenzin – die tibetische Sprache kennt keinen Unterschied zwischen Jungen- und Mädchennamen

»Meine Eltern wollten nicht, dass ich Nonne werde«, erzählte Tenzin und lächelte schüchtern. »Aber meine Freundinnen und ich entschlossen uns trotzdem, ins Kloster zu gehen. Vor drei Jahren verließen wir das Dorf und kamen hierher. Das Leben als Nonne ist ein einfaches Leben. Ich mag es sehr.«

»Ihr habt also keine Lust, zu heiraten und Kinder zu bekommen?«

»NEIN!« Beide Nonnen schlugen entsetzt die Hände vors Gesicht und brachen in Gelächter aus.

»Zu heiraten und Kinder zu haben, ist viel zu viel Arbeit«, meinte Sherab.

Im ersten Stock waren die übrigen Nonnen bereits beim Morgengebet. Ein Dutzend Kindernonnen saß in dem einfachen, aber reich geschmückten Tempelsaal in einer langen Reihe an der Wand und wiederholte im Chor die Worte eines Lamas, die von einem altmodischen Kassettenrekorder abgespielt wurden. Als die Aufnahme beendet war, fuhren die Nonnen noch eine ganze Weile fort, Mantras aufzusagen – murmelnd, eindringlich, hypnotisierend. Danach teilte eine ältere Nonne bedruckte, längliche Blätter aus, Seiten aus den Pechas, tibetischen religiösen Büchern, die konzentriert und laut vorgelesen wurden, wobei die Nonnen hin und her schaukelten. Die ältesten Nonnen arbeiteten sich rasch und effektiv durch die Blätter, während die jüngsten – einige von ihnen waren kaum mehr als sieben oder acht Jahre alt – sich mühsam durch die fremden Wörter buchstabierten. Nach einer halben Stunde wurden die Blätter wieder eingesammelt und sorgfältig in orangefarbene Tücher eingewickelt. Die Nonnen psalmodierten weitere Mantras, die Stimmen hoben und senkten sich aufs Neue, und einige der Jüngsten schafften es nicht, ein Gähnen zurückzuhalten. Dann war es vorbei, und die Mädchen erhoben sich schläfrig von den Kissen und gingen nach unten, um zu frühstücken.

Während des Frühstücks unterhielt ich mich mit Dolma, einer der ältesten Nonnen im Kloster. Sie war fünfundvierzig Jahre alt und hatte die Anfänge des Klosters miterlebt, als sie lediglich drei, vier Nonnen waren und in kleinen Grotten oben im Gebirge gelebt hatten.

»Dort hatten wir kaum Platz, und im Winter war es ziemlich kalt«, erinnerte sie sich. »Wir hatten nichts, nicht einmal eine ordentliche Teetasse. In der einzigen Tasse, die wir hatten, war ein Loch, hahaha!«

Heute leben rund vierzig Nonnen in den beiden einfachen, aber geheizten und komfortablen Klostergebäuden. Das ganze Dorf hatte bei den Bauarbeiten mitgeholfen.

»Vermissen Sie etwas aus Ihrem früheren Leben?«, fragte ich Dolma.

»Ich war so jung, als ich Nonne wurde, ich erinnere mich an nichts, was ich möglicherweise vermissen könnte«, lachte sie. »Ich erinnere mich nur, dass ich normalerweise mit einer kleinen Tasche über der Schulter zur Schule ging.«

»Und warum sind Sie Nonne geworden?«

Dolma schüttelte sich vor Lachen. »Eigentlich habe ich nicht so genau darüber nachgedacht«, sagte sie und lachte noch mehr.

»Ihre Eltern haben sie sicher ein bisschen unter Druck gesetzt«, warf Rakesh, der Fahrer, ein. »Kinder ins Kloster zu schicken, gehört hier zur Kultur. Früher war das Dorf sehr klein und das Leben mühsam, vor allem im Winter.«

»Haben Sie viele Geschwister?«, wollte ich noch von Dolma wissen.

»Zwei Brüder und fünf Schwestern«, antwortete sie. »Eine meiner jüngeren Schwestern ist ebenfalls Nonne. Hier gehöre ich zu den Ältesten und arbeite hart, damit die jungen Nonnen ein leichteres Leben führen können, als ich es selbst hatte. Ich möchte, dass sie alle eine gute Ausbildung bekommen und mich als eine Mutter ansehen.«

Freitag war Ruhetag im Kloster, die Nonnen mussten nicht lernen. Sie nutzten die Zeit, um zu waschen und zu spielen; einige der Mädchen waren bereits dabei, den Boden ihrer Zellen zu schrubben. Zwei kleine Nonnen, die vielleicht fünf oder sechs Jahre alt waren, hatten ein neugeborenes Kalb aus dem Stall geholt und spielten begeistert damit. Ein paar Jungen aus dem Dorf fuhren immer wieder mit Fahrrädern über das Heu, das die Nonnen zum Trocknen ausgebreitet hatten, um es anschließend in kleinere Portionen aufzuteilen.

Als Tenzin, Rakesh und ich am Nachmittag in Richtung Kaza aufbrachen, war das Auto voller kichernder Nonnen im Alter von vierzehn, fünfzehn Jahren, die aufgrund von urgent business, wie sie es ausdrückten, ins Dorf mussten. Sie schwatzten und lachten auf dem Rücksitz, alle hatten als Accessoires zu ihren einfachen Nonnentrachten Mobiltelefone und kleine Damenhandtaschen dabei.

Matschige Straßen schlängelten sich zwischen den niedrigen Häusern von Kaza (3650 Meter über N.N.) hindurch, dem einzigen Ort im Spiti-Tal mit einem einigermaßen stabilen Telefonnetz – die Menschen in den übrigen Dörfern müssen mit dem Rest der Welt weitgehend ohne Satellitenverbindung in Kontakt treten. Der Himmel war tiefblau und wolkenlos, die Luft dünn und klar. Der Fluss Spiti, der das Dorf teilt, glitzerte im Sonnenschein, und die rotbraunen Berge, die ihn flankierten, waren sehr kleidsam mit Schnee bedeckt.

Während des Mittagessens kam ich ins Gespräch mit einem Amchi, einem Mann, der die traditionelle tibetische Medizin praktiziert. Er hieß Norbu, war irgendwo in den Fünfzigern und strahlte die ruhige Autorität aus, die auf der ganzen Welt typisch für Ärzte ist. Er hatte weiße makellose Zähne – eine Seltenheit in diesen Regionen – und sprach ausgezeichnet Englisch. Während ich meine dampfenden Momos aß, große dicke Nudelteigtaschen aus Mehl und Wasser, die mit Kartoffeln und Käse gefüllt werden, gab Norbu mir eine Einführung in die Tätigkeit eines Amchi.

»Traditionell geht der Amchi hinaus in die Natur und sammelt seine eigenen Kräuter, aus denen er Medikamente herstellt. Ein Amchi ist eine Einmann-Armee, er macht alles selbst. Wir haben alle eine lange Ausbildung hinter uns. Ich habe fünf Jahre tibetische Medizin am Men-Tsee-Khang-Institut in Dharamsala studiert und ging dann zwei Jahre in die Lehre. Meine Mutter hat mich gezwungen, Medizin zu studieren, ich war erst siebzehn und hatte keine klare Vorstellung davon, was ich im Leben anfangen sollte. Auf der Schule lernten wir Krankheiten und Symptome kennen, wie man sie diagnostiziert und welche Art Medikamente man verwenden muss. Während der Diagnose messen wir den Puls und schauen uns den Urin, die Zunge und die Augenfarbe des Patienten an. Ein Amchi kann normalerweise chronische Krankheiten wie Rheumatismus kurieren, akute Fälle muss er aber ins Krankenhaus schicken.«

»Tibetische Medizin hängt eng mit dem Buddhismus zusammen«, warf Tenzin ein.

»Ja, wir raten dem Patienten normalerweise, besondere medizinische Mantras aufzusagen«, bestätigte Norbu. »Wir glauben an ihre Wirkung. Wir behandeln auch psychische Krankheiten, die wir Lungat nennen. Im Westen wird es mit Depression übersetzt, aber das ist nicht ganz dasselbe, denn Lungat muss keine äußeren Ursachen haben. Vor nicht allzu langer Zeit beging eine Frau in Kaza Selbstmord, obwohl sie eigentlich keinen Grund dafür hatte. Sie hatte eine intakte Familie, gute Söhne, ihr ging es gut. Aber sie litt an Lungat.«

»Welche Krankheiten sind hier am meisten verbreitet?«

»Überwiegend Verdauungsprobleme. Und Gliederschmerzen. Die Menschen tragen jetzt andere Kleidung als früher, synthetische Kleidung, und sie waschen die Kleider und sich viel zu oft. In den Großstädten ist Diabetes normal geworden. Wir glauben, Krankheiten hängen mit dem Lebensstil, der Umgebung und dem Essen zusammen. Hier ist es trocken und kalt, und das beeinflusst den Körper. Wir glauben auch, dass Gefühle die Gesundheit beeinflussen. Begierde führt zu Lungenproblemen, während Probleme mit den Eingeweiden auf Hass zurückzuführen sind. Wir meinen, alles, auch die Gefühle, muss im Gleichgewicht sein.«

Norbu war seit fünfundzwanzig Jahren Amchi und hatte, abgesehen von seinem Heimatort Kaza, in Shimla, Delhi und Kalkutta gearbeitet; allerdings hatte er die Praxis seit Kurzem aufgegeben.

»Tibetische Medizin ist im übrigen Indien weit verbreitet, aber hier ziehen die Leute es vor, zu einem normalen Arzt zu gehen«, sagte er betrübt. »Hier in Spiti ist es so, dass der älteste Sohn alles erbt: das Haus, den Grund und Boden, alles. Ich bin der Jüngste von vier Brüdern und muss allein zurechtkommen. Erst habe ich Kleider verkauft, aber nun verkaufe ich Souvenirs an die Touristen, die hierherkommen. Das ist traurig, aber ich verdiene tatsächlich mehr mit dem Verkauf von Buddha-Figuren und T-Shirts als mit meiner Arbeit als Amchi.«

Auf der anderen Seite des Flusses lag Tsechen Chöling, ein nagelneues Nonnenkloster, in dem fünfzehn junge Nonnen lebten. Mir wurde eine zwanzigminütige Privataudienz bei Lama Tsewang zugebilligt, dem Hauptverantwortlichen für den Unterricht. Der siebenunddreißigjährige Lama empfing mich in einem Korbsessel am Ende eines Korridors, von dem aus er einen Panoramablick auf das Gebirge und das Tal hatte.

»Es gibt mehrere Hauptlinien innerhalb des tibetischen Buddhismus, je nachdem, was Sie dazuzählen«, dozierte er und spulte rasch die Namen der verschiedenen Schulen ab, die sich wiederum in verschiedene Unterschulen aufteilen ließen. »Über eine der Hauptrichtungen, Vajrayana, dem Diamantwagen, oder Tantrayana, wie sie auch genannt wird, kann ich Ihnen nichts Näheres erzählen, dazu brauche ich die Genehmigung eines Lehrers«, fuhr er fort. »Ich benötige die Erlaubnis selbst dann, wenn ich nur einen tantrischen Text lesen will. Sie sind sehr geheim. Kurz gesagt, verwendet man im tantrischen Buddhismus spirituelle, esoterische Techniken, die wie eine Abkürzung zur Erleuchtung funktionieren, aber diese Techniken können nur durch einen eingeweihten Lehrer vermittelt werden. Der Dalai Lama ist der oberste Lehrer. Im Übrigen gibt es sehr viele Missverständnisse über den Buddhismus, denn Dharma, also die Lehre Buddhas, und kulturelle Praktiken werden vermischt. Der Buddhismus ist keine Religion, es ist eine Wissenschaft. Im Buddhismus geht es um dein Leben, um die Wahrheit über dein Leben; es geht um das tiefste Wesen der Existenz und der Welt. Wir müssen wissen, wie die Welt funktioniert, um leben zu können. Buddhas Lehre ist ein Teil der Befreiung.«

Tsewang sah rasch auf die Uhr.

»Im Großen und Ganzen handelt die Lehre Buddhas von der Leere«, fasste er zusammen.

»Mir kommt der Buddhismus mit all seinen Tempeln, goldenen Statuen, Ritualen und Opfern im höchsten Maß wie eine Religion vor«, wandte ich ein.

»Ja, sicher, das verstehe ich gut!«, erwiderte Tsewang. »Der Buddhismus sollte eigentlich frei von Kasten und Hierarchien sein, aber unsere Klöster sind voll von vergoldeten Buddha-Statuen! Der Dalai Lama hat gesagt, der Buddhismus bestehe aus drei Kategorien: der religiösen, der philosophischen und der wissenschaftlichen Kategorie. Die langen Texte, die wir studieren, sind ein Teil der Philosophie. Die Suche nach dem Sinn und der wahren Natur aller Dinge ist ein Teil der Wissenschaft. Und wenn wir Buddha Butterlampen, Geld oder Wasser opfern, handelt es sich um die Ausübung von Religion. Können Sie mir folgen?«

Ich nickte.

»Das Entscheidende ist nicht die Handlung an sich, sondern die innere Motivation, die dich antreibt, um die Handlung auszuführen«, erklärte Tsewang und warf erneut einen raschen Blick auf die Uhr. »Wie gesagt, der Buddhismus ist keine Religion, wir Buddhisten glauben nicht an irgendeinen Schöpfer der Welt oder der Seele. Die Rituale, die Statuen und Opfer sind nur Methoden, um die äußerste Wahrheit zu erreichen. Sie sind nur Symbole, nicht wahr? Können Sie mir noch immer folgen?«

Er nahm sich nicht die Zeit, meine Antwort oder zumindest ein Nicken abzuwarten, sondern fuhr eifrig fort.

»Wenn wir Mantras rezitieren, beten oder uns vor Buddha auf den Boden werfen, sind das alles nur Methoden, verstehen Sie. Tausende Dinge, unzählige Ionen lenken uns von unserer wahren Natur ab, aber wenn es wirklich darauf ankommt, gibt es nur zwei Wege: das Sammeln verdienstvoller Taten und Weisheit sowie die Reinigung von Kleshas, also den Gefühlen, die uns daran hindern, klar zu sehen. Können Sie mir folgen? Zeremonien, Stupas, Opfer, all das gehört zum Sammeln verdienstvoller Taten. Allerdings sind viele leider so beschäftigt mit dem Sammeln verdienstvoller Taten, dass sie das eigentliche Ziel aus dem Blick verlieren. Hier im Himalaya lieben wir Symbole! Die Menschen erzählen stolz, sie hätten hunderttausend Mantras aufgesagt, denn sie lieben es, konkrete Ziele zu erreichen. Doch das endgültige Ziel ist und bleibt Erleuchtung.«

Die mir zugestandene Zeit war vorbei, und Tsewang musste aufbrechen, die Pflichten der klösterlichen Leitung riefen. Ich dankte und stand auf, um zu gehen, aber er bedeutete mir sitzen zu bleiben und rief verschiedene Namen, bis eine Nonne die Nonne zu ihm brachte, die er eigentlich sprechen wollte. Sie hieß Tashi und war vierundzwanzig Jahre alt.

»Sie spricht gut Englisch und kann Ihnen noch mehr erklären«, sagte Tsewang und lief so hastig den Flur hinunter, dass sein Mönchsgewand flatterte.

Tashi lud mich in ihre kleine Zelle ein, die sie mit zwei anderen Nonnen teilte. Auf dem Boden lagen drei Matratzen, an der Wand hingen einige wenige Fotos von Eltern und Geschwistern. Wir setzten uns im Schneidersitz auf zwei dünne Kissen. Tashi stammte ursprünglich aus Kaza und war seit sieben Jahren Nonne. Sie hatte ein längliches, schmales Gesicht, trug eine dicke Brille und redete schnell und eifrig.

»Um ehrlich zu sein, war es nicht meine Idee, Nonne zu werden, sondern die Idee meiner Mutter. Meine Mutter hatte ein hartes Leben. Mein Vater starb, als ich zwölf Jahre alt war, und von da an musste sie sich ganz allein um mich und meine Geschwister kümmern. Sie meinte, ein Leben als Nonne sei einfacher und besser für mich als ein normales Leben. Würde ich ein normales Leben führen, würde mich mein Familienleben in Anspruch nehmen, ich müsste mich mit Problemen mit meinem Ehemann und den Kinder und so weiter beschäftigen. Als Nonne bin ich frei und muss mir um so etwas keine Sorgen machen. Stattdessen kann ich für alle lebenden Wesen auf der ganzen Welt Gutes tun. Bevor ich ins Kloster ging, wusste ich nicht so viel über den Buddhismus und was es heißt, Nonne zu sein. Ich wusste nur, dass Nonnen Mantras rezitieren, beten, sich das Haar abschneiden und ein rotes Gewand tragen. Als ich selbst Nonne wurde, begriff ich, wie intensiv Nonnen studieren, wie viel sie lernen. Ich bin meiner Mutter ewig dankbar!«

»Hätten Sie nicht auch etwas Gutes für die Menschheit tun können, wenn Sie zum Beispiel Ärztin oder Lehrerin geworden wären?«

»Der Ehrgeiz, Arzt oder Lehrer zu werden, ist ein sehr geringer Ehrgeiz«, entgegnete Tashi lächelnd. »Wenn man Arzt oder Lehrer wird, beschäftigt man sich nur mit diesem einen Leben.«

Ich bat sie, mir zu erzählen, wie ein gewöhnlicher Tag im Kloster aussah, und Tashi antwortete ausführlich. Die Tage waren bis ins kleinste Detail durchgeplant.

»Wir stehen um fünf auf und pauken buddhistische Schriften bis um sechs. Dann findet eine halbe Stunde eine gemeinsame Puja statt, also ein Gebet. Danach haben wir bis zum Frühstück um acht Uhr Zeit für eine eigene Meditation, um zu arbeiten, für Gymnastik oder um eigene buddhistische Texte zu lesen. Von halb neun bis halb elf werden wir in buddhistischer Philosophie unterrichtet, von halb elf bis elf ist Teepause, dann diskutieren wir eine Stunde mit unserem Lehrer. Danach ist eine Stunde Zeit für eigene Studien, bis wir um eins zu Mittag essen. Nach dem Mittagessen ruhen wir uns eine Stunde aus. Von halb drei bis halb vier sind wieder eigene Studien angesetzt, gefolgt von einer halben Stunde Teepause. Von vier bis halb sechs findet eine Religionsstunde statt, in der wir durchgehen, was wir morgens gelernt haben, nur wir Nonnen, ohne Lehrer. Danach, von halb sechs bis halb acht ist Zeit für Diskussionen, dann ruhen wir uns aus und essen um acht zu Abend. Nach dem Abendessen folgen eigene Studien bis um zehn. Dann ist der Tag um, und wir haben frei. Wir waschen uns das Gesicht und putzen die Zähne. Um halb elf gehen wir zu Bett.«

»Ihr habt viel Philosophie, und es wird auch viel diskutiert«, bemerkte ich. »Ich dachte, Nonnen und Mönche beschäftigten sich vor allem mit Meditation.«

»Das dachte ich auch! Aber in Wahrheit meditieren wir nicht mehr als eine halbe Stunde pro Tag. Buddha sagt, es gibt drei Stufen des Verständnisses: Zuhören, Kontemplation und Meditation. Ich bin vorläufig noch auf der ersten Stufe. Die buddhistische Philosophie ist ein weites Feld. Es gibt so viel zu diskutieren! Buddha sagt, wir sollen seinen Unterricht und seine Lehrsätze nicht akzeptieren, nur weil er sie aufgestellt hat. Wenn wir Gold kaufen, überprüfen wir doch den Goldgehalt genau, bevor wir bezahlen, oder? Das Gleiche müssen wir mit Buddhas Schriften tun. Ich habe die buddhistische Philosophie erst zwei, drei Jahre studiert. Für den Buddhismus ist das eine kurze Zeit. Ich habe vermutlich nur einige wenige Prozente von all dem gelernt, was es zu lernen gibt.«

»Wie ist das, so eng mit anderen Nonnen zusammenzuleben? Gehen sie Ihnen nicht manchmal auch auf den Wecker?«

»Oh nein, niemals!«, versicherte Tashi. »Wir diskutieren ja jeden Tag über neue Dinge. Natürlich streiten wir uns auch hin und wieder, denn wir sind alle im Samsara gefangen, dem ewigen Kreislauf von Geburt, Tod und Wiedergeburt, aber nach ein paar Minuten vertragen wir uns immer wieder.«

»Gibt es etwas, was Sie am Klosterleben nicht mögen?«, fragte ich weiter.

Zum ersten Mal schwieg Tashi. Sie dachte eine Weile nach.

»Ich glaube nicht«, sagte sie schließlich. »Ich mag alles hier. Bevor ich Nonne wurde, habe ich gern lange geschlafen. Ich schlief jeden Tag bis halb neun. Am Anfang war es nicht so einfach, so früh aufzustehen, aber jetzt bin ich es gewohnt. Ich bin glücklich hier.«

»In gewisser Weise leben Sie hier in einer Blase«, wandte ich ein. »Kommt es vor, dass Sie deprimiert sind, wenn Sie die Nachrichten sehen? Es passieren so viele traurige Dinge, es gibt so viel Leid auf der Welt. Globale Erwärmung, Kriege, Terrorismus …«

»Ich muss zugeben, dass wir nicht so viele Nachrichten sehen.« Tashi lächelte entschuldigend. »Unser Lehrer sagt, wir sollen die Nachrichten verfolgen, durch das Fernsehen sei die ganze Welt zugänglich. Er selbst schaut BBC und erzählt uns von wichtigen Dingen, die passieren. Aber wir Nonnen sehen am liebsten Filme, keine Nachrichten. Wir dürfen nur am Sonntag und Montagabend fernsehen, und da schauen wir meist gemeinsam Bollywood-Filme.« Sie lachte. »Es kommt aber auch vor, dass wir uns Actionfilme ansehen! Am liebsten mögen wir Realityshows, vor allem Gesangswettbewerbe – das sind die besten!«

Es war spät geworden, und die Nonnen mussten bald ins Bett. Draußen war es längst dunkel. Als ich aufstand, um zu gehen, gestand mir Tashi mit einem kleinen Seufzen: »Ich ärgere mich, dass ich so viel Zeit verschwendet habe! Die ersten fünf Jahre, als ich in einem anderen Kloster lebte, in Dehradun, haben wir keine Philosophie studiert, wir lernten nur praktische Dinge, wie wir zu beten und zu opfern hatten, wie wir unsere Mantras aufsagen sollten. Wir hatten viel Freizeit dort, aber ich vergeudete sie, indem ich mit Freundinnen plauderte und im Internet surfte … Ich wusste nicht, dass ich so wenig Zeit habe. Dass es so viel zu lernen gibt …«

Als ich am nächsten Morgen erwachte, waren die Berge verschwunden. Dichter Nebel hing über dem Tal und bedeckte das Dorf, die Berghänge, den Fluss, alles. Es regnete heftig, draußen wie drinnen war es klamm und kalt. Fröstelnd nahmen wir Abschied von den Nonnen und fuhren weiter durch das Tal nach Dhankar (3894 Meter über N.N.), einem kleinen Dorf, das der Hauptsitz der Könige von Spiti in der kurzen Periode der Selbstständigkeit des Tals war.

Das über achthundert Jahre alte Kloster in Dhankar war ganz außen auf einem Felsen gebaut und beinahe mit dem Berg verwachsen. Ein mit Stroh ausgestopfter Ziegenkadaver baumelte über der Treppe zum Eingang des Klosterhofes. Tenzin nahm mich mit in die Räume, in denen die Mönche die furchterregenden Holzmasken aufbewahrten, die sie bei ihren rituellen tantrischen Tänzen verwendeten: rotbemalte Dämonen mit weit aufgerissenen Mäulern und Fangzähnen, Totenköpfe und grinsende Hirschgesichter. Den Gebetsraum der Mönche durfte ich nicht betreten, keine Frau kam dort hinein. Das untere Stockwerk war so niedrig, dass wir nicht aufrecht stehen konnten. Uralte verblichene Thangkas, religiöse Malereien, hingen dicht an dicht an der Wand, eingerahmt von bunten Seidenstoffen.

Einer der Mönche bemerkte Tenzin und mich und lud uns zum Tee ein. Der Boden und die Wände in dem grottenartigen Aufenthaltsraum waren mit einfachen Teppichen bedeckt. Eine Handvoll Mönche saß um einen kleinen Holzofen in der Mitte des Raumes, jeder hatte eine Teetasse in der Hand. Da der Ofen keinen Abzug hatte, war die Luft dicht von Rauch. Ich spürte, wie die Wärme allmählich wieder in die Zehen und Fingerspitzen zurückkehrte, die Haut prickelte.

»So sitzen wir den ganzen Winter über da«, sagte Tenzin lächelnd.

Wir übernachteten im Gästehaus des Klosters, direkt neben dem neuen Kloster. Der Strom war bereits den dritten Tag unterbrochen, und weiterhin regnete es in Strömen. Keiner der Mönche hatte Zeit, sich mit mir zu unterhalten; sie saßen allein in ihren kleinen Lehmhütten und waren damit beschäftigt, die Dächer und die Wände abzudichten, um die Hütten nicht zu sehr auskühlen zu lassen.

Am nächsten Morgen war es noch grauer und unangenehmer als am Vortag; ich konnte gerade so die Konturen des weiß-roten Klostergebäudes auf der entgegengesetzten Seite des Hofes erkennen. Das Morgengebet war abgesagt worden, da alle Mönche noch immer mehr als genug zu tun hatten, das Regenwasser abzuhalten. Auf dem Hofplatz trotzte ein Gruppe Jungen dem langweiligen Wetter, sie spielten Fußball in den Matschpfützen. Eifrig liefen die kleinen Mönche dem Ball hinterher, mit ernsten, konzentrierten, völlig ins Spiel vertieften Gesichtern.

Tenzin und ich liefen zum Auto und setzten unsere Fahrt durch Regen und Nebel fort. Rakesh, unser Fahrer, klammerte sich ans Lenkrad, ausnahmsweise einmal still. Das Tal, das bei unserer Ankunft in der Sonne gelegen hatte, war geradezu ausgewischt, wir konnten nur einige wenige Meter voraus sehen. Auf der schmalen Fahrbahn lagen überall Steine, die im Laufe der Nacht aus der Felswand gebrochen waren, und noch immer fielen neue Brocken plötzlich direkt vor den Wagen. Rakesh fuhr zwischen den Steinen Slalom und richtete die ganze Zeit ein Auge auf die neblige Bergseite, jederzeit bereit für eine Vollbremsung oder um Vollgas zu geben.

Im Laufe des Vormittags erreichten wir das winzige Dorf Tabo (3280 Meter über N.N.). Mehrere Tempel des Klosterkomplexes waren über tausend Jahre alt, gebaut aus grauem getrocknetem Lehm und ausgeschmückt von den besten Malern und Bildhauern der damaligen Zeit – eine Mischung aus tibetischem, indischem und kaschmirischem Stil. Die Tempel von Tabo allein waren die ganze anstrengende Fahrt durch das Spiti-Tal wert. Die Wände waren bedeckt mit tausend Jahre alten Malereien in Gold, Rot und Blau; die Farben hatten sich erstaunlich gut in den dunklen Tempelräumen erhalten. Die bemalten und ebenfalls aus Lehm gefertigten Buddha-Statuen sahen zerbrechlich und gleichzeitig zeitlos aus. In den dunklen, lediglich von Kerzen erleuchteten Räumen, die voller Schatten waren, wurde die Vergangenheit für einen kurzen Moment lebendig.

Vor dem Haupttempel lag ein Haufen Schuhe: Stiefel, Sandalen, Sneaker, Stiefeletten mit Pelzkante. Im Tempelsaal saßen ältere Frauen und Männer aus dem Dorf in langen Reihen und diskutierten unter viel Gelächter mit dem Lama des Klosters, der eine Vorlesung über den Buddhismus hielt. In dem kargen, steilen Berghang über dem Kloster, in dem milchweißen Nebel kaum sichtbar, lagen dicht an dicht kleine Höhlen, in denen Mönche über die Jahrhunderte hinweg einsam über die der Welt innewohnende Leere meditiert hatten.

Vielleicht ist es nicht verwunderlich, dass der Buddhismus sich ausgerechnet hier, in diesen öden Bergtälern, festsetzte, wo so gut wie nichts wächst, und noch immer eine so starke Anziehungskraft besitzt. Hier war das Leben schon immer hart, vor allem im Winter, wenn der Schnee die ohnehin isolierten Dörfer noch mehr abriegelte. In solchen Umgebungen muss es leichtfallen, über die Leere und die Bedeutungslosigkeit des menschlichen Lebens nachzudenken. Auch rein praktisch gestalteten sich die Verhältnisse so, dass der Buddhismus hier aufblühen konnte: Die Menschen sind arm, und fruchtbarer Boden ist eine knappe Ressource, die lediglich der älteste Sohn erben kann. Die Klöster, die eng mit diesen kleinen, kargen lokalen Gemeinschaften verbunden waren, haben praktisch die Kinderheime und Schulen ersetzt, eine Entlastung der Eltern, die es nicht schafften, alle Münder zu stopfen, und ein Ausweg für die Kinder, die keine andere Möglichkeiten hatten, sich den Lebensunterhalt zu verdienen.

Nur neun Kilometer von der tibetischen Grenze entfernt liegt Gue (3200 Meter über N.N.). Die einzige Sehenswürdigkeit des schläfrigen kleinen Dorfs ist ein fünfhundert Jahre alter Mönch namens Sangha Tenzin. Der Mönch wurde 1975 nach einem Erdrutsch gefunden und befindet sich nun in einem Glaskasten in einem kleinen weißen Haus am Ende der Mummy Road, des Mumienweges. Der winzige, spindeldürre Mönch hockt zusammengekauert auf einem Bett aus Geldscheinen; die dunkelbraune pergamentartige Haut ist verhüllt mit einem weißen Seidenschal. Das Kinn des Mönchs ruht auf seinem linken Knie, die Arme sind um die Beine geschlungen. Hinter den offenen Lippen leuchtet eine Reihe weißer Zähne. Ein Auge steht offen, der Augapfel ist noch immer intakt. Auch die Augenbrauen haben sich erhalten, und auf dem Kopf kann man noch die Reste des kurz geschorenen Haars des Mönchs sehen.

»Er hat sich selbst mumifiziert«, sagte Tenzin andächtig und verbeugte sich tief vor der Vitrine.

Der Legende nach soll Sangha Tenzin sich tatsächlich selbst mumifiziert haben, um das Dorf von giftigen Skorpionen zu befreien, von denen es geplagt wurde. Als er starb, soll ein Regenbogen am Himmel erschienen sein, und die Skorpione verschwanden. Die Mumie in Gue ist der einzige mumifizierte Lama, der je im Himalaya gefunden wurde, doch in Japan gibt es die Überreste von insgesamt sechzehn Mönchen, die sich selbst mumifiziert haben sollen. Sie haben angeblich zunächst tausend Tage gehungert, um sämtliches Körperfett zu verlieren, danach sollen sie ein Gift getrunken haben, das sie langsam umbrachte und gleichzeitig dazu beitrug, die inneren Organe nach Eintritt des Todes vor der Verwesung zu bewahren. Als der Tod sich näherte, wurden sie in ein unterirdisches Grab gebracht, wo sie Mantras aufsagten und mit einer Schelle klingelten. Wenn die anderen Mönche die Schelle nicht mehr hörten, wussten sie, dass der Lama tot war.

Bis vor einigen Jahren hatten Händler den Pass nach Tibet ungehindert überqueren können, und die Tibeter waren nach Gue und in die übrigen Dörfer im Spiti-Tal gewandert, um Decken und andere von ihnen produzierte Waren zu verkaufen. Vor gut zehn Jahren hatten die indischen Behörden einen Militärposten außerhalb des Dorfes eingerichtet und dadurch den illegalen Grenzhandel unterbunden. Überall im Himalaya wiederholt sich dieselbe Geschichte: Grenzen werden geschlossen, die Nationalstaaten schotten sich ab und verstopfen die Löcher mit Militärposten.

Das kleine Dorf Gue wirkte öde und verlassen; nur einige wenige Hundert Menschen waren noch geblieben. Eine runzlige Frau in den Fünfzigern sah Tenzin und mich und lud uns in ihre kleine Küche ein. Die Schwiegertochter servierte gekochte süße Milch. Über dem Herd hing ein Plakat mit Zeichnungen, die das indische Devanagari-Alphabet illustrierten – eine Erinnerung, in welchem Land wir uns befanden.

»Wie ist es hier im Winter?«, erkundigte ich mich. Obwohl es noch früh im Herbst war, hatte der erste Schnee in der Nacht seine Ankunft angemeldet und den Boden mit einem feuchten weißen Teppich überzogen.

»In Spiti brauchen wir keine Gefriertruhe, um es mal so zu sagen«, erklärte die Frau und lachte laut auf.

Das Wetter war so unangenehm, dass wir uns entschieden, das Spiti-Tal zu verlassen, solange die Straßen noch befahrbar waren. Wir brachen auf und fuhren bis Nako (3625 Meter über N.N.), einem kleinen Dorf mit traditionellen Häusern aus getrocknetem Schlamm, auf deren flachen Dächern sich Heu und Brennholz stapelten. Die schmalen Wege zwischen den Häusern waren aufgrund des Regens matschig und glitschig und außerdem voller Kuhdung. Tenzin wollte mir das Kloster zeigen, auch dieses stammte aus dem 11. Jahrhundert, aber die Türen waren mit einem schweren Vorhängeschloss verriegelt. Der Mönch, der den Schlüssel besaß, war verschwunden.

Am folgenden Tag regnete es noch mehr. Es hatte den Anschein, als würde der gesamte Bundesstaat allmählich ertrinken. Wir fuhren zickzack zwischen großen Steinen und tiefen Pfützen. Mitten in einer Kurve, die durch einen vom Regen gebildeten Strom nun zweigeteilt war, stand ein verlassener Bus quer. Wie waren die Passagiere weitergekommen? Waren sie zu Fuß gegangen? Überflüssigerweise informierte uns ein Schild, dass wir uns auf The World’s Most Treacherous Road befanden.

Es goss weiterhin in Strömen, und auf der Straße gab es verdächtig wenig Verkehr. Nach einigen Stunden Zickzackfahrt durch das Tal wussten wir weshalb: Ein gewaltiger Steinblock war auf die Fahrbahn gestürzt. Auf beiden Seiten hatte sich eine lange Schlange von Fahrzeugen gebildet.

»Was machen wir?«, wollte ich wissen. Wenden war keine Alternative, die Straße zurück nach Kaza war inzwischen gesperrt.

»Auf das Dynamit warten«, antwortete Rakesh gelassen.

Es kam erstaunlich schnell. Das heftige Dröhnen der Explosion löste weitere Steinbrocken aus der Bergwand, die Menschen rannten in Panik zurück zu ihren Autos. Rakesh betrachtete das Geschehen mit stoischer Ruhe.

»Haben Sie so etwas schon mal erlebt?«, fragte ich ihn. »Dass gesprengt werden musste?« Er lachte herzlich. »Oft! Viel zu oft!«

Zwei Stunden später war die Straße geräumt, wir konnten weiterfahren. Es wurde dunkel, der Regen strömte weiterhin vom Himmel. Als wir endlich wieder ein Telefonnetz hatten, bekam ich besorgniserregende Meldungen von meinen neuen Freunden in Kaschmir. In ganz Himachal Pradesh gab es Unwetter, Hunderte Straßen waren gesperrt, die Menschen ertranken wie Katzen, Städte und Dörfer waren komplett von der Außenwelt abgeschnitten, ausländische Touristen mussten mit Hubschraubern aus dem Spiti-Tal evakuiert werden.

Selten habe ich mich mehr gefreut, in der Ferne urbane Lichtverunreinigung zu sehen. Fünf Tage blieb ich in Shimla (2206 Meter über N.N.), der idyllischen Sommerhauptstadt der Briten, eingehüllt in imperialistische Nostalgie und den Duft von frisch gebrühtem Tee.

Am nächsten Morgen schien die Sonne vom blauen Himmel, und die Berge waren wieder zu sehen, grün, üppig und sanft.