Der Flugplatz in Yonphula (2743 Meter über N.N.) war so klein, dass es eine Weile dauerte, bis ich ihn entdeckte. Die Büros, die Abfertigungshalle und ein Wartebereich waren in einem bescheidenen quadratischen Haus untergebracht, während ein Aufbau über der ersten Etage als Kontrollturm diente. Eine Frau wog mein Gepäck, klebte einen Aufkleber darauf, auf dem Security Checked stand, und warf einen raschen Blick auf mein Handgepäck.

»Trinken Sie das Wasser aus, bevor Sie an Bord gehen«, ermahnte sie mich. »Guten Flug!«

Ich verabschiedete mich von Sangye und Sonam und stieg die Treppe zu dem kleinen Flugzeug hinauf. Der Pilot, ein großer, hellhäutiger Europäer in den Sechzigern, plauderte gemütlich mit den Passagieren auf der Rollbahn, bevor er sich an den Steuerknüppel setzte.

Die Sonne schien aus einem wolkenlosen Himmel, und aus dem ovalen Flugzeugfenster hatte ich freie Sicht auf die mit Wald bedeckten Höhenzüge und verschneiten Gipfel. Bhutan ist so groß wie die Schweiz, hat aber eine wesentlich abwechslungsreichere Topografie. Im Flachland im Süden, an der Grenze zu Indien, ist es heiß und feucht, während der mittlere Teil von grünen Höhenzügen und niedrigen Bergen geprägt ist. Tier- und Pflanzenwelt sind ungewöhnlich vielfältig – vom Nashorn bis zum Schneeleopard findet sich alles innerhalb der Landesgrenzen, und die Botaniker haben mehr als fünfeinhalbtausend verschiedene Pflanzen identifiziert, darunter über vierhundert verschiedene Orchideen- und sechsundvierzig Rhododendronarten. Die Grenze zum tibetischen Plateau im Norden dominieren die großen Himalaya-Berge mit ihren eisbedeckten Gipfeln. Bhutans höchster Berg, der Ganghar Puensum, ragt siebentausendfünfhundertsiebzig Meter über dem Meeresspiegel auf und ist der höchste Berg der Welt, der noch nie bestiegen wurde – in Bhutan ist es verboten, Berge über sechstausend Meter Höhe zu besteigen, um die Götter und Geister nicht zu stören, die in dieser Höhe wohnen.

Die Stewardessen teilten Snacks und die aktuelle Ausgabe des Kuensel aus, Bhutans ältester und bis vor Kurzem einziger Zeitung. Auf der Titelseite war ein großes Foto des Königs abgedruckt, der von Soldaten der königlich bhutanischen Armee umringt war. Die Zeitung erinnerte daran, dass Seine Majestät Druk Gyalpo Jigme Khesar Namgyel Wangchuck, populär der Volkskönig genannt, vor genau elf Jahren gekrönt worden war. Die Zeitung nutzte das Ereignis, um im Leitartikel Teile seiner damaligen Krönungsrede nachzudrucken.

»In meiner Regierungszeit will ich niemals wie ein König über euch herrschen. Ich will euch beschützen wie ein Vater, fürsorglich sein wie ein Bruder und euch dienen wie ein Sohn. Ich will euch alles geben und nichts für mich behalten …«

Druk Gyalpo bedeutet »Drachenkönig«, und Jigme Khesar Namgyel Wangchuck ist der fünfte Drachenkönig der Dynastie Wangchuck, die 1907 an die Macht kam.

Wenig ist über Bhutans frühe Geschichte bekannt, denn fast alle Staatsarchive wurden bei einem Brand Anfang des 19. Jahrhunderts vernichtet. Man weiß, dass Bhutan um 1630 von dem tibetischen Heerführer Ngawang Namgyal, der häufig nur »der Vereiniger« genannt wird, zu einem Königreich zusammengeführt wurde. Nachdem er in seiner Heimat Probleme bekam, ließ er sich im westlichen Bhutan nieder und sicherte sich rasch die Kontrolle über die wichtigsten und bevölkerungsreichsten Täler. Viele der Dzongs, die über ganz Bhutan verstreut liegen – ein Dzong ist eine Art Kombination aus Festung, Administrationsgebäude und Kloster –, stammen aus dieser Zeit. Ngawang Namgyal starb 1652, aber um einen Rückfall in die gesetzlosen Zustände zu verhindern, die vor der Vereinigung geherrscht hatten, verständigten sich die einheimischen Gouverneure darauf, den Todesfall geheim zu halten. Dies gelang tatsächlich vierundfünfzig Jahre lang.

Das 18. und 19. Jahrhundert war geprägt von Grenzstreitigkeiten und internen Machtkämpfen. 1865, nach einigen Monaten Krieg gegen die Briten, musste Bhutan einen Teil seines Territoriums im Süden abgeben. Während der anschließenden internen Machtkämpfe und Bürgerkriege setzte sich Ugyen Wangchuck durch, der Gouverneur von Trongsa in Zentral-Bhutan. 1907 wurde er von den führenden Lamas und den übrigen Gouverneuren einstimmig zum Erbkönig gewählt. Ugyen Wangchuck arbeitete eng mit den Briten zusammen und unterschrieb 1910 ein Traktat, das ihnen die Kontrolle über Bhutans Außenpolitik überließ. Als Gegenleistung sollte Bhutan von den Briten militärischen Schutz erhalten. 1949 übernahm Indien formal die Rolle der Briten. Sollte eine fremde Macht Bhutan angreifen, würde es als ein Angriff auf Indien angesehen. Im Gegensatz zu Sikkim hat Bhutan es aber geschafft, eine gute und fruchtbare Zusammenarbeit mit Indien aufrechtzuerhalten, ohne die eigene Unabhängigkeit aufzugeben. 1971 wurde das Land Mitglied der Vereinten Nationen.

Bhutan ist in vieler Hinsicht eine Ausnahme, beinahe ein Anachronismus. Trotz der engen Zusammenarbeit mit Großbritannien und später mit Indien ist das Land nie eine Kolonie gewesen, heute ist es das einzige verbliebene Königreich im Himalaya. Unter den ersten beiden Wangchuck-Königen war Bhutan eine absolute Monarchie und nahezu vollständig isoliert vom Rest der Welt. Rund neunzig Prozent der Bevölkerung waren Bauern, viele Mönche lebten in den zahlreichen Klöstern, die erhebliche Macht und Einfluss besaßen. Die Volksgesundheit war generell schlecht, es gab weder Schulen noch Krankenhäuser, ebenso wenig Gerichte oder irgendeine Form von Grundgesetz. Die Schriftsprache war klassisch tibetisch, doch nur die Mönche konnten lesen und schreiben, der Rest der Bevölkerung bestand überwiegend aus Analphabeten. Es gab auch keine Geldwirtschaft, jeglicher Warenverkehr basierte auf Tauschhandel.

Der dritte Drachenkönig, Jigme Dorji Wangchuck, war erst zweiundzwanzig Jahre alt, als er 1952 den Thron bestieg. Er hatte eine britische Schule in Indien besucht, mehrere europäische Länder bereist und war fest entschlossen, Bhutan zu modernisieren. Der junge König musste in vieler Hinsicht ganz von vorn anfangen, aber mit der Unterstützung der indischen Regierung, die froh war, einen Alliierten an der Grenze zu China zu haben, ließ er Schulen, Krankenhäuser und Straßen bauen. Er sorgte auch für die Einrichtung der ersten Nationalversammlung des Landes, ein erster Schritt gegen die uneingeschränkte Königsmacht, und er schaffte die in ganz Bhutan verbreitete Sklaverei ab. 1968 öffnete die erste Bank des Landes, sechs Jahre später wurde Bhutans eigene Valuta, der Ngultrum, in Umlauf gebracht. Ein Ngultrum entspricht einer Rupie – ein deutlicher Indikator der engen wirtschaftlichen Zusammenarbeit zwischen Indien und Bhutan. Rupien sind im Übrigen ein gültiges Zahlungsmittel in Bhutan, und Indien ist noch immer Bhutans absolut wichtigster Handelspartner: Beinahe achtzig Prozent des Außenhandels findet mit dem großen Bruder im Süden statt.

1972 starb König Jigme Dorji Wangchuck in einem britischen Krankenhaus in Nairobi, nachdem er viele Jahre an Herzproblemen gelitten hatte. Er wurde lediglich dreiundvierzig Jahre alt. Sein ältester Sohn, Jigme Singye Wangchuck, wurde zwei Jahre später im Alter von nur achtzehn Jahren zum König gekrönt. 1979 heiratete der vierte König vier Schwestern in einer privaten Zeremonie, so wie es ihm die Astrologen geraten hatten – insgesamt schenkten ihm seine Ehefrauen zehn Kinder.

Jigme Singye Wangchuck setzte die Arbeit seines Vaters, die Modernisierung und Demokratisierung des Landes, fort. Im Gegensatz zu vielen anderen asiatischen Ländern vollzog sich die Modernisierung von Bhutan aber langsam und kontrolliert. Man versuchte, das Bedürfnis nach Fortschritt und Veränderung mit dem Erhalt der bhutanischen Kultur in Einklang zu bringen. So wurden zum Beispiel erst 1999 Fernsehen und Internet im Land eingeführt, außerdem gibt es weiterhin strenge Vorschriften und Restriktionen, welche architektonischen Stilarten zugelassen sind. Für Ausländer ist es schwer, die bhutanische Staatsbürgerschaft zu bekommen – man muss mindestens fünfzehn Jahre im Land gelebt haben, Dzongkha mündlich und schriftlich beherrschen und gute Kenntnisse der Geschichte und Kultur Bhutans nachweisen. Damit ein Kind automatisch die bhutanische Staatsbürgerschaft erhält, müssen beide Eltern Staatsbürger Bhutans sein.

Diese protektionistische Kulturpolitik ging wesentlich zulasten der nepalisprechenden Bevölkerung im südlichen Bhutan. Die Einwohner des Landes lassen sich in drei Hauptgruppen einteilen: Sharchop, Ngalop und Nepali. Die Sharchops sind ein indomongolisches Volk, das vor rund dreitausend Jahren aus den umliegenden Regionen in Indien und Myanmar nach Bhutan migrierte und heute hauptsächlich im östlichen Bhutan lebt. Die Ngalops leben überwiegend im westlichen Bhutan und sind im 9. Jahrhundert aus Tibet eingewandert – in Sikkim wird diese Volksgruppe Bhutia genannt. Ngalop und Sharchop, die überwiegend Buddhisten sind, stellen zusammen ungefähr die Hälfte der Bevölkerung Bhutans und dominieren Politik und Kultur. Rund ein Drittel der Einwohner sind jedoch Hindus und sprechen Nepali als Muttersprache. Sie werden als Lhotshampa bezeichnet, das auf Dzongkha »Volk aus dem Süden« bedeutet.

In Sikkim wurde die tibetisch-buddhistische Bevölkerung von den hinduistischen Nepali verdrängt, was in letzter Instanz dazu führte, dass das kleine Königreich von Indien geschluckt wurde. Vermutlich fürchteten die Verantwortlichen in Bhutan, dass ihnen etwas Ähnliches passieren könnte, als in den 1980er Jahren die »Eine Nation, ein Volk«-Politik eingeführt wurde. Nepali wurde in den öffentlichen Schulen als Unterrichtssprache abgeschafft, sämtliche Einwohner des Landes wurden verpflichtet, sich täglich in den Nationaltrachten Gho und Kira zu kleiden. Viele Lhotshampa hatten seit Generationen in Bhutan gelebt, aber nicht alle hatten Papiere, die dies bewiesen. Familien, die ihr formales Eigentumsrecht auf den Boden, auf dem sie lebten, nicht nachweisen konnten oder beweisen, dass sie seit den fünfziger Jahren Steuern bezahlt hatten, wurde die Staatsbürgerschaft verweigert. Zu Beginn der 1990er Jahre wurden über hunderttausend nepalisprechende Bhutanesen aus Bhutan vertrieben und endeten in Flüchtlingslagern im östlichen Nepal. Da Nepal keine Staatsbürgerschaft an Flüchtlinge erteilt, waren sie damit de facto staatenlos. Heute ist der größte Teil in Drittländern untergekommen, hauptsächlich in den USA, aber noch immer leben rund siebentausend bhutanische Flüchtlinge in nepalesischen Flüchtlingslagern.

Nach zweiunddreißig Jahren an der Macht trat Jigme Singye Wangchuck 2006 zurück und überließ den Thron seinem ältesten Sohn, dem sechsundzwanzigjährigen Jigme Khesar Namgyel Wangchuck. Er übertrug aber nicht nur die Verantwortung auf seinen Sohn, er nahm ihm gleichzeitig auch viel von seiner Macht. Der abdankende König hatte beschlossen, das Land von einer absoluten Monarchie in eine konstitutionelle Monarchie umzuwandeln. Silvester 2007 wurde die erste Wahl in der Geschichte Bhutans abgehalten, das Land bekam seine erste demokratische Regierung. Seither sind zwei weitere Wahlen abgehalten worden, bei denen die jeweils amtierende Regierung abgewählt wurde.

»Das besondere Band zwischen dem Monarchen und dem Volk ist stärker als je zuvor«, fuhr der Autor des Leitartikels in Kuensel enthusiastisch fort. »Wir sind glücklich, unseren Volkskönig zu haben, der uns leitet, inspiriert und dient. Der einzigartige Frieden, die Harmonie und der Fortschritt der letzten zehn Jahre können dem unbeirrten Entschluss Seiner Majestät zugeschrieben werden, seinem Volk zu dienen. Im Laufe des letzten Jahrzehnts hat Seine Majestät die Nation mit sicherer Hand und Talent gesteuert, nachdem der Demokratisierungsprozess zum Teil zu außergewöhnlichen Ereignissen geführt hat – zu Änderungen in der Politik, der Wirtschaft und dem bhutanischen Verhalten. Mit einem weichen Übergang zu einer demokratischen, konstitutionellen Staatsform und drei gelungenen Wahlen ist die Demokratie dabei, sich zu festigen, die Zukunft erscheint vielversprechend. An diesem glückbringenden Krönungstag betet die Nation um Gesundheit und ein langes Leben für Seine Majestät. Möge Drukyul weiterhin Frieden und Ruhe, Sicherheit und Selbstständigkeit, Glück und Wohlstand bis in alle Ewigkeit genießen.«

Zwischen all dem Grün, das ich unter uns sah, entdeckte ich tief unten eine gigantische vergoldete Buddha-Statue. Der Pilot drosselte die Geschwindigkeit und begann den Sinkflug. Wir mussten uns anschnallen und die Rückenlehnen senkrecht stellen. Die Start- und Landebahn von Paro ist umgeben von hohen Bergen und gilt als technisch so herausfordernd, dass nur siebzehn Piloten die Erlaubnis haben, dort zu landen. Ich blickte kurz auf einen länglichen Streifen, dann legte sich das Flugzeug auf die Seite, und ich sah nichts als Himmel und Berggipfel. Sekunden später setzten die Räder auf.

Eine Reise nach Bhutan ist nicht komplett ohne einen Besuch des Tigernests (3120 Meter über N.N.), des Klosters, das sich an einen Berghang hoch über Paro klammert. Dechen, mein weiblicher Guide, die mich an der indischen Grenze abgeholt hatte, begleitete mich auf dem steilen, sandigen Pfad bergauf. Der Besuch im Tempel hatte geholfen, ihre Tochter war wieder heiter und fröhlich.

Der Aufstieg zum Kloster dauerte anderthalb Stunden. Auf dem Weg kamen wir an unzähligen im Wind flatternden Gebetsfahnen vorbei, die von immergrünen Pinien umgeben waren.

»Wie oft sind Sie diesen Berg schon hinaufgestiegen?«, fragte ich außer Atem.

»Hunderte Male!«, strahlte Dechen. »Aber es ist jedes Mal wieder magisch.« Sie schien es ernst zu meinen.

Erst als wir auf Höhe des Klosters waren, sahen wir es richtig, und es war tatsächlich ein magischer Anblick: Die weißen, roten und goldfarbenen Gebäude wuchsen aus der steilen Felswand heraus, dass es beinahe so aussah, als würden sie schweben. Der Legende nach wurde das Kloster auf dem Rücken von Dakinis, heiligen Göttinnen, auf den Berg getragen und mit ihren Haaren an den Felsen befestigt.

»Im 8. Jahrhundert kam Padmasambhava aus Tibet auf dem Rücken einer Tigerin hierhergeflogen«, erzählte Dechen. »Er meditierte drei Jahre, drei Monate, drei Wochen und drei Tage in einer Berghöhle, und es gelang ihm, alle bösen Kräfte zu zähmen, die den Buddhismus daran hinderten, sich im Himalaya zu verbreiten. Gut tausend Jahre später, 1692, wurde das Kloster an der Höhle gebaut, in der er meditiert hat.«

Der pakistanische Archäologe aus dem Swat-Tal hatte recht behalten. Auf Padmasambhava, auch bekannt als Guru Rinpoche, stieß ich überall im buddhistischen Himalaya. In Bhutan wird der tantrische Meister besonders verehrt: Padmasambhava ist Bhutans geistiger Vater, das bedeutendste göttliche Wesen und die eindeutig wichtigste historische Figur.

Die Geschichte von Padmasambhavas Leben und Wirken ist so verwoben mit fantastischen Legenden, dass es heute schwierig ist, den Mann von seinem Mythos zu trennen. Der Meister soll im Königreich Oddiyana, dem heutigen Swat-Tal, auf einer Lotosblume geboren worden und als Pflegesohn von König Indrabhuti, der keine eigenen Kinder hatte, aufgewachsen sein. Als Jugendlicher verließ er das Königreich und wanderte als Asket in Indien umher; dort experimentierte er mit verschiedenen tantrischen Richtungen und schwarzer Magie, studierte unterschiedliche Wissenschaften und ging bei mehreren Gurus in die Lehre. Sehr bald schon stellte sich heraus, dass er über besondere Fähigkeiten verfügte; es gelang ihm, furchterregende Dämonen zu bezwingen und zu zähmen, an denen andere Meister gescheitert waren. König Trisong Detsen hörte in Tibet von Padmasambhavas Meriten und lud ihn ein, an die Nordseite des Himalaya zu kommen. Der König hoffte, der mächtige Meister würde es schaffen, die Geister und Dämonen zu bezwingen, die verhinderten, dass in Tibet buddhistische Klöster errichtet wurden. Jedes Mal, wenn der König versucht hatte, ein Kloster bauen zu lassen, brannte es nieder oder wurde auf andere Weise zerstört. Padmasambhava hatte auch hier Erfolg, wo andere versagt hatten, er bezwang die lästigen Dämonen. Im Jahr 779 konnte das Samye-Kloster, Tibets allererstes buddhistisches Kloster, endlich eingeweiht werden.

Padmasambhava gilt als Begründer der Nyingma-Schule, der ältesten der vier Schulen innerhalb des tantrischen Buddhismus, aber unabhängig davon, welcher Richtung sie anhängen, gilt Padmasambhava bei den Buddhisten in ganz Bhutan als wichtigster geistiger Lehrmeister und Ratgeber. Sie betrachten ihn als Reinkarnation von Buddha, daher wird er häufig auch »der andere Buddha« genannt. Padmasambhava soll in sämtlichen Ecken Bhutans gewesen sein und hat überall im Land seine Spuren hinterlassen: mystische Fußabdrücke in Steinen, Tänze und Mantras, die er lehrte, Höhlen, in denen er meditierte, Tempel, die er errichtete oder die ihm zu Ehren errichtet wurden. Von allen Tempeln ihm zu Ehren ist Paro Taktsang, das Tigernest, der bekannteste, er gilt als eine der heiligsten Pilgerstätten im ganzen Himalaya.

Eine lange, steile Treppe führte hoch zum eigentlichen Kloster. Wir zogen die Schuhe aus und betraten das Heiligtum. Dechen blieb vor einem großen Stein stehen, der schräg an der rotgestrichenen Klostermauer lehnte.

»Schließen Sie die Augen und treten Sie mit ausgestreckten Daumen vor«, forderte sie mich auf. »Wenn Sie den schwarzen Punkt auf dem Stein treffen, haben Sie ein gutes Karma und sind Ihren Eltern nahe.«

Ich traf mit ziemlichem Abstand daneben.

Vor der Höhle, in der Padmasambhava über drei Jahre meditiert hatte, verbeugte sich Dechen drei Mal, wobei sie konzentriert Mantras murmelte. Die eigentliche Höhle ist nur an einem Tag des Jahres geöffnet. Neben dem Altar lagen drei Würfel.

»Heben Sie sie an die Stirn, wünschen Sie sich etwas und würfeln Sie«, forderte Dechen mich auf. Ich tat es und würfelte vierzehn Augen. Wir wussten beide nicht, ob das gut oder schlecht war, aber wir hofften das Beste und gingen zum nächsten Tempel, der einer enormen vergoldeten Statue von Padmasambhava geweiht war. Der Meister ist in der Regel leicht erkennbar an seinem dünnen Bart – es sei denn er tritt in einer seiner acht übrigen Erscheinungsformen auf. Sechs Mal warf sich Dechen mit über dem Kopf zusammengepressten Händen flach auf den Boden, zuerst in Richtung des leeren Thronsessels des Lamas, dann wandte sie sich Padmasambhava zu, wobei sie die ganze Zeit Mantras aufsagte.

Halb verborgen saß ein Mönch hinter einem Vorhang und spielte mit seinem Mobiltelefon. Dechen ergriff die Chance.

»Sie hat die drei Würfel geworfen und vierzehn Augen erzielt. Ist das eine gute Zahl?«

»Die Zahl ist ganz in Ordnung, aber zehn oder elf wäre noch besser gewesen«, antwortete der Mönch. »Versuchen Sie es noch einmal! Jeder hat drei Versuche.«

»Und wenn ich nun beim nächsten Mal eine schlechtere Zahl würfele?«, wandte ich ein.

»Das macht nichts«, beruhigte mich der Mönch. »Die beste Zahl gilt.«

Die verschiedenen Kapellen waren durch breite, steile Treppen getrennt, die durch einfache Blechdächer geschützt waren. Das Kloster war in Wahrheit ein Labyrinth, und jede Treppe führte zu einem neuen Altar, auf dem Hunderte von Butterlampen flackernde Schatten schufen. Aus einem schmalen Spalt im Felsen führte eine wacklige, steile Leiter in eine enge, niedrige Höhle. Wir stiegen hinab und schlängelten uns durch die Höhle, bis wir auf ein schmales Plateau ins Freie kamen. Von dort blickten wir bis zum Tempel, der über unseren Köpfen schwebte, und konnten zudem die senkrechte Felswand hinuntersehen. Eine schwarze Katze strich um eine Ecke und verschwand.

Das Kloster wurde 1692 gebaut, aber die Tempel, die wir besuchten, und die Statuen, die wir bewunderten, waren nagelneu. 1998 brannte der größte Teil des Klosters nieder, nur der Haupttempel, direkt neben der Höhle, in der Padmasambhava meditierte, wurde verschont. Der Brand könnte durch eine Butterlampe oder ein Problem mit der elektrischen Anlage verursacht worden sein, niemand weiß es genau. 2005 wurde das wiederaufgebaute Kloster vom vierten König eingeweiht.

Bevor wir uns die Schuhe anzogen und den Rückweg antraten, gingen wir noch einmal zu Padmasambhavas Meditationshöhle. Ich hielt die Würfel gegen die Stirn, wünschte mir dasselbe wie beim ersten Mal und warf.

Diesmal hatte ich eine Zehn.

Am Abend gingen wir in Paro (2559 Meter über N.N.) in ein Drayang, eine Art bhutanische Tanzbar. Sie lag in einem Keller, die Klientel bestand überwiegend aus jungen Männern in Lederjacken und Jeans. Auf der Bühne stand eine junge Frau in der traditionellen Kira. Sie bewegte die Arme im Takt der Musik, während sie lächelnd auf der Bühne auf und ab ging. Die Musik war laut, vertraut und gleichzeitig auch fremd; moderne, durchdigitalisierte Popmusik klingt auf der ganzen Welt ziemlich gleich, auch wenn sie auf Dzongkha vorgetragen wird. Dechen und ich fanden ein freies Sofa und bestellten zwei Bier.

»Drayangs wurden vom vierten König eingeführt, damit Mädchen, die sonst nirgendwo Arbeit finden, Geld verdienen können.« Dechen schrie, um die Musik zu übertönen. Kurz darauf kam ein junges Mädchen in einer grünen Kira zu uns und fragte, ob wir einen Musikwunsch hätten.

»Tanz für Erika und Dechen!«, sagte Dechen und gab dem Mädchen hundert Ngultrum, etwas mehr als einen Euro. Das Mädchen schrieb unsere Namen auf einen Notizblock. Eine andere junge Frau war auf die Bühne gegangen und tanzte ebenso unschuldig und zurückhaltend wie das erste Mädchen. Mir gelang es nicht, die Lieder zu unterscheiden, sie klangen alle gleich. Als der Beifall verklungen war, war das Mädchen in der grünen Kira an der Reihe. Sie betrat die Bühne, teilte mit, dass das nächste Lied Erika und Dechen gewidmet sei, und begann auf und ab zu gehen und ihre Arme zu bewegen.

Alle Tänzerinnen waren jung und süß und glichen einander bis zur Verwechslung, nur eine unterschied sich deutlich von den anderen. Sie hatte langes, glattes Haar und regelmäßige, puppenhafte Züge. Die Lippen waren voll, aber im Gegensatz zu den anderen Mädchen war sie so gut wie nicht geschminkt. Wie alle anderen trug sie die traditionelle Kira, aber ihre Jacke bestand aus einem durchsichtigen Material, sodass man ihr Unterhemd sehen konnte.

Sie hieß Dechen, genau wie mein Guide, und lud uns für den kommenden Tag zu sich nach Hause ein.

Dechen wohnte am Rande des Zentrums in einem großen Haus, das sie allein gemietet hatte. Obwohl ihr viele Räume zur Verfügung standen, nutzte sie nur einen einzigen. Dort hatte sie alles, was sie brauchte: eine Matratze zum Schlafen, einen kleinen Fernseher, Wasserkocher, Tassen und Becher, Kleider, Ofen, ein pelziges Katzenjunges und eine Menge gerahmter Fotos von sich selbst. Im Flur hing neben einem buddhistischen Altar ein großes Foto des fünften Königs.

Wir nahmen auf dem Boden Platz, und Dechen servierte uns Kaffee, den sie gekocht hatte, bevor wir kamen. Sie trug eine Jogginghose und ein gelbes T-Shirt, auf dem Good things take time stand. Das schulterlange Haar hing offen herab. Sie war achtundzwanzig Jahre alt, sah aber zehn Jahre jünger aus.

»Ich habe sechs Geschwister, aber mein kleiner Bruder ist als Einziger von uns zur Schule gegangen«, erzählte Dechen auf Dzongkha. Sie sprach kein Englisch, daher musste Dechen Nr. 1 dolmetschen. »Meine Eltern konnten es sich nicht leisten, den Rest von uns zur Schule gehen zu lassen. Mit fünfzehn ging ich zum Unterricht für Erwachsene und lernte das Alphabet, mehr habe ich aber nicht geschafft. Meine Mutter war erst zwölf oder dreizehn, als sie mit meinem Vater verheiratet wurde, der beim Militär arbeitete. Als er pensioniert wurde, sind wir in eine kleine Hütte gezogen, die uns das Militär zur Verfügung gestellt hat.«

Sie sprach leise, flüsterte fast und lächelte die ganze Zeit, obwohl die Geschichte, die sie erzählte, überhaupt nicht komisch war.

»Meine Eltern haben mir nie etwas über ihre Kindheit erzählt, aber ich glaube nicht, dass sie eine schöne Kindheit hatten. Ich erinnere mich auch nicht mehr an sehr viel aus meiner eigenen Kindheit. Wir Geschwister hielten zusammen, aber unsere Wohnung fühlte sich nie wie unser Zuhause an. Meine Eltern stritten sich ständig, und sie tranken. Wir hatten nur zwei Zimmer. Meine Eltern schliefen im Altarraum, wir Kinder in dem anderen Zimmer. Manchmal bekamen wir gutes Essen, dann wieder nichts. Wenn mein Vater betrunken war, schlug er uns.«

»Haben Sie auch gute Erinnerungen an Ihre Kindheit?«, fragte ich.

Dechen dachte lange nach.

»Ich habe mit meinen Freundinnen gespielt. Das sind gute Erinnerungen. Aber sonst erinnere ich mich an nicht viel mehr. Als ich neun Jahre alt war, wurde ich nach Thimphu geschickt. Meine Eltern konnten es sich nicht leisten, mich zu Hause zu behalten und schickten mich fort zu anderen Leuten.«

»Zu Verwandten?«, vermutete ich.

»Nein, zu fremden Familien, für die ich als Kindermädchen arbeiten sollte. Ich hatte aber nicht nur auf die Kinder aufzupassen, ich musste auch abwaschen, die Tiere hüten und andere einfache Aufgaben übernehmen. Sechs Jahre habe ich bei verschiedenen Familien gelebt. Ich habe bei so vielen gewohnt, dass ich sie in meiner Erinnerung nicht mehr auseinanderhalten kann. Wenn ich etwas Falsches tat, wurde ich geschlagen, daher bin ich jedes Mal zu meinen Eltern geflohen, wenn ich eine Tasse kaputtgemacht oder nicht verhindert hatte, dass die Tiere auf das Land der Nachbarn liefen. In einer der Familien versuchte der Vater mich anzufassen, als seine Frau nicht da war. Ich schrie so laut, dass er es mit der Angst zu tun bekam, aber ich konnte mich ja nicht beschweren, also hörte ich dort auf. Für die Arbeit sollte ich fünfhundert Ngultrum pro Monat bekommen, aber ich habe das Geld nie gesehen. Es wurde als Schulgeld für meinen Bruder gebraucht.«

Im Alter von fünfzehn Jahren zog Dechen zurück zu ihren Eltern und ging auf eine Schule für Erwachsene. Dort lernte sie einen sieben Jahre älteren Mann kennen und verliebte sich.

»Ich dachte, es sei besser, ihn zu heiraten, als zu Hause zu wohnen«, sagte sie leise. »Vielleicht könnte ich mit ihm ein besseres Leben führen? So dachte ich. Wir zogen zusammen, und ich wurde beinahe sofort schwanger. Als ich im fünften Monat war, sagte er, er wolle nach Thimphu fahren und versuchen, dort Arbeit zu finden. Er kam nie wieder zurück, und schließlich brach ich auf, um ihn zu suchen. So habe ich herausgefunden, dass er in Thimphu bereits eine Frau hatte.«

»Was haben Sie getan?«, fragte Dechen, die über das Schicksal ihrer Namensvetterin empört war.

»Nichts«, flüsterte Dechen und zuckte die Achseln. »Ich hatte keine Familie, die mich unterstützte, ich war allein. Ich war auf mich selbst wütend und meinte, vermutlich hätte ich es verdient, es sei mein Karma. Wenn er in Thimphu glücklich war, dann war es gut für ihn, es war am besten, wenn er sein Leben in Ruhe und Frieden fortsetzen konnte. So dachte ich. Aber ich selbst war in einer schwierigen Situation. Als ich bemerkte, dass ich schwanger war, schlug mein Vater vor, ich solle nach Indien gehen, um das Kind abtreiben zu lassen, aber das habe ich nicht gewollt.«

Dechen hatte keine andere Wahl, als zurück zu ihren Eltern zu ziehen, zu denen sie weiterhin ein schlechtes Verhältnis hatte.

»Als das Kind zur Welt kam, wurde die Situation noch schwieriger«, erzählte sie. »Ich konnte nicht arbeiten, denn ich konnte ja das Baby nicht allein lassen, und häufig hatten wir auch nicht genug zu essen. Meine Geschwister waren ausgezogen, ich war allein mit meinen Eltern und dem Kleinen. Nach einem Jahr fing ich an, in der Stadt Gemüse zu verkaufen, das wir auf unserem kleinen Ackerstück zogen. Für das Geld, das ich verdiente, konnte ich schließlich einen kleinen Unterschlupf mieten, der nur achthundert im Monat kostete. Aber nach einem Jahr in der Hauptstadt, in dem ich mich vom Verkauf des Gemüses ernährt hatte, bat mich meine Mutter, nach Hause zu kommen. Also zog ich wieder heim.«

»Was?« Dechen, mein Guide, war entrüstet. »Wieso sind Sie zurück zu Ihren Eltern gezogen, wenn Sie doch gut allein zurechtkamen?«

»Weil meine Eltern mich darum gebeten haben«, erwiderte die andere Dechen ruhig. »Die Situation hatte sich etwas verbessert, denn mein Sohn war etwas älter geworden, und ich konnte wieder auf dem Feld arbeiten. Eines Tages hörte ich dann im Radio, dass es eine freie Stelle als Tänzerin in einem Drayang in Thimphu gab. Es lockte mich, aber ich wagte den Schritt nicht. Ein Jahr später, als die Situation zu Hause wieder unerträglich war, nahm ich meinen Mut zusammen und bewarb mich als Tänzerin im Kalapinka, dem berühmten Drayang in Thimphu. Ich arbeite jetzt seit zehn Jahren als Tänzerin. Ich tanze gern, mir geht es ziemlich gut mit dieser Arbeit.«

Sie goss uns Kaffee nach und blickte zu Boden, als sie weitererzählte.

»Es kommt natürlich vor, dass die Leute über uns reden, und wir müssen mit betrunkenen Männern umgehen, die uns hin und wieder um Dinge bitten. Aber was ich machen will, entscheide ich. Ich sage immer Nein. Obwohl ich keine Ausbildung habe, verdiene ich besser als viele, die mehrere Jahre auf die Universität gegangen sind, und ich arbeite jeden Abend nur vier, fünf Stunden.«

Da sie abends arbeitete, ging der jetzt zwölfjährige Sohn auf ein Internat. Dechen sah ihn nur an den Wochenenden. Ihr Vater, der inzwischen siebzig Jahre alt war, hatte aufgehört zu trinken, nachdem seine zweite Frau an Alkoholismus gestorben war. Der jüngere Bruder hatte die prestigeträchtige staatliche Universität abgeschlossen.

»Vor sieben Jahren habe ich einen Mann kennengelernt«, erzählte Dechen weiter. »Wir waren sechs Jahre zusammen, aber vor sieben Monaten hat er mich verlassen. Seine Eltern akzeptierten mich nicht als Schwiegertochter.«

»Sind Sie nicht wütend auf ihn?«, wollte Dechen Nr. 1 wissen, verärgert über all das, womit sich die junge Frau abgefunden hatte.

»Nein«, sagte Dechen Nr. 2 und lächelte schüchtern. »Ich mache mir selbst Vorwürfe. Das ist mein Schicksal, mein Karma. Das denke ich.«

»Haben Sie Pläne, in Ihrem Leben noch etwas anderes zu tun, als zu tanzen?«, erkundigte ich mich.

»Vielleicht eröffne ich eines Tages ein eigenes Geschäft, das ist ein Traum, den ich habe, aber vorläufig geht es mir als Tänzerin gut. Es ist wichtig, mit der Zeit ein gutes Verhältnis zu den Kunden aufzubauen, damit sie mit neuen Gesangswünschen zurückkommen, denn ich kann sechzig Prozent von dem, was ich für die Wünsche bekomme, behalten.«

»Ist es vorgekommen, dass Kunden sich in Sie verliebt haben?«, fragte ich.

»Das passiert ständig«, antwortete Dechen. »Aber ich glaube nicht, dass sie es ernst meinen. Es sind nur Worte. Ich habe das Vertrauen in Männer vollständig verloren.«

War Dechen glücklich? Ich habe nicht gefragt. Die Frage schien zu privat zu sein, beinahe unfein, und wie misst man eigentlich Glück?

Bhutan hat das Messen von Glück zu einer Wissenschaft und einer staatstragenden Philosophie entwickelt. 1972 erklärte Jigme Singye Wangchuck, der vierte König, der damals noch ein Teenager war, das Bruttonationalglück sei wichtiger als das Bruttonationalprodukt. Seither wurde diese Idee weiterentwickelt, und 2008, als Bhutan sein erstes Grundgesetz bekam, wurde es im Paragraf 9, Artikel 2 festgehalten: »Der Staat muss Bedingungen schaffen, die das Erreichen eines Bruttonationalglücks fördern.« Jedes neue Gesetz, das verabschiedet werden soll, muss vom Komitee für das Bruttonationalglück gutgeheißen werden, um zu gewährleisten, dass es mit dem Ziel übereinstimmt, dem Glück den Vorrang vor dem wirtschaftlichen Wachstum zu geben.

Aber wie misst man staatliches Glück?

»Das Bruttonationalglück ist etwas ganz anderes als Ihre Vorstellungen von Glück im Westen«, so Karma Wangdi, Wissenschaftler am Zentrum für Bhutan-Studien und Bruttonationalglück-Forschung in Thimphu. »Vereinfacht ausgedrückt, kann man sagen, wir legen Wert auf die Dinge, die eigentlich etwas für das Wohlbefinden und das Glücksgefühl des Menschen bedeuten. Wir haben das Bruttonationalglück in vier Hauptsäulen aufgeteilt: eine nachhaltige und gerechte sozialökonomische Entwicklung, gute Regierungs- und Verwaltungsstrukturen, Schutz der Umwelt sowie den Erhalt und die Förderung der Kultur. Das bedeutet nicht, dass wir uns nicht auch mit der wirtschaftlichen Entwicklung befassen, auch wenn dies für uns nicht entscheidend ist. Bhutans Wirtschaft ist tatsächlich eine der am schnellsten wachsenden Wirtschaften weltweit, mit einer Zuwachsrate von über sieben Prozent pro Jahr.«

»Das Bruttonationalprodukt ist relativ einfach zu messen, aber wie gehen Sie konkret vor, um das Bruttonationalglück zu messen?«

»Wir haben insgesamt neun verschiedene Bereiche, die wir messen«, antwortete Karma und zählte sie rasch auf: »Lebensstandard, Bildung, Gesundheit, Umwelt, Lebendigkeit der Gemeinschaft, Zeitnutzung, psychisches Wohlbefinden, gute Regierungsführung und kulturelle Widerstands- und Anpassungsfähigkeit. Um diese neun Domänen zu messen, haben wir hundertvierundzwanzig Variablen entwickelt, die in dreiunddreißig verschiedene Indikatoren integriert sind. Diese werden auf die neun verschiedenen Bereiche verteilt, und am Ende, wenn wir alle Variablen gemessen haben, erhalten wir eine Zahl als Indikator.«

»Hört sich kompliziert an«, bemerkte ich.

»Es ist detailliert, aber nicht kompliziert«, versicherte Karma. »Bei einer der Variablen geht es zum Beispiel um den Zugang zu sauberem Wasser. Wenn es um das psychische Wohlbefinden geht, haben wir eine Variable, die sich mit Konsequenzen des Karmas beschäftigt. Alles, was wir tun, hat Konsequenzen auch für die Menschen um uns herum, nicht wahr? Wir fragen, ob die Menschen Rücksicht darauf nehmen, wenn sie Entscheidungen treffen. Wir fragen auch nach Gefühlen. Insgesamt haben wir fünf positive Gefühle definiert, und wir fragen, ob die Menschen einige dieser Gefühle in den letzten dreißig Tagen erlebt haben. Der Umgang mit der Zeit ist ebenfalls wichtig, daher fragen wir, wofür die Menschen ihre Zeit nutzen. Wenn die Leute sehr viel arbeiten und die ganze Zeit gestresst sind, geht das zulasten der Lebensqualität. Unsere Definition von Glück ist sehr breit angelegt.«

»In den letzten Jahren wurde Bhutan im ökonomischen Sinne reicher, aber sind die Menschen auch glücklicher geworden?«

»Wir sehen eine Entwicklung auf Feldern wie Gesundheit und materiellem Wohlstand. Ärzte und Gesundheitsdienste sind gratis für alle, und in den letzten dreißig, vierzig Jahren haben wir es geschafft, die Lebenserwartung von rund fünfzig auf über siebzig Jahre zu erhöhen. Bei den weicheren Feldern sieht es schlechter aus. Das Gefühl des psychischen Wohlbefindens nimmt ab. Die lokalen Gemeinschaften spielen nicht mehr die gleiche Rolle wie früher, die Menschen interagieren weniger miteinander, vor allem in den Städten. Sie erleben stattdessen mehr Stress als früher. Es gibt einen großen Unterschied zwischen Stadt und Land und zwischen Männern und Frauen. Laut unseren Untersuchungen müssen Frauen doppelt so viel Zeit in die Hausarbeit investieren wie Männer. Ein anderes Problem ist die Arbeitslosigkeit. Sie beträgt insgesamt nur zwei Prozent, aber unter den Jugendlichen liegt sie bei ganzen acht Prozent. Das ist nicht unbedingt so, weil es keine Arbeitsplätze gibt, sondern weil viele der jungen Leute nun eine höhere Bildung haben und daher keine schwere körperliche Arbeit verrichten wollen. Obwohl die Jugendarbeitslosigkeit hoch ist, sind wir abhängig von Gastarbeitern aus Indien, um das wirtschaftliche Niveau zu halten.«

»In globalen Glücksuntersuchungen landen die Bhutanesen weit unten auf der Liste, hinter den meisten europäischen Ländern und hinter vielen asiatischen ebenfalls«, wandte ich ein.

Im jährlichen Glücksbericht der Vereinten Nationen des Jahres 2019 liegt Bhutan auf dem fünfundneunzigsten Platz – unter anderem hinter Pakistan auf dem fünfundsiebzigsten und China auf dem sechsundachtzigsten Platz.

»Nur rund neun Prozent der Bevölkerung in Bhutan gibt an, nicht glücklich zu sein«, erwiderte Karma. »Meiner Meinung nach ist das eine ziemlich niedrige Zahl.«

Als Jugendliche war Ngawang – sie hatte damals einen anderen Namen – zutiefst unglücklich. Mit einundzwanzig wurde sie ernsthaft psychisch krank. In ihren Träumen sah sie Orte, an denen sie nie gewesen war. Sie konnte nur noch an die Vergangenheit und an diese Orte denken, von denen sie nicht einmal wusste, wo sie in Wirklichkeit lagen. Sie fiel in Trance und war vollkommen abwesend, und hinterher wusste sie nicht, was mit ihr geschehen war. Die Leute lachten sie aus und meinten, sie solle sich nicht so anstellen. Ihre Familie war verzweifelt und brachte sie in verschiedene Krankenhäuser, aber keiner der Ärzte konnte ihr helfen. Schließlich brachte man sie zu einem Lama, der erklärte, sie sei eine wiedergeborene Dakini, eine Göttin. Der Lama gab ihr einen neuen Namen, Ngawang, und bat sie, ihren alten Namen zu vergessen. Von da an hörte die Familie auf, sie zu Ärzten zu bringen, und ging mit ihr stattdessen zu Lamas. Bhutans leitender Abt schenkte ihr ein Nonnengewand, obwohl sie nicht im Kloster, sondern zu Hause bei ihrer Familie wohnt. Ngawang lebt dennoch wie eine Nonne und will niemals heiraten. Stattdessen nutzt sie ihre gesamte Zeit, um anderen Menschen zu helfen, und die Menschen kommen aus dem ganzen Land, ja, aus der ganzen Welt, um ihr zu begegnen. Niemand lacht länger über sie, sie ist auch nicht länger unglücklich.

Auf dem Weg zum Fruchtbarkeitstempel, dessen Besuch mir alle männlichen Angestellten des Reisebüros wärmstens ans Herz gelegt hatten, hielten wir in dem Dorf, in dem Ngawang lebt. Ich hatte einen neuen Fahrer und einen neuen Guide, Rinchen, einen groß gewachsenen, leise sprechenden Burschen in den Dreißigern. Vor dem Haus informierte ein Schild auf Englisch, dass alle Besucher sich mit dem Rauch zu reinigen hatten, der aus einem großen Topf quoll, bevor sie eintraten. Der Fahrer lief die Treppe hinauf, ohne das Schild zu beachten, wir mussten ihn zurückrufen. Als wir alle ordentlich eingeräuchert waren, zogen wir die Schuhe aus und gingen hinauf zum Empfangszimmer, einem großen, beinahe nackten Altarraum. In einer Ecke standen ein Sofa und ein kleiner Tisch. Die Wände waren dekoriert mit Fotografien der königlichen Familie und Zeichnungen, die Buddha darstellten. Auf dem Boden standen zehn bis fünfzehn Plastiktüten voller Saft, Kekse, Milch und anderen Opfergaben sowie eine Schale mit Geldscheinen. Ein Schild informierte, dass es streng verboten war, elektronische Apparate wie Aufnahmegeräte oder Kameras zu benutzen.

Wir setzten uns auf den Boden und warteten auf das Erscheinen von Ngawang. Zehn, fünfzehn Minuten später kam sie durch die Tür gestürmt und nahm lächelnd auf dem Sofa Platz. Sie war in meinem Alter, klein und von zierlichem Körperbau, mit einem schiefen, seltsamen Lächeln. Wir blieben auf dem Boden sitzen, und Rinchen erklärte, dass ich keine konkreten Fragen hätte, sondern einfach wissen wollte, was sie zu sagen hatte. Ob sie etwas Besonderes sehen würde.

Ngawang blickte eine Weile schweigend in die Luft. Dann begann sie zu sprechen, mit einer psalmodierenden, dunklen und eindringlichen Stimme. Der Blick war fern, sie redete lange. Es war nicht länger sie, die sich äußerte, sondern die Dakini in ihr.

»Du hast jetzt eine Arbeit, überlegst aber, ob du die Arbeit wechseln und vielleicht woanders hinziehen sollst«, übersetzte Rinchen, obwohl Ngawang offensichtlich sehr viel mehr gesagt hatte. »Stimmt das?«

»Nein, eigentlich nicht«, sagte ich. »Ich bin zufrieden mit meiner Arbeit.«

Rinchen übersetzte meine Antwort und erklärte dem Orakel, ich sei Schriftstellerin und arbeite an einem Buch über den Himalaya. