Auf dem Weg nach Merak im Osten hielten wir in Mongar (1600 Meter über N.N.). Der einzige Grund, warum Touristen hin und wieder diese kleine Stadt besuchen, besteht darin, dass es ein Transitort zwischen dem westlichen und dem östlichen Teil von Bhutan und ein üblicher Halt auf dem Weg zur indischen Grenze im Südosten ist. Es gab eigentlich nichts zu sehen. Die Straßen waren menschenleer, die Häuser lagen verstreut. Auf einem großen Platz an dem neuen Krankenhaus, der auch als Hubschrauberlandeplatz genutzt wurde, spielte eine Gruppe Männer in traditioneller Kleidung Dart. Die Scheibe, die sie treffen sollten, war klein und stand zwanzig Meter entfernt auf der anderen Seite des Platzes.

»Die Gewinner dürfen am Landesfinale teilnehmen«, erklärte Sangye. »Gute Dartspieler müssen mental sehr stark sein. Sie müssen es aushalten zu zielen, während die anderen zusehen.«

Die meisten Pfeile landeten neben der Scheibe, aber hin und wieder hatte einer einen Volltreffen, dann brach der halbe Platz in Tanz und Gesang aus.

Wir schlenderten weiter zum Gemüsemarkt, wo Unmengen von Chili sowie Guaven, enorme Gurken, Koriander, Auberginen, Karotten und anderes Gemüse, das in der Höhe gedeiht, verkauft wurden. Vor allem Chili, das in Tüten von mindestens einem Kilo angeboten wurde. Die Bhutanesen sind verrückt nach Chili und benutzen es für absolut alles, was sie essen; eine gewöhnliche Familie verbraucht bequem ein Kilo Chili pro Tag. Überall in Bhutan sieht man Chili, der getrocknet wird, auf Hausdächern, am Straßenrand, auf Autos, auf den Feldern. Den Touristen werden in der Regel harmlose, touristenfreundliche Buffetgerichte ohne Capsaicin angeboten, während die Guides und Fahrer in einem Nebenraum Reis und Chili verschlingen. Exilbhutanesen klagen häufig darüber, wie schwierig es ist, im Ausland richtig scharfen Chili zu bekommen, viele von ihnen sind abhängig von regelmäßigen Lieferungen aus Bhutan. Selbst Kinder, die noch gestillt werden, essen Chili mit so großem Vergnügen wie Kinder in anderen Ländern Schokolade.

Auf dem Gipfel eines Bergrückens stand ein kleines Kloster. Die Häuser, an denen wir auf dem Weg dorthin vorbeikamen, waren klein und einfach, gebaut aus gerade verfügbaren Materialien: Wellblech, Holzplanken und Plastik. Eine Schar Hunde begrüßte uns kläffend am Eingang des Klosterhofes. An den Wäscheleinen flatterten burgunderrote Gewänder in der Nachmittagsbrise, allerdings war kein einziger Mönch zu sehen. Eine runzlige, fast zahnlose Frau kam auf uns zu und bot an, uns den Tempel zu zeigen. Sie hieß Sangye, wie mein Guide. Wie in Tibet benutzen die Bhutanesen die gleichen Vornamen sowohl für Mädchen wie für Jungen, und der zweite Name hat selten etwas mit den Eltern zu tun – ein gemeinsamer Nachname ist nicht üblich. Um es noch komplizierter zu gestalten, haben die Bhutanesen nur einen begrenzten Namensvorrat, aus dem sie schöpfen können, ungefähr fünfzig Vornamen insgesamt.

Der Klosterkomplex war erst sechsunddreißig Jahre alt, es handelte sich um eines der neuesten Klöster Bhutans. Sangye war doppelt so alt. Vor fünf Jahren war sie Witwe geworden und hatte begonnen, Nonnengewänder zu tragen. Nun besuchte sie jeden Tag das Kloster, fegte, wechselte die Kerzen aus, putzte und hielt Ordnung.

»Bald bin ich dran«, sagte sie mit einer hellen, klirrenden Stimme. »Bald werde ich sterben. Das ist das Einzige, woran ich jetzt denke. Meine Kinder – ich habe sieben Töchter und einen Sohn – haben mich eingeladen, bei ihnen in der Hauptstadt zu wohnen, aber ich will hierbleiben. Ich will hier sterben.«

Sie setzte sich auf die Treppe, die hinauf zum Kloster führte und blinzelte in die Sonne.

»Früher hatten wir keinen Strom.« Sie redete in kurzen Sätzen, als müsste sich die begrenzte Zeit, die ihr noch blieb, auch in der Syntax ausdrücken. »Auch keine Schule. Oder Straßen. Wir mussten überall zu Fuß hingehen. Ich habe nie eine Schule besucht. Auch meine Kinder nicht. Aber deren Kinder gehen zur Schule. Ihr Leben ist leichter als unseres. Aber das Fernsehen mag ich nicht. Ich bin ohne aufgewachsen. Ich sehe niemals fern. Das Einzige, woran ich denke, ist, dass ich bald sterben werde.«

Kezang, der Dorfastrologe, wohnte eine halbe Stunde Autofahrt von Mongar entfernt. Er erwartete uns am Straßenrand und zeigte uns den Weg zu seinem einfachen kleinen Haus auf dem Höhenzug. Es war nicht weit, aber steil, und ich schaffte es nicht, mit ihm Schritt zu halten, obwohl er beinahe doppelt so alt war wie ich.

Von dem üppigen, gepflegten Garten gingen wir in ein dunkles, ärmliches Haus. Durch die Eingangstür kamen wir direkt in die Küche, die mit offenen Regalen und zwei elektrischen Kochplatten ausgestattet war. Im Wohnzimmer, das auch als Schlafzimmer diente, wurden Sangye und ich gebeten, auf dünnen Matratzen auf dem Boden Platz zu nehmen. Die Wände waren mit Kalendern der letzten zehn Jahre, Zeichnungen von Buddha und offiziellen Fotos von Bhutans Herrscherpaar sowie Ausschnitten aus Illustrierten mit Fotos der königlichen Familie dekoriert. In den schmalen Fensteröffnungen war kein Glas, das aus dünnen Brettern bestehende Dach war zur zusätzlichen Isolation von unten mit Plastik abgedeckt. Ein großer Kühlschrank war das protzigste Möbelstück in der kleinen Stube. Auf einem schmalen Fensterbrett thronte ein altes Radio. Einen Fernseher gab es nicht.

