Die Grenze zwischen Indien und Bhutan ist sicher eine der merkwürdigsten der Welt. Das Grenztor steht zwischen der indischen Stadt Jaigaon und dem bhutanischen Phuentsholing (293 Meter über N.N.). Die beiden Städte sind so eng miteinander verwachsen, dass man den Übergang zwischen dem bevölkerungsreichsten Land der Erde und dem buddhistischen Königreich mit unter einer Million Einwohnern kaum bemerkt. Zudem sind die meisten Straßen Einbahnstraßen, sodass man lange Umwege fahren muss, um an sein Ziel zu kommen. Mehrfach überquert man die unsichtbare Grenze zwischen den beiden Städten, wodurch das labyrinthische Gefühl nur noch verstärkt wird.
Mit Ausnahme von Indern, Bangladeschern und – aus welchem Grund auch immer – den Einwohnern der Malediven müssen alle ausländischen Touristen, die Bhutan besuchen, eine feste Summe pro Tag bezahlen, rund zweihundertfünfzig Dollar für ein All-inclusive-Paket, das Guide, Auto, Fahrer, Übernachtungen und Verpflegung beinhaltet. Der Fahrer und der Guide holten mich vom Hotel auf der indischen Seite ab, um mich durch die Grenzformalitäten zu lotsen. Sie trugen beide die bhutanische Nationaltracht, die obligatorisch für alle ist, die öffentliche Ämter bekleiden oder in der Tourismusbranche arbeiten.
Sonam, der Fahrer, trug die Männertracht Gho, eine Art gewebtes, knielanges Kleid, das mit einem dicken, strammen Gürtel zusammengehalten wird, sodass der Stoff eine geräumige Tasche über dem Bauch bildet, in der alles Mögliche aufbewahrt werden kann, von Babys bis zu Brieftaschen. Kniestrümpfe sind ein obligatorisches Accessoire, aber aus Bequemlichkeitsgründen werden, wenn es um Schuhe geht, meist Sneaker getragen. Dechen, mein weiblicher Guide, war mit einer Kira bekleidet, der traditionellen Frauentracht. Die moderne Variante besteht aus einem gewebten Wickelrock mit einem Gürtel, früher war es jedoch üblich, dass die Kira über die Schulter drapiert und wie ein Kleid mit Broschen befestigt wurde. Zu der Tracht gehört eine langärmelige Bluse und eine kurze Seidenjacke, häufig in verschiedenen, aber passenden Farben. Als ich zum ersten Mal in Bhutan war, faszinierten mich diese exotischen Trachten, ich hatte das Gefühl, wirklich in ein ganz anderes Land gekommen zu sein, einen besonderen und seltsamen Ort auf der Welt. Nun machten sie keinen großen Eindruck mehr auf mich, sie gehörten bereits zum Alltag. Der erste Eindruck von Menschen und Orten ist wertvoll – man ist offen und empfänglich und saugt die fremden Details förmlich auf –, der zweite Eindruck aber lässt es nicht selten zu, ein wenig weiter zu sehen, hinter die Fassade.
In dem indischen Grenzbüro im Zentrum von Jaigaon gab es vier Schalter, von denen allerdings keiner besetzt war. Im Stockwerk darüber gelang es Dechen, einen bebrillten Bürokraten aufzuspüren, der wiederum anfing, nach einem anderen Bürokraten zu suchen, der uns helfen konnte. Schließlich tauchte ein Grenzoffizier auf, und nach einer weiteren halben Stunde hatte er den Computer angeworfen und das System in Gang gesetzt. Schläfrig stempelte er meine Ausreise aus Indien ab.
Wir fuhren aus der gigantischen Republik in das kleine Königreich. Ich bekam nicht mit, wann genau wir die Grenze überquerten, aber da die Schilder an den Geschäften nun tibetische Buchstaben zeigten, vermutete ich, dass wir in Bhutan waren. Niemand weiß genau, woher der Name Bhutan kommt – möglich ist eine Anpassung des Sanskrit-Wortes Bhota-anta, »Ende von Tibet«. Die Bhutanesen nennen ihr Land Druk Yul, das Land des Donnerdrachens. Der Donnerdrache ist das Nationalsymbol Bhutans mit einem prominenten Platz auf der Flagge. In der nächsten Straße waren alle Schilder mit dem indischen Devanagari-Alphabet beschriftet, folglich waren wir also zurück in Indien, doch kurz darauf befanden wir uns wieder im Land des Donnerdrachens. Nachdem wir uns eine Weile durch die Einbahnstraßen vor und zurück geschlängelt hatten, erreichten wir das kleine Einwanderungsbüro am Grenztor. Der Mann hinter dem Computerbildschirm, der auch Gho trug, nahm meinen Pass und registrierte mich feierlich. Lächelnd versah er eine leere Seite mit einem dreieckigen Stempel und hieß mich willkommen in Bhutan.
Thimphu (2334 Meter über N.N.), die Hauptstadt, liegt zweitausend Meter höher als Phuentsholing. Die Straße dorthin schlängelte sich sanft aufwärts, umgeben von grüner subtropischer Vegetation und dichtem Wald. Bhutan ist eines der ganz wenigen Länder, die mehr CO2 absorbieren als ausstoßen, dies liegt unter anderem an der Verordnung, dass mindestens sechzig Prozent der Fläche Bhutans bewaldet sein muss. Heute sind sogar über siebzig Prozent des kleinen Königreichs von Bäumen bedeckt. An der Straße saßen Affen, lausten sich gegenseitig und schauten in der Hoffnung auf einen Leckerbissen den Autos hinterher.
Für eine Hauptstadt ist Thimphu nicht groß. Die Stadt hat rund hundertfünfzehntausend Einwohner, ungefähr fünfzehn Prozent der Gesamtbevölkerung des Landes – die Chance, in der Lotterie des Lebens als Bhutanese geboren zu werden, ist folglich verschwindend gering. Da die wenigen Einwohner sich über eine relativ große Fläche verteilen, erscheint die Hauptstadt größer, als sie tatsächlich ist. Sämtliche Gebäude sind im traditionellen Drachenstil gebaut, mit bemalten Holzdetails und niedrigen schrägen Dächern. Dadurch wirkt die Stadt einheitlicher und gemütlicher als indische Städte, in denen Beton dominiert. An der einzigen großen Kreuzung der Stadt stand ein Polizist auf einem hübsch verzierten Sockel und regelte den Verkehr mit weichen, harmonischen Handbewegungen. Wir glitten vorbei und hatten kurz darauf das Hotel erreicht. Vermutlich ist Thimphu die einzige Hauptstadt der Welt ohne eine Ampel.
Als ich auf mein Zimmer gehen wollte, räusperte sich Dechen hinter mir.
»Ich muss Ihnen noch etwas sagen.« Sie sah mich gequält an. »Ich habe die ganze Nacht und den ganzen Tag heute darüber nachgedacht, und nun sage ich es einfach, wie es ist, ich kann es nicht länger für mich behalten.« Sie räusperte sich erneut. »In Merak im Osten Bhutans bin ich bisher nur einmal als Kind gewesen, ich weiß daher nicht, ob ich Ihnen dort ein guter Guide sein kann! Es tut mir furchtbar leid, aber jetzt wissen Sie es jedenfalls.«
Ich beruhigte Dechen, dass ich mir überhaupt keine Sorgen machte und sicher sei, dass uns ein interessanter Aufenthalt in Merak erwarte.
Dechens Verzweiflung löste sich in einem erleichterten Lächeln auf.
»Ich musste es einfach sagen, ich konnte Sie nicht länger hinters Licht führen«, strahlte sie. »Gut, dass ich es gesagt habe!«
Am Abend nahm Dechen mich in ein öffentliches Bad mit, in dem das Wasser durch glühende Steine erwärmt wurde, eine bhutanische Besonderheit. Das Bad lag auf einem Gelände außerhalb des Zentrums, unterhalb einer selbst gebauten Bar, an der junge Männer in Jeans und Lederjacke saßen und Bier tranken, Chilis knabberten und sich lautstark unterhielten. Ich bekam in dem lang gestreckten Badegebäude eine Kabine für mich. Sie war zweigeteilt, getrennt durch einen Vorhang. Im Umkleidebereich gab es eine kleine Bank, auf die man seine Kleidung legen konnte, hinter dem Vorhang stand eine schmale Badewanne aus Holz. Eine nackte Glühbirne an der Decke sorgte für notdürftige Beleuchtung. Die Badewanne war in zwei Kammern geteilt – das untere Ende führte durch eine niedrige Öffnung in der Holzwand, sodass der Bademeister Wasser auffüllen und glühende Steine hineinlegen konnte, ohne in direkten Kontakt mit dem oder der Badenden zu kommen. Die Steine wurden in einem großen Holzfeuer erhitzt und zischten gewaltig, wenn sie im Wasser versenkt wurden. Im Wasser schwammen verschiedene Kräuter mit Fichtentrieben, Kiefernnadeln und einigen anderen Pflanzen, die ich nicht identifizieren konnte.
Langsam, Stück für Stück ließ ich mich in das glühend heiße Wasser gleiten. Das Herz schlug mir heftig in der Brust, die Haut brannte, und ich schwitzte wie in einer Sauna. Hunderte Stunden auf staubigen, holprigen Straßen lösten sich von der Haut und gingen in Dampf auf. Gerade als ich mit dem ganzen Körper eingetaucht war, füllte der Bademeister weitere glühende Steine ein. Es brodelte und zischte, und ich sprang aus der Wanne, blieb auf dem Rand sitzen und betrachtete das blubbernde Wasser.
»Ist Ihnen kalt?«, erkundigte sich der Bademeister. »Brauchen Sie noch mehr Steine?«
»Vorläufig ist alles in Ordnung!«, versicherte ich.
Als das Wasser aufgehört hatte zu zischen, stieg ich vorsichtig wieder in die Wanne und ließ mich von der Hitze umschließen. Als ich endlich wieder hinausstieg, war es draußen stockdunkel. Ich hatte das Gefühl, als sei mein Körper schwer und mein Kopf benommen; noch einmal blieb ich ein paar Minuten auf dem Rand sitzen, um mich abzukühlen.
»Was machen Sie denn da drinnen? Warum dauert es so lange?«, rief Dechen besorgt durch die Tür. »Ihnen darf nicht kalt werden, Sie könnten sonst krank werden!«
Am nächsten Morgen erhielt ich die Nachricht, dass Dechen mich nicht weiter begleiten könne. Ihre Tochter war krank. Es war nichts Ernstes, aber das Mädchen hatte ein wenig Fieber und wollte nicht schlafen, und Dechens Mutter mochte nicht ganz allein auf eine verschnupfte und kränkelnde Einjährige aufpassen. Dechen traf mich an einer Kreuzung, als sie ihr Gepäck holte.
»Es tut mir so leid«, sagte sie beinahe unter Tränen.
»Machen Sie sich keine Gedanken«, sagte ich. »Wie geht es Ihrer Tochter? Haben Sie einen Arzt geholt?«
»Wir gehen heute noch ins Krankenhaus, aber erst muss ich sie mit in den Tempel nehmen. Ich arbeite die ganze Zeit und bin daher nicht oft genug mit ihr im Tempel gewesen. Ich glaube, deshalb ist sie krank geworden.«
An ihrer Stelle begleitete mich Sangye nach Osten, ein sportlicher, energischer Bursche in meinem Alter. Der Weg nach Bumthang war lang. Überall gab es Straßenarbeiten, die von mageren Indern in staubiger, zerlumpter Kleidung ausgeführt wurden. Hin und wieder mussten wir eine halbe oder ganze Stunde warten, bevor es durch Rhododendronwälder und steile Bergpässe weiterging, an denen dicht an dicht Tausende bunte Gebetsfahnen hingen. Plötzlich fuhren wir an Pfählen mit weißen flatternden Fahnen vorbei – Gebeten für die Toten. Häufig waren die Fahnen so zerschlissen, dass nur noch Fetzen übrig waren.
Es war bereits dunkel, als wir in Bumthang (2800 Meter über N.N.) ankamen, das ungefähr in der Mitte von Bhutan liegt. Normalerweise leben dort rund fünftausend Menschen, nun hatte sich die Zahl verdreifacht. Überall waren Autos und Menschen, aber im Gegensatz zu Indien hupte niemand. Die Fahrer warteten geduldig, bis sich der Stau von selbst auflöste.
Der kleine Platz vor dem Tempel war voller Menschen. Muskulöse Mönche in gelben Seidengewändern und grotesken Holzmasken tanzten langsam um ein Feuer. Ein Gestell aus vier Pfählen war darüber aufgebaut, auf dessen Spitze die Zeichnung einer Göttin lag. Im Tempel saß ein einzelner Mönch und schlug langsam zwei Zimbeln gegeneinander: Kling! … Kling! … Kling! Tausende Touristen und Einwohner Bumthangs waren erschienen, es wurde gedrängelt, um einen Platz zu ergattern. Ein großer Niederländer stellte sich direkt hinter mich und benutzte meine Schulter als Kamerastativ. Als die Göttin in Flammen aufging, fing er an, den Winkel meiner Schulter zu justieren, um die bestmögliche Stütze zu haben.
»Es ist sehr gut für Frauen, dieses Ritual zu betrachten«, flüsterte Sangye, der sich nie sehr weit von mir entfernte. »Vor allem für Frauen, die keine Kinder bekommen können«, fügte er wie nebenbei hinzu.
Wie auf ein geheimes Signal hin lief der größte Teil der Zuschauer nun auf das Gelände hinter dem Tempel. Dort stützten zwei hohe Pfähle einen Querbalken, alle drei Pfähle waren mit dicken Bündeln Tannengrün bedeckt. Eine Handvoll Mönche kam mit brennenden Fackeln und zündete das Tannengrün an. Sekunden später stand die gesamte Installation in Flammen, und die Menschen fingen an, durch das Flammentor zu laufen. Wieder und wieder liefen sie, mehrere Tausend Menschen, johlend, schreiend, mit Jacken über den Köpfen, damit die Haare nicht Feuer fingen, alte Frauen, junge Männer, Kinder, alle rannten. Mit jeder Minute loderten die Flammen wilder, brennende Tannenzweige fielen zu Boden, aber die Menschen hörten nicht auf zu laufen, bis das Feuer beinahe erloschen war.
»Dieses Ritual ist sehr gut für Frauen«, behauptete Sangye wieder. »Vor allem für Frauen, die keine Kinder bekommen können«, fügte er nachdenklich hinzu.
Der Höhepunkt des Abends sollte am späteren Abend stattfinden. Niemand wusste, wann genau.
»Die Tänzer kommen heraus, wenn sie bereit sind«, erklärte Sangye. »Sie müssen sich erst Mut antrinken.«
In der Zwischenzeit strömten Menschen aus den umliegenden Tälern in Autos und Taxis heran. Aus dem Tempel hörte man lallende Gesänge und das ein oder andere Gebrüll.
»Der Tanz, der gleich aufgeführt wird, wurde von dem großen tantrischen Meister Dorje Lingpa im 14. Jahrhundert erfunden«, erklärte Sangye. »Er kam hierher, um den Einwohnern zu helfen, einen Tempel zu bauen, aber eine Schar böser Geister behinderte die Arbeit. Um die Geister abzulenken, schuf der Meister diesen Tanz. Die Geister waren verzaubert von dem Tanz, und der Tempel wurde fertig. Seither wird der Tanz jedes Jahr hier in Bumthang vorgeführt, er ist sehr heilig. Wenn die Tänzer ihren Schatz präsentieren, vertreiben sie die bösen Geister, und gleichzeitig werden die Zuschauer gesegnet. Alle bewussten Schöpfungen sind dank des Schatzes zur Welt gekommen.«
Sechzehn sichtlich betrunkene Männer kamen torkelnd aus dem Tempel. Sie hatten sich lange Baumwollstreifen um den Kopf gebunden, sodass nur die Augen sichtbar waren, ansonsten waren sie splitternackt. Die tantrischen Tempeltänze werden normalerweise von jungen Mönchen vorgeführt, diesen Tanz präsentierten jedoch ausgewählte Männer aus den umliegenden Tälern.
Bumthang liegt auf beinahe dreitausend Metern Höhe, und die Nacht war kalt und klar. Die Kälte hatte offensichtlich auch einen gewissen Effekt auf die »Schätze«, die eingeschrumpft und beinahe verschwunden waren. Die Tänzer sammelten sich am Feuer, blieben dort stehen und zupften und zogen an ihren Geschlechtsteilen, während sie auf und ab hüpften, um sich warm zu halten. Zwischendurch tauten sie auf und vollführten obszöne Bewegungen, als hätten sie Geschlechtsverkehr miteinander. Das Publikum johlte und lachte und wollte mehr sehen. Die Allereifrigsten waren viele Stunden vorher gekommen, um einen Platz ganz vorn zu erwischen; sie betrachteten den Auftritt mit andächtiger Stille. Sangye und ich waren nicht schnell genug gewesen und mussten mit einem Platz weit hinten vorliebnehmen. Wir hatten schlechte Sicht auf die Schätze, bis die sechzehn nackten Männer plötzlich auf dem Weg zu einem der anderen Tempel an uns vorbeizogen. Mehrere Tänzer hielten schützend die Hände vor ihren Schatz, während sie sich durch die Volksmenge schlängelten.
»Weg mit den Händen!«, schrien die Leute empört. »Zeigt den Schatz!« Einzelne setzten sich in die Hocke, um die bestmögliche Sicht zu haben.
»Es ist wichtig, sich den Tanz zusammen mit der Familie anzusehen«, sagte Sangye. »Während des Tanzes muss man sich konzentrieren und an den Schatz denken. Er wird dir all deine Sünden vergeben und dich segnen. Es ist besonders wohltuend für Frauen, die keine Kinder bekommen können«, fügte er tiefsinnig hinzu.
Als die Tänzer nach der Tempelrunde zurückkehrten, stellten sie sich wieder eng zusammen ans Feuer, um sich aufzuwärmen. In der Volksmenge schrie jemand irgendetwas, und kurz darauf stürzten sich die nackten Männer wütend in die Menge und rannten auf einen jungen Mann zu. Die Leute schrien, brüllten und schubsten.
»Am besten, wir gehen.« Sangye nahm meinen Arm und führte mich weg von den Volksmassen. »Ich glaube, jemand hat zu fotografieren versucht.«
Wie sich herausstellte, hatte tatsächlich jemand sein Telefon gehoben, aber nur, um nachzusehen, wie spät es war. Der heilige Tanz war in dieser Nacht ohnehin vorbei.
Der Tanz am Tag war nicht so populär. Mit Ausnahme von einigen interessierten älteren Leuten, die mit Picknickkörben und Thermosflaschen auf Decken und Kissen in der ersten Reihe saßen, bestand das Publikum aus Touristen und Guides. Wie am Vorabend schlug ein Mönch langsam zwei Zimbeln gegeneinander, während vier Männer in bauschigen gelben Röcken sich mit langsamen, theatralischen Bewegungen auf dem Platz drehten. Vor dem Gesicht trugen sie schwere rote Holzmasken mit Reißzähnen und hervorquellenden Augen.
»Dieser Tanz wurde von Padmasambhava im 8. Jahrhundert eingeführt«, erklärte Sangye.
Die Zimbeln schwiegen einen Moment, dann setzten sie wieder ein, monoton und schleppend: Kling! … Kling! … Kling! Die Tänzer bewegten sich langsam im Kreis, mit ausladenden, rituellen Gesten.
»Auch dieser Tanz wurde von Padmasambhava im 8. Jahrhundert eingeführt«, sagte Sangye. »Die Mönche sollen die bösen Geister überwinden und sie in den dreieckigen Schrein sperren, der auf dem Boden steht.«
Eine Viertelstunde später, als die bösen Geister überwunden und gefangen waren, verschwanden die Tänzer im Tempel und eine neue Gruppe betrat den Platz, auch sie trugen furchteinflößende Holzmasken und bauschige gelbe Röcke.
»Padmasambhava hat diesen Tanz im 8. Jahrhundert eingeführt«, informierte mich Sangye.
Mit jedem Tanz wurden die Holzmasken erschreckender, und alles kulminierte im Todestanz, bei dem die Mönche lange Schwerter über den Boden schleppten. Die schwarzen Holzmasken waren mit Totenschädeln dekoriert. Eine Art Clown, der eine feuerrote Maske und schwarze Kleider trug, lief mit einem gewaltigen roten Holzphallus in den Händen umher. Er schlug den Leuten mit dem Glied auf den Kopf und vollführte obszöne Bewegungen vor dem lachenden Publikum, das ihm Geldscheine zusteckte.
»Wenn er jemandem mit dem Glied berührt, bedeutet das Glück«, bemerkte Sangye. »Vor allem für Frauen, die keine Kinder bekommen können«, fügte er vielsagend hinzu.
»Aber wo sind die Leute?«, fragte ich. »Gestern war alles voller Zuschauer, und jetzt sind nur Touristen hier?«
»Die meisten Leute sind nicht so oft hier oben«, grinste er. »Um auf das Klostergelände zu kommen, müssen wir Bhutanesen formelle, traditionelle Kleidung tragen. Am späteren Nachmittag werde ich Ihnen zeigen, wo sich die Leute gern aufhalten. Jetzt schlafen die meisten noch.«
Es wurde überraschend warm in der Nachmittagssonne, und die Touristen zogen sich in den Schatten oder in ihre Hotels zurück. Nur ein Kern alter Kenner blieb mit Thermosflaschen reglos in der ersten Reihe sitzen, Tanz um Tanz.
Sangye nahm mich zu dem Tempel mit, den die betrunkenen, nackten Tänzer am Vorabend umrundet hatten. Das Gebäude war weiß gekalkt, mit roten Streifen unter dem goldfarbenen Dach. Auf dem eigentlichen Dach gab es kleinere Aufbauten, die an Schatztruhen erinnerten. Die Wände waren so dick, dass es eng im Tempel war, in dem große vergoldete Statuen von Buddha und Padmasambhava mit schmalen, länglichen Augen unergründlich auf den Horizont starrten.
»Dies ist einer der ältesten Tempel Bhutans«, dozierte Sangye. »Im 7. Jahrhundert bereitete ein böser Dämon ganz Tibet große Probleme, auch hier. Um ihn zu zähmen, ließ König Songtsen Gampo, der tibetische Regent, im Jahr 659 hundertacht Tempel an einem Tag erbauen. Dies ist einer davon.«
Als die Sonne allmählich unterging und ein blaulila Licht sich über das Tal legte, beschloss Sangye, dass es an der Zeit sei, mir zu zeigen, wo die Menschen sich am liebsten aufhielten. Wir verließen den Tempelbezirk und gingen hinunter zu dem Gelände hinter den Parkplätzen, wo kleine Karusselle für Kinder sowie eine Reihe kleiner Bewirtungszelte und Buden aufgebaut waren, die von Spielzeugpistolen bis zu billigen indischen Kleidern alles verkauften. Hinter den Karussellen und Verkaufszelten standen dicht an dicht Buden, an denen man spielen konnte. Alle boten – mit kleinen Variationen – das gleiche Spiel an: Man setzte einen oder zwei Hunderter auf ein Symbol oder eine Zahl, danach wurde eine Dartscheibe so rasch gedreht, dass es unmöglich war, die Zahlen und Symbole zu erkennen. Einer der Spieler warf einen Pfeil, und wenn man Glück hatte, traf er die Zahl, auf die man gesetzt hatte. Gruppen johlender Männer hatten sich an den verschiedenen Buden versammelt. Sangye war der Einzige, der traditionelle Kleidung trug, alle anderen waren in Jeans oder Jogginganzüge gekleidet.
»Eigentlich ist Spielen in Bhutan verboten. Nur bei Feierlichkeiten wie diesen ist es erlaubt«, erklärte Sangye und setzte einen Hunderter auf seine Glückszahl. Er verlor jedes Mal. Ebenso wie ich.
»Heute hätte ich eigentlich gewinnen müssen«, meinte er. »Ich habe nämlich Geburtstag. Ich werde vierunddreißig. Allerdings feiern wir in Bhutan Geburtstage nicht, sie sind nicht so wichtig.«
Obwohl die Bhutanesen nicht Geburtstag feiern, erhielt er jede Menge Grüße und Glückwünsche auf sein Mobiltelefon. Es brachte ihm trotzdem kein Glück: Wir verloren auch weiterhin. Schließlich hatten wir kaum noch Bargeld, gerade noch so viel, dass wir uns jeder einen bhutanischen Whisky leisten konnten. In der abendlichen Kälte schmeckte er süß und kräftig.
Lange bevor die Schätze der Nacht sich wieder zeigten, erschienen wir auf dem Tanzplatz. Wir wurden mit ausgezeichneten Plätzen ganz vorn belohnt. Aus dem Tempel waren bereits lallende Gesänge, Grölen und nervöses Gelächter zu hören. Touristen, Großeltern, Jugendliche und Kinder strömten herbei. Eine gute Stunde später wagten sich die nackten Tänzer endlich aus dem Tempel. Mir war an diesem Abend wärmer, ich hatte mir einen Pullover angezogen, aber die Tänzer hatten noch immer nichts an, und es dauerte nicht lange, bevor sie auf dem Tempelplatz herumsprangen, wobei ihre Schätze energisch auf und ab wippten, buchstäblich vor den Nasen des Publikums. Einer der Tänzer hatte sich mit einer Taschenlampe ausgerüstet und ließ den Lichtkegel über die Schätze seiner Kameraden schweifen, damit kein Detail verloren ging. Als sie von der obligatorischen Tempelrunde zurückkamen, schienen sie noch entfesselter zu sein, sie setzten sich mit gespreizten Beinen aufeinander und vollführten obszöne Bewegungen. In regelmäßigen Abständen liefen sie zum Feuer und zupften energisch an ihren Schätzen, um dem schrumpfenden Effekt der nächtlichen Kälte entgegenzuwirken. Dann wandten sie sich wieder dem Publikum zu, wackelnd, wippend, rotierend und tadellos ausgeleuchtet vom Lichtkegel der Taschenlampe.
»Sie müssen die Hände falten und sich etwas wünschen«, forderte Sangye mich auf. »Frauen, die keine Kinder haben, wünschen sich normalerweise, schwanger zu werden«, fügte er hilfsbereit hinzu.
Der Himmel war schwarz und klar, und über dem Tempel und den sechzehn nackten Männern hing ein zunehmender Mond, ebenso voll wie die Tänzer. Als der letzte zurück in den Tempel gewackelt war, folgten wir dem Strom der Menschen zum Parkplatz. Wir fanden unser Auto, nicht aber den Fahrer. Sangye rief ihn an, und kurz darauf kam Sonam vom Marktplatz angelaufen.
»Gewonnen oder verloren?«, fragte ich und kannte die Antwort bereits, als ich seinen Gesichtsausdruck sah.
Rummelplätze sind in allen Ländern gleichermaßen verdächtig.