»Die Leute kommen mit ihren neugeborenen Kindern und wenn sie krank sind zu mir«, erzählte Kezang und wickelte feierlich das Astrologiebuch aus dem orangefarbenen Tuch, in das es eingeschlagen war. Er setzte sich auf dem Boden zurecht und legte behutsam die dicken Papierstreifen auf einen kleinen Tisch vor sich. Das Gesicht war wettergegerbt und runzlig, die Augen groß und gutmütig. Wenn er lächelte, glich er gleichzeitig einem kleinen Jungen und einem Greis.

»Ich habe keine offizielle Ausbildung«, sagte er. »Ich bin nie zur Schule gegangen, aber ich habe als Dorfmönch im Kloster studiert.«

»Das heißt, er wohnte weiterhin im Dorf, ging aber jeden Tag ins Kloster, um zu studieren«, erklärte Sangye, der alles, was Kezang in seiner lokalen Sprache sagte, ins Englische übersetzte. Das mit dem Tibetischen verwandte Dzongkha ist die offizielle Sprache in Bhutan, aber im Land sprechen die weniger als achthunderttausend Einwohner insgesamt neunzehn verschiedene Sprachen und Dialekte. Da Sangye selbst aus einem Dorf im Osten stammte, sprachen er und Kezang dieselbe Sprache.

»Als ich bereit war, ging ich in die Berge und meditierte und betete drei Jahre, wie es der Brauch ist«, fuhr Kezang fort. »Erst nachdem man drei Jahre meditiert hat, ist man qualifiziert, Astrologe zu werden, aber nur wenn der Lama seine Zustimmung erteilt. Der Lama stellte mich auf die Probe: Wenn ich drei Personen helfen könnte, würde ich als Astrologe arbeiten dürfen.«

Seine Frau kam aus der Küche und goss heiße Milch in große Becher.

»Astrologie ist kompliziert«, sagte Kezang. »Wenn kranke Menschen zu mir kommen, muss ich erst einmal herausfinden, warum sie krank geworden sind. Sind sie wegen eines bösen Geistes krank geworden? Und wenn ja, woher kommt er? Sind sie krank geworden, weil sie den Tempel nicht besucht haben, in dem ihr Schutzgott wohnt? Alles muss in Betracht gezogen werden. Wenn man dann die Ursache nachgewiesen hat, muss man herausfinden, welche Rituale durchgeführt werden sollen und welche Kräuter der Patient eventuell nehmen soll, wenn er oder sie Kräutermedizin benötigt. Früher war dies die einzige Behandlung, die uns zugänglich war, aber nun müssen wir auch entscheiden, ob die Rituale an sich genügen oder ob der Patient zusätzlich westliche Medikamente braucht. Die Dorfbewohner kommen immer erst zu mir, bevor sie eventuell ins Krankenhaus gehen. Wenn dein Kind von einem bösen Geist besessen ist, kann es nämlich schädlich sein, ihn ins Krankenhaus mitzunehmen.«

»Haben Sie selbst Kinder?«, erkundigte ich mich.

»Nein.« Kezang sah seine Frau an, die zu Boden blickte. »Es ist nicht so, dass ich unfruchtbar bin, meine Frau war drei Mal schwanger. Aber alle Kinder starben, als sie noch ganz klein waren. Nun haben wir es aufgegeben. Meine Frau hat alles richtig gemacht, als sie schwanger war, daran lag es nicht. Sie ging ins Krankenhaus und ließ sich untersuchten, und wir gingen auch zu einem Astrologen und in den Tempel, aber die Kinder starben trotzdem.«

Kezang räusperte sich und beugte sich dann über die tibetischen Texte.

»Wann sind Sie geboren?«, fragte er mich. Sangye gab ihm mein Geburtsdatum, und Kezang saß da und blätterte lange in den Schriften.

»Im Augenblick werden Sie keine Kinder bekommen«, sagte er schließlich, obwohl ich ihn nicht nach meinen eventuellen Möglichkeiten gefragt hatte. »Sie werden erst Kinder bekommen, wenn Sie einundvierzig oder zweiundvierzig sind. Aber Sie müssen den Fruchtbarkeitstempel in Punakha aufsuchen und die Mönche bitten, Sie zu segnen«, fügte er hinzu. »Sie können sich dort einen Sohn oder eine Tochter wünschen. Wenn Sie nicht dorthin gehen, sind die Chancen geringer, dass Sie ein Kind bekommen, daher ist es furchtbar wichtig, dass Sie den Fruchtbarkeitstempel in Punakha besuchen. Sie werden auf dem Weg dorthin abgelenkt werden, aber lassen Sie sich nicht beirren, wie gesagt, es ist enorm wichtig, dass Sie dorthin gehen. Ansonsten sind Sie auf dem richtigen Weg. Sie werden von den Göttern beschützt. Sie verlangen Ihnen viel ab, aber sie beschützen Sie.«

Er sah mich nachdenklich an.

»Ich denke mir nichts davon aus, das müssen Sie mir glauben, alles steht hier, in den Schriften«, sagte er und zeigte auf die Schriftstreifen, die vor ihm ausgebreitet auf dem kleinen Tisch lagen. »Hier steht, dass Sie gute Laune bekommen werden, wenn Sie die Mönche im Tempel sehen. Durch den Anblick der Statuen, der Altäre und der Mönche werden Sie sich innerlich glücklich fühlen. Vielleicht waren Sie Mönch oder Nonne in einem früheren Leben.«

Dann begann er zu murmeln. Sangye erklärte, dass er ihn gebeten hatte, zum Abschluss den Meister und Schutzgott anzurufen, um mich und alle lebenden Wesen zu beschützen.

»Kommt es vor, dass Sie den Menschen schlechte Nachrichten übermitteln müssen?«, fragte ich, als er sein Gebet beendet hatte.

»Ja, hin und wieder, wenn frischgebackene Eltern mit ihrem Kind hierherkommen, und ich sehe, dass das Kind seinen Eltern Unglück bringen wird, oder die Eltern dem Kind«, antwortete Kezang. »In solchen Fällen kann das Kind nicht bei den Eltern aufwachsen, sondern muss zu Verwandten geschickt werden. Das kommt glücklicherweise selten vor.«

Nachdem wir uns verabschiedet hatten, begleiteten uns Kezang und seine Frau aus dem Haus. Als Abschiedsgeschenk stopften sie uns die Taschen voll mit Beeren aus ihrem Garten. Sie sahen uns hinterher, als wir den steilen Weg zur Straße hinabstiegen. Sie standen noch immer da, als wir ins Auto stiegen und davonfuhren. Über den grünen Bergen hatte sich der Himmel lila verfärbt, und bevor wir nach Mongar zurückkamen, war es dunkel geworden.

Wenn die Sonne untergegangen ist, kommt in Bhutan die Stunde der Hunde. Scharen von freilaufenden aggressiven Kötern patrouillierten im Zentrum und machten Mongars Straßen unsicher. Sonam fuhr uns daher auf dem kürzesten Weg vom Hotel zur einzigen Karaokebar der Stadt. In einem kleinen Raum am Ende eines Korridors saßen drei junge Männer in Lederjacken und nippten an einem lokalen Bier. Lange rote Leuchtstoffröhren waren die einzige Lichtquelle im Raum, an der Wand hatte ein einheimischer Graffiti-Künstler Led Zeppelin verewigt. Am Ende des Raums hing ein kleiner Fernsehbildschirm, der mit einer Karaoke-Anlage verbunden war. Die drei jungen Männer sangen einen Ohrwurm nach dem anderen mit. Es war true love und broken heart und I will never forget you am laufenden Band. Alle Songs wurden Frauen gewidmet, deren Namen zwar genannt wurden, die aber leider nicht Zeuge der romantischen Ergüsse der jungen Männer wurden.

Nach ein paar Starkbieren und Dutzenden Balladen legten die jungen Männer die Mikrofone beiseite und schlurften in der Finsternis nach Hause. Die frei herumlaufenden Hunde setzten das nächtliche Konzert bis zum Morgengrauen fort.

Am nächsten Morgen fuhren wir durch immergrünen Wald weiter nach Osten. Sangye wurde immer nostalgischer, je östlicher wir kamen. Er war der Jüngste von sieben Geschwistern und der Einzige in der Geschwisterschar, der zur Schule gegangen war.

»Das Dorf bekam eine Schule, als ich klein war, aber ich konnte einfach nicht still sitzen und wurde den ganzen Tag vom Lehrer geschlagen«, erzählte er lächelnd. Sangye lächelte fast immer, ich habe ihn nie mehr als einige Minuten ernst gesehen. »Meine Freunde und ich schwänzten normalerweise, bis die Schule um war, wir versteckten uns. Es war viel lustiger, draußen zu spielen.«

Eines Tages war der Spaß vorbei: Der Lehrer erschien bei Sangye zu Hause und erkundigte sich, warum er eine ganze Woche nicht im Unterricht gewesen war.

»Da musste ich zurück in die Schule. Doch dann starb meine Mutter. Ich war erst sechs oder sieben. Sie hatte immer gehustet, aber niemand begriff, dass sie an Tuberkulose litt. Es gab ja damals kein nennenswertes Gesundheitswesen. Nachdem sie tot war, geriet alles aus dem Ruder. Mein Vater heiratete erneut, aber die neue Frau behandelte mich schlecht. Wir hatten kein Geld, und häufig hatten wir auch nicht genug zu essen oder zum Anziehen. Als die Schuluniform, die ich von der Schulverwaltung umsonst bekommen hatte, so abgetragen war, dass sie nur noch aus Fetzen bestand, hörte ich noch einmal auf, zur Schule zu gehen. Ich hatte ja nichts zum Anziehen. Schließlich nahm mich meine Schwester mit nach Westen, nach Paro, und ich ging dort weiter zur Schule. Meine Schwester hatte aber auch kein Geld, also verkaufte ich nach der Schule Betelblätter, um mir Geld für Kleidung und Schuhe zu beschaffen.« Er lächelte beinahe entschuldigend. »Ich hatte wohl so etwas wie eine schwierige Kindheit.«

Auf den letzten Kilometern war die Straße so schlecht, dass das Auto kaum Schritttempo fahren konnte. Die Schotterpiste hinauf nach Merak war erst wenige Jahre alt, und dass es sie überhaupt gab, musste man schon als Fortschritt bezeichnen – allerdings gab es bei diesem Fortschritt durchaus Verbesserungspotenzial. Während Sonam das Auto vorsichtig über den Waldweg manövrierte, erinnerte sich Sangye an immer mehr Details aus seiner Kindheit. Ich hatte den Eindruck, als würde ein alter Verwandter mir aus der richtig alten Zeit erzählen, aber Sangye war sogar ein Jahr jünger als ich.

»Wir hatten weder Strom noch eine Toilette. Die Tiere lebten im Untergeschoss, wir wohnten in dem Stockwerk darüber. Wir Kinder gingen gewöhnlich in einer Ecke aufs Klo, dort war ein Loch hinunter zu den Tieren, haha! Meine Eltern tranken von morgens bis abends selbst gebrannten Schnaps, alle im Dorf taten das. Wir Kinder manchmal auch. Kinder werden ganz ruhig und man kann leichter mit ihnen umgehen, wenn sie ein bisschen Schnaps getrunken haben! Wir hatten keine Schuhe, niemand hatte Schuhe.« Er lachte erneut auf. »Unterwäsche hatte auch niemand, das kam erst Mitte der neunziger Jahre auf. Also nicht hier, sondern in der Hauptstadt.«

Wir waren umgeben von Nadelwald, und es gab noch immer kein Anzeichen einer menschlichen Siedlung. Der Tacho zeigte neun Stundenkilometer.

»Wenn ich darüber nachdenke, hatte ich eigentlich eine glückliche Kindheit«, erklärte Sangye. »Ich vermisse sie sehr. Wir Kinder hatten viel Freiheit, wir liefen im Dorf herum und wurden ständig irgendwo eingeladen. Oft bekamen wir nur Reisgrütze mit Chilipulver zum Frühstück, aber alle im Dorf waren gleich arm, also dachten wir nicht weiter darüber nach. In der Schule hatten wir keine Stifte und kein Papier, wir schrieben mit Kreide auf Tafeln. Der Lehrer schlug uns, wenn wir nicht lernten, was wir sollten, die Eltern schlugen uns, meine Schwester schlug mich. So war das, als ich Kind war. Diese Zeit ist vorbei und kommt nicht zurück …«

Weder Sonam noch Sangye waren jemals in Merak gewesen, und wir alle glaubten, dass wir bald dort sein würden. Merak müsste hinter der nächsten oder der übernächsten Kurve liegen, aber »bald« wurde zu Stunden, und als wir endlich Häuser und Menschen erreichten, fing es an zu dämmern.

Der Osten Bhutans gilt als so öde und abseits der üblichen Reisewege, dass die Behörden Touristen, die dorthin fahren, Rabatt auf den festen Tagessatz geben, und Merak (3215 Meter über N.N.) ist eines der unzugänglichsten Dörfer in ganz Ost-Bhutan. Das Dorf wird von Brokpas bewohnt, einer kleinen Volksgruppe, die vor vier-, fünfhundert Jahren aus Tibet über die Grenze kam. Der Legende nach töteten sie ihren König, bevor sie nach Süden wanderten. Der König soll gnadenlos und so anmaßend gewesen sein, dass er von seinen Untertanen verlangte, einen Felsen, der einen Schatten auf seinen Palast warf, abzuschleifen, damit er den Sonnenschein durch die Fenster genießen konnte.

Wir fanden das einzige Gästehaus des Dorfes und wurden eingeladen, an dem kleinen Ofen im gemeinsamen Aufenthaltsraum Platz zu nehmen.

»Wollen Sie ein bisschen Ara, damit Ihnen warm wird?«, fragte der große junge Mann, der uns empfangen hatte. Ein Kessel mit Reisbranntwein stand bereits auf dem Ofen. Er fügte ein paar Esslöffel frisch zubereitete Butter hinzu, rührte um und goss die Mischung in große Becher. Abgesehen von der geschmolzenen Butter, erinnerte der Geschmack an Sake. Auf dem kleinen Ofen stand ein kleiner Topf mit kochendem Wasser. Der Deckel bebte leicht durch den Wasserdampf.

»Bei uns steht immer ein Topf mit Wasser auf dem Ofen, damit das Feuer nicht die Körper der Menschen austrocknet, die um den Ofen herumsitzen«, erklärte Sangye. »Das Feuer nimmt stattdessen das Wasser des Topfes.«

Der kleine Topf funktionierte mit anderen Worten als Luftbefeuchter. Die Inhaberin des Gästehauses, eine etwa vierzigjährige Frau, brachte das Abendessen, das aus rotem Reis und Chili mit Käse, getrocknetem Chili und gesalzenem Chili bestand. Sie trug ein traditionelles schwarzes Wollkleid mit einem breiten, bestickten Gürtel. Ein gewalktes Stück Wolle bedeckte ihr Hinterteil und ihre Oberschenkel wie eine Gesäßschürze. Um den Hals trug sie großen, bunten Schmuck, und durch beide Ohrläppchen hatte sie einen kurzen Faden gezogen. Auf dem Kopf saß ein scheibenförmiger schwarzer Filzhut. Sechs ausgefranste Wollzöpfe hingen wie Katzenschwänze von den Rändern des Huts.

Sangye und Sonam beluden ihre Teller mit einem großen, gut mit Chili vermischten Haufen Reis und aßen mit untadeligem Appetit. Draußen bellten die Hunde des Dorfes wie besessen.

»Es ist gut, dass sie bellen«, bemerkte Sangye, während er uns Ara nachschenkte. »Hundegebell hält böse Geister fern. Hund ist das letzte Stadium, bevor man als Mensch wiedergeboren wird, daher behandeln wir die Hunde gut. Es könnte sich ja um einen nahen Verwandten handeln. Wenn dir also ein Hund folgt, ist das vermutlich ein toter Angehöriger.«

Der junge Mann erhitzte einen neuen Kessel mit Ara und Butter. Als ich am späteren Abend in meinen Schlafsack kroch, drehte sich langsam das Dach, das Bett schwankte. Im Raum nebenan lagen Sangye und Sonam; sie unterhielten sich und lachten bis tief in die Nacht. Unter dem sternenklaren Himmel bellten die Köter, als ginge es um ihr Leben.

Keine bösen Geister wagten sich in dieser Nacht in die Nähe von Merak.

Das Frühstück bestand aus einer weiteren Portion Reis und Chili und wurde mit traditionellem Buttertee eingenommen, schwarzem Tee vermischt mit Salz und Butter. Der Tee ist so nahrhaft, dass man eigentlich nicht viel mehr braucht, aber Sonam und Sangye luden sich erneut einen ordentlichen Haufen Reis auf ihre Teller und aßen mit großem Appetit.

»Haben Sie nie genug von all dem Reis und dem Chili?«, wollte ich von ihnen wissen.

Sangye überlegte. Es schien nicht so, als sei ihm dieser Gedanke schon mal gekommen.

»Nein«, sagte er schließlich. »Wenn ich keinen Reis esse, fühle ich mich nicht satt. Und ohne Chili schmeckt es ja nach nichts.«

Danach mussten wir in das Büro des Waldaufsehers, um mich registrieren zu lassen. Merak liegt im Sakteng Wildreservat, und alle Touristen brauchen eine besondere Erlaubnis, um den Park zu besuchen. Ich wurde in das Büro des Leiters gewiesen, einem Mann im mittleren Alter in grüner Uniform. Er notierte alle notwendigen Daten und archivierte sie in einem großen Ringordner.

»Wenn ich es richtig verstanden habe, ist dies das östlichste Wildreservat Bhutans, und auch einer der neuesten Nationalparks im Land«, sagte ich und zog meinen Notizblock hervor. »Können Sie mir ein bisschen mehr über das Reservat erzählen?«

»Haben Sie eine Sondererlaubnis von der Zentralbehörde, mich zu interviewen?«, fragte der Waldaufseher misstrauisch.

»Nein, ich habe keine Sondergenehmigung, ausgerechnet Sie zu interviewen«, räumte ich ein. »Ich wusste nicht, dass ich eine Sondergenehmigung benötige, um mich mit Ihnen zu unterhalten.«

»Aber die brauchen Sie, sonst kann ich Ihre Fragen nicht beantworten«, erklärte der Waldaufseher. Er faltete die Hände auf dem Schreibtisch und schwieg.

»Ich würde nur gern wissen, welche Pflanzen hier wachsen und welche Tiere hier leben«, sagte ich. »Solche Dinge. Ganz einfache Fragen.«

»Ohne eine Sondererlaubnis der Zentralbehörde darf ich auch keine einfachen Fragen beantworten.«

»Warum nicht?«

»Es kann dazu führen, dass Menschen mit üblen Absichten hierherkommen.« Der Waldaufseher kniff geheimnisvoll die Lippen zusammen.

»Okay, dann hole ich mir die Informationen im Internet«, sagte ich ein wenig säuerlich und steckte den Notizblock wieder ein.

»Tun Sie das«, sagte der Waldaufseher. Er stand von seinem Schreibtisch auf und begleitete mich zur Tür. Bevor wir gingen, sagte er etwas zu Sangye, der ernst nickte.

»Was hat er gesagt?«, wollte ich wissen.

»Nichts«, sagte Sangye.

Wir gingen auf gut Glück über die festgestampften, holprigen Wege, auf der Suche nach jemand anderem, mit dem ich mich unterhalten könnte. Überall wurde gehämmert und gesägt. Häuser wurden gebaut, Häuser wurden erweitert. Sämtliche Arbeiten wurden traditionsgemäß mit Holz und Steinen ausgeführt, Beton war in Merak verboten. Das kleine Dorf war von Wald und sanften Höhenzügen umgeben, eine graue Steinwüste, eingehüllt in grüne und blaue Farben. Aber abgesehen von den Bauarbeitern, die alle von außerhalb kamen, waren die Gassen menschenleer.

In einem Laden regte sich jedoch Leben. Er war ein kleines Wunder für sich: Gerüchtebörse, Kindergarten, Bar, Schnapsverkauf, Betelblatthändler und Lebensmittelgeschäft in einem. Die dicht bestückten Regale lockten mit allen erdenklichen Waren, von Reissäcken und Süßigkeiten bis zu bhutanischem Whisky. Obwohl der Laden nicht größer war als ein mittelgroßer Kiosk, gab es Bänke und einen kleinen Tisch, an dem man verschnaufen oder eventuell ein Bier trinken konnte, bevor man heimging. Eine Frau in abgetragenen traditionellen Brokpa-Kleidern spann einen Wollfaden in einer kleinen Handspindel. Sie hieß Dema und war sechsundvierzig Jahre alt.

»Oh, vieles hat sich hier verändert, seit ich jung war!«, rief sie, ohne mit dem Spinnen aufzuhören. »Alles ist jetzt einfacher, alles. Früher mussten wir einen Boten aus der Familie losschicken, wenn jemand krank war oder ein Kind bekam, jetzt kann man einfach anrufen. Wenn man einen Hubschrauber braucht, muss man auch bloß anrufen! Früher mussten wir gebärende Frauen hin und wieder nach Trashigang tragen. Nicht selten passierte es, dass das Kind unterwegs geboren wurde. Meine Geburten verliefen alle ohne Probleme, aber ich habe auch nur drei Kinder. Ich habe sie alle hier geboren, allein. Früher kümmerten die Leute sich nicht um Familienplanung, manche bekamen siebzehn Kinder, andere zwanzig, aber mein Mann hat Familienplanung betrieben – er hat die Schnur durchschneiden lassen, hahaha!«

Der Faden war fertig gesponnen, und Dema wollte eigentlich gehen, aber Sangye gelang es, sie zum Bleiben zu bewegen, indem er ihr ein Druk 11000 kaufte, das lokale achtprozentige Bier. Es war nicht einmal zehn Uhr vormittags, aber sie nahm es lächelnd entgegen und öffnete die Dose sofort.

»Wie viele Kinder haben Sie?«, fragte sie Sangye.

»Eins«, antwortete er. »Eine Tochter.«

»Nur eins?« Dema sah ihn ungläubig an. »Das geht nicht! Sie müssen mehr haben. Ich habe geheiratet, als ich sechzehn Jahre alt war. Die meisten hier heiraten jung, aber mein Bruder hat eine Ausbildung. Er war Kandidat der DNT, der Partei, die gerade die Wahl gewonnen hat. Er hat einen Sitz im Parlament!«

Sie trank einen Schluck Bier und lächelte breit. Ihre großen Zähne waren rot vom Kauen der Betelblätter.

»Wir hoffen, dass es ihm gelingt, die Straße asphaltieren zu lassen, denn die Straße, die wir jetzt haben, ist ziemlich schlecht. Von den jungen Leuten sind viele in die Stadt gezogen, um zu studieren, aber ich selbst bin lieber hier. Wo sollte ich auch hin?«

Dema legte den Kopf in den Nacken und trank den letzten Rest des Biers.

»Meine Kinder und mein Mann sind hier«, erklärte sie. »Meinen Mann werde ich nie verlassen. Ohne ihn würde ich im Winter furchtbar frieren!« Sie lachte laut, stellte die Bierdose ab und stand von dem niedrigen Schemel auf. Als sie aus der Tür trat, bebten ihre Schultern noch immer vor Lachen.

Sangye und ich wollten auch weiter, aber wir wurden von einer jungen, korpulenten Frau mit einem Kind auf dem Rücken aufgehalten. Im Gegensatz zu den meisten Frauen in Merak trug sie westliche Kleidung, Jeans und eine Jacke. Drei Kinder im Alter von vier oder fünf Jahren folgten ihr auf dem Fuß.

»Haben Sie Lust, zu mir nach Hause zu kommen und sich ein wenig zu unterhalten?«, erkundigte sie sich. »Ich habe auch Ara«, fügte sie lockend hinzu.

Wir begleiteten sie zu einem kleinen Haus, das sie und ihr Mann gemietet hatten. Sie stammten beide aus Trashigang, der nächsten größeren Ortschaft, der Mann arbeitete für ein staatliches Lebensmittelprogramm. Seit zwei Jahren lebten sie in Merak. Die junge Frau legte das Kind in das Doppelbett in der Ecke und hockte sich an den mitten im Raum stehenden Ofen. Zwei der Kinder gehörten zu ihr, auf die anderen passte sie für eine Freundin auf. An der Wand standen selbst geschreinerte Regale voller Speiseöl, Reis und Küchengerätschaften. Der kleinen Familie stand nur ein Raum zur Verfügung, das ganze Leben spielte sich in diesem Zimmer ab.

»Sie müssen aufpassen«, murmelte die junge Frau, während sie Ara in einen Topf goss. Ich habe nie erfahren, wie sie hieß. »Die Leute hier sind gefährlich. Sie vergiften Fremde.«

»Ja«, pflichtete ihr Sangye bei. »Ich muss zugeben, dass ich ein wenig nervös war, als ich heute durchs Dorf ging. Der Mann im Büro der Waldaufseher hat uns auch gewarnt.«

»Warum haben Sie nichts davon gesagt?«, fragte ich vollkommen überrascht.

»Ich wollte Sie nicht beunruhigen«, erwiderte er.

»Ein Freund meines Mannes wurde lahm, nachdem er hier in Merak bei jemandem zu Hause Ara getrunken hat«, erzählte die junge Frau. »Er ist noch immer nicht wieder gesund. Sie dürfen nichts von den Leuten hier annehmen, verstehen Sie? Sie wollen Sie nicht absichtlich vergiften, sie können nichts dafür. Das Gift wird vom Vater auf den Sohn vererbt und wohnt in ihnen.«

»Und wie kommen Sie hier zurecht?«, wollte ich wissen. »Sie sind doch auch nicht von hier. Nehmen Sie nie etwas von den Leuten an?«

»Nur von Leuten, die ich gut kenne«, antwortete die junge Frau ernst. »Man riskiert auch, körperlich angegriffen zu werden, ja, sogar ein Mord ist schon passiert. Die Menschen hier haben keine Bildung, sie haben Hunderte von Jahren isoliert in den Bergen gelebt, daher müssen Sie aufpassen. Die Menschen, die hier leben, sind nicht wie andere Menschen.«

Sie schlug ein Ei in den Topf mit Ara und gab reichlich Butter dazu. Dann schöpfte sie die Mischung in zwei große Becher. Sangye bestand darauf, dass sie auch trank, und goss ihr einen großen Becher ein. Die Frau protestierte energisch, der Ara sei für uns, wir seien doch Gäste, sie selbst brauche nichts, aber schließlich ließ sie sich überzeugen und nahm den Becher.

»So ist es hier Brauch«, erklärte Sangye pädagogisch. »Ich muss ihr einen Becher servieren, auch wenn sie sagt, sie will nichts.«

Kaum hatten wir den Ara probiert, als die junge Frau die Becher erneut mit dampfendem Selbstgebrannten füllte. Ich wandte ein, ich hätte schon mehr als genug, aber sie lächelte nur und goss noch mehr ein, dass der Becher beinahe überlief. Kaum hatte ich einen weiteren Schluck getrunken, füllte sie den Becher wieder randvoll.

»So ist es Tradition«, sagte Sangye. »Sie muss uns mindestens zwei Mal den Becher füllen, sonst ist sie eine schlechte Gastgeberin.«

Auf dem Bett hinter uns hüpften die Kinder singend und lachend auf und ab. Der Ara breitete sich im Körper aus, der Kopf wurde heiß und benebelt. Trotz meiner Proteste setzte die junge Frau einen neuen Topf auf.

»Beruhigen Sie sich, die Wirkung lässt nach, sobald sie wieder in die Kälte kommen. Poff, sie verschwindet sofort!« Sie lächelte, dann bekam sie einen nachdenklichen Gesichtsausdruck. »Eigentlich wollte ich Sängerin werden. Ich habe mich bei der Fernsehshow Idol gemeldet und war auch zum Vorsingen eingeladen, doch dann wurde ich schwanger. Ich war erst sechzehn.« Sie goss Ara in unsere Becher. »Meine Eltern tobten, doch glücklicherweise hat mich der Kindsvater geheiratet. Und jetzt sitze ich hier …«

Bevor wir gingen, überredeten wir sie, für uns zu singen. Ihre Stimme füllte das ganze kleine Zimmer. Ich verstand nicht, worum es in dem Lied ging, nur, dass es traurig war. Die Kinder hörten auf zu hüpfen, sie saßen mäuschenstill da und hörten zu.

»Bevor wir gehen, müssen Sie ihr Geld geben«, instruierte mich Sangye.

»Muss ich den Ara bezahlen?«, fragte ich verblüfft.

»Nein, oder doch, es ist hier so Brauch. Wir geben immer Geld, wenn wir etwas bekommen haben. Sie hat uns zu sich nach Hause eingeladen und uns Ara gegeben, daher müssen wir ihr Geld geben. Das wird erwartet, nicht nur von Touristen, sondern von allen. Auch von mir.«

Ich tat, was er sagte, und gab ihr dreihundert Ngultrum, etwas weniger als vier Euro. Die junge Frau weigerte sich erst, das Geld anzunehmen, ließ sich aber rasch überreden.

»Denken Sie daran, seien Sie vorsichtig«, ermahnte sie uns noch einmal, als wir das Haus verließen. »Kein Essen oder Getränke von Leuten annehmen, die Sie nicht kennen!«

Die scharfe Nachmittagssonne stach in den Augen, als wir auf die Straße traten. Die Berge wogten. Wir gingen zurück ins Gästehaus und aßen Reis mit Chili. Glücklicherweise wurde Buttertee serviert und kein Ara. Wir waren vergiftet genug.

Der Rest des Nachmittags verschwand in einem sanften Nebel. Sangye und ich schlenderten ins einen Kilometer entfernte Nachbardorf. Auf den Wiesen grasten dicke Yak-Ochsen friedlich im Sonnenschein.

Vor einem kleinen Haus saßen zwei ältere Frauen im Gras und plauderten. Ihre Gesichter waren breit und rund, die Zähne rot von Betelblättern und ihre Augen so schmal, dass sie zwei Strichen glichen, umgeben von tiefen Runzeln. Sie winkten und riefen, wir sollten kommen und uns zu ihnen setzen. Als wir uns ins Gras setzten, standen sie auf und verschwanden auf unsicheren Beinen im Haus. Kurz darauf kamen sie mit einer großen Flasche Ara und drei Schalen zurück: eine für mich, eine für Sangye und eine, die sie sich teilten.

»Wir sind Schwestern, daher können wir aus einer Schale trinken«, lächelten sie. Die ältere hieß Tsesum und war siebenundsiebzig Jahre alt, die jüngere Deng Wangmo, sie hatte gerade ihren siebzigsten Geburtstag gefeiert.

Kalt und nicht mit Eiern oder Butter vermischt, ließ sich der Ara nicht so leicht trinken, trotz der enthusiastischen Nötigungen der Schwestern. Sobald ich einen Schluck getrunken hatte, füllten sie nach.

»In der letzten Zeit sind viele Touristen hierhergekommen«, berichtete Tsesum. »Bestimmt zehn. Wir haben ihnen Ara serviert, und einige haben uns Geld gegeben, aber nicht alle. Früher hatten wir hier kein Geld«, fügte sie hinzu. »Wir tauschten Käse und Butter gegen Mais und Reis. Reis war übrigens nicht so gewöhnlich, normalerweise aßen wir Maisbrot. Wir hatten auch keine Küchengeräte und keine Elektrizität. Das alles kam erst vor sieben, acht Jahren. Die Veränderungen gehören dazu. Das Leben ist jetzt einfacher!«

Tsesum hatte insgesamt sieben Kinder, sechs hatten überlebt. Alle waren im Dorf geblieben. Ihre Schwester hatte keine Kinder, daher hatte Tsesum ihr eine ihrer Töchter überlassen, damit die Schwester nicht ganz allein war.

»Jetzt haben wir Strom und auch Fernsehen«, erzählte Tsesum und schenkte Ara nach. »Gleich beginnt unser Lieblingsprogramm.«

Deng Wangmo war bereits im Haus vor den Fernseher verschwunden. Wir nahmen es als Hinweis und standen auf, um zu gehen.

»Nein, Sie müssen nicht gehen, kommen Sie herein und schauen Sie sich die Show mit uns an!«, forderte Tsesum uns auf. »Sie müssen sich ohnehin aufwärmen, bevor Sie gehen.«

Deng Wangmo hatte den Ofen angefeuert, in dem kleinen Raum war es brüllend heiß. Zwei Hundewelpen und eine schwarze Katze lagen auf einer Decke am Ofen. Die Schwestern schauten hingerissen auf den kleinen Fernsehapparat, der auf einer Kommode stand, flankiert von Fotos der königlichen Familie. Der Bildschirm zeigte einen jungen Mann in traditioneller Kleidung, der allein auf einer Bühne stand und vor einem blauen Hintergrund sang.

»Ist das die Idol-Show?«, fragte ich.

Sangye schüttelte den Kopf. »Idol gibt es auch, aber dies ist kein Wettbewerb«, erklärte er. »Dies ist ein Programm, in dem junge Menschen, die es schwer haben und vielleicht auch arbeitslos sind, sich als Sänger im Fernsehen präsentieren können. Die Idee ist, dass sie dadurch mehr Selbstvertrauen bekommen, um sich zum Beispiel einen Job zu suchen.«

Tsesum holte eine Schüssel mit getrocknetem Yak-Käse und dem berühmten ranzigen Käse des Dorfes und bestand darauf, dass wir beides probierten. Der ranzige Käse schmeckte wie eine Mischung aus Sauermilch und Roquefort – eigentlich gar nicht so schlecht. Um ihn hinunterzuspülen, bekamen wir noch mehr Ara. Auf dem Bildschirm löste ein Sänger den anderen ab, ich hatte Probleme, sie voneinander zu unterscheiden. Tsesum und Deng Wangmo verfolgten fasziniert die Gesangsshow und drehten dabei Dochte für die Butterlampen, die sie am folgenden Tag anzünden wollten.

»Morgen ist ein großer Tag«, erklärte Sangye. »Es ist der Tag, an dem Buddha zur Erde hinabstieg, und es ist Muttertag.« Er trank einen großen Schluck vom kalten Ara. »Ich erinnere mich nicht, wie meine Mutter aussah. Ich habe kein Foto von ihr. Nachdem sie starb, hat meine Schwester Kontakt zu einem Astrologen aufgenommen. Er erklärte, dass Mutter als Kuh wiedergeboren würde. Die Kuh, also meine Mutter, lebt noch immer, habe ich gehört, aber in einem weit entfernten Dorf.«

Bevor wir gingen, gab ich jeder der beiden Schwestern zweihundert Ngultrum. Sie nahmen die Scheine mit breitem Lächeln entgegen und steckten sie in die Taschen ihrer Kleider.

Sangye und ich gingen zurück nach Merak. Der Himmel hatte eine rosagoldene Farbe, bald würde es dunkel werden. Der Wind brannte auf den Wangen, ich fror. Sobald die Sonne verschwand, wurde die Bergluft rau und kalt. Der Boden unter mir schwankte, die Höhenzüge tanzten. Ich sah doppelt so viele Yak-Ochsen.

Lam Ranchen, der Bürgermeister von Merak, hatte etwas in Trashigang zu erledigen, wir nahmen ihn am nächsten Morgen in unserem Auto mit. Er war zweiundfünfzig Jahre alt, hatte ein breites, zerfurchtes Gesicht und trug eine Winterjacke mit Tarnfleckmuster. Die Zähne waren rot von den Betelblättern, die er ununterbrochen kaute und ausspuckte.

»Der Alltag in Merak hat sich enorm verändert«, erzählte er. »Alles ist heute einfacher, aber dafür sind die Menschen in schlechterer Verfassung, denn sie gehen nirgendwo mehr zu Fuß hin. Jetzt haben wir Diabetes in Merak! Früher waren die Leute hier nie krank.«

So wirken die Segnungen der Modernisierung sich aus. Straßen und Elektrizität lassen das Dasein für die Menschen einfacher und bequemer werden, die ganze Welt ist über einen Bildschirm zugänglich, die jungen Leute sind nicht länger zu einem Leben auf dem Dorf verurteilt, sondern haben die Möglichkeit, ihr Glück woanders zu versuchen. Viele tun es. Journalisten und Wissenschaftler haben sich besorgt über die Zukunft der einzigartigen Kultur der Brokpa geäußert, als sie endlich eine Straße bekamen, aber eine Kultur ist kein Heimatmuseum. Wer wollte wohl einen Ambulanzhubschrauber, Schulbesuch, gutes Arbeitslicht und Geschäfte, in denen sich die Regale vor Waren biegen, gegen schwere körperliche Arbeit, riskante Geburten im Wald, kilometerlange Fußwege ins nächste Krankenhaus und dunkle, verrußte Stuben eintauschen?

Ebenso wenig wie eine Kultur ein Heimatmuseum ist, ist sie eine zarte Blume. Sie verblüht und verschwindet nicht, nur weil sie die Luft mit Autoabgasen und elektrischem Licht teilen muss.

Der Bürgermeister öffnete das Fenster, spuckte die Betelblätter aus und steckte ein neues Bündel in den Mund.

»Haben Sie von dem Gift gehört?«, fragte er leise. »Drei, vier Familien im Dorf haben es. Es kommt vor, dass die Menschen ihren eigenen Ehepartner oder ihre eigenen Kinder vergiften, ohne es zu wollen. Diejenigen, die das Gift in sich haben, können nichts dafür. Ob Sie krank werden oder nicht, wenn sie Speisen von denen entgegengenommen haben, die das Gift in sich tragen, hängt davon ab, wie stark Sie sind. Ich selbst bin nie krank geworden, obwohl ich bei diesen Familien gegessen und getrunken habe, aber viele meiden sie.«

»Was tut man, wenn man krank wird?«, fragte ich ihn.

»Wenn Sie Magenschmerzen bekommen, nachdem sie etwas bei jemandem gegessen haben, der das Gift in sich hat, muss ein Schamane einen kleinen Schnitt in die Haut am Bauch setzen und das vergiftete Blut heraussaugen. Aber das hilft nicht immer. Sehr viel Seltsames passiert in dieser Gegend, das kann ich Ihnen sagen. Das liegt daran, dass es hier so unberührt ist, so isoliert. Ich zum Beispiel befasse mich mit einem Forschungsprojekt über Yetis …«

»Yetis?« Ich klang wie ein Echo.

»Ja, wir haben viele Yetis in dieser Gegend«, behauptete Lam Ranchen. »Erst letztes Jahr verschwand ein junger Mitarbeiter des Gesundheitswesens spurlos aus dem Dorf. Man fand seine Kleider sorgfältig zusammengelegt, aber nie eine Leiche. Die Polizei suchte wochenlang. Aller Wahrscheinlichkeit nach wurde er von einer Yeti-Frau entführt, die ihn als Ehemann wollte.«

»Haben Sie schon mal einen Yeti gesehen?«

»Nein, ich habe nur Spuren gesehen. Ihre Fußspuren sind groß. Sie haben lange Fußnägel, aber eine kurze Ferse. Manchmal verändern sie ihre Abdrücke, sodass sie aussehen wie Pferde- oder Kuhspuren. Viele Bewohner der Dörfer hier in der Gegend haben Yetis gesehen, und hin und wieder brennen die Leute auch große Waldgebiete nieder, um sie zu vertreiben. Vor nicht allzu langer Zeit wurde ein Yeti von einigen Dorfbewohnern getötet. Sie haben ihn vergraben und es den Behörden mitgeteilt. Sie wurden aufgefordert, den Leichnam vorbeizubringen, aber als sie das Loch wieder aufgruben, war der Yeti verschwunden …«

Die Autofahrt nach Trashigang (1500 Meter über N.N.) ging so langsam voran, dass wir zu Fuß schneller gewesen wären, aber dafür lernte ich mit jedem Kilometer, den wir bergab holperten, etwas Neues über Yetis. Yetis ernähren sich hauptsächlich vegetarisch, aber sie trinken auch gern Blut – tatsächlich hatten Dorfbewohner tote Yaks gefunden, die vollkommen eingeschrumpelt waren, mit weißem blutleerem Fleisch. Wenn man das Pech – oder das Glück – hat, einem Yeti zu begegnen, muss man zuerst sein Geschlecht bestimmen. Ist es ein Männchen, muss man bergauf laufen, denn männliche Yetis haben langes Haar, über das sie stolpern. Ist es ein Weibchen, muss man bergab laufen, denn weibliche Yetis haben große Brüste, die ihnen beim Bergablaufen Schwierigkeiten bereiten.

Niemand hat bisher einen handfesten Beweis gefunden, dass es Yetis gibt, aber es mangelt nicht an Beobachtungen und Anekdoten.

Während einer seiner vielen Everest-Expeditionen sah Eric Shipton, der britische Konsul, der den Felsbogen bei Kaschgar entdeckte, zum Beispiel mysteriöse Fußspuren in sechstausend Metern Höhe. Die Fotos der Fußspuren halten viele für den bisher besten Beweis für die Existenz des Yetis.

Im Frühjahr 2019 erregte ein Foto einer geheimnisvollen Fußspur Aufmerksamkeit, das eine Kompanie auf einer Himalaya-Expedition gemacht hatte. Die indische Armee hatte es auf Twitter veröffentlicht. Die indischen Soldaten erklärten, es müsse sich um eine Yeti-Fußspur handeln. Sie wurden ausgelacht und heftig kritisiert, weil sie derartige Geschichten verbreiteten.

»Es ist arrogant, dass wir Menschen glauben, wir wüssten alles«, argumentierte Tshering Tashi, ein Schriftsteller, den ich einige Wochen später kennenlernte, kurz bevor ich Bhutan verließ. »Die Gnuziege oder Takine, unser Nationaltier, wurde auch lange als mythologisches Tier angesehen. Doch dann stellte sich heraus, dass es dieses Tier gibt, es sieht nur ziemlich seltsam aus. Und bis 1932 glaubten die Wissenschaftler, blauer Mohn sei eine mythologische Blume! Hier in Bhutan haben wir über siebenhundert verschiedene Vogelarten, und die Ornithologen entdecken ständig neue. Unsere Ornithologen sind ausgesprochen faul, sie brauchen einfach nur ein bisschen im Wald spazieren zu gehen und kehren mit der Entdeckung eines neuen Vogels zurück. Wenn es den Yeti gibt, dann ist er in Bhutan zu finden. Der Yeti ist scheu, aber wir haben viel unberührte Natur. Der Yeti zieht langsam in Richtung Nordosten, wo der größte Teil der Natur tatsächlich noch unberührt ist.«

Ich begann zu ahnen, warum der Waldaufseher in Merak so wenig mitteilsam gewesen war. Das nationale Fremdenverkehrsbüro tat allerdings nicht so geheimnisvoll. »Im Reservat leben Menschen aus isolierten Nomadenstämmen«, informierte es auf seiner Homepage. »Ein Kennzeichen des Reservats sind dichte Rhododendronwälder, in dem Gebiet streifen Schneeleoparden, der Kleine Panda, der Asiatische Schwarzbär, Muntjaks, der Himalaya-Rotfuchs, das gestreifte Himalaya-Eichhörnchen und hin und wieder der mythische Yeti (oder ›der abscheuliche Schneemensch‹) umher.«

Während meines Aufenthalts im Wildreservat habe ich selbst nicht den Hauch eines Yetis gesehen, weder männlichen noch weiblichen Geschlechts, allerdings habe ich auch keinen einzigen Schneeleoparden, Kleinen Panda, Asiatischen Schwarzbär, Muntjak, Himalaya-Rotfuchs und auch kein gestreiftes Himalaya-Eichhörnchen gesehen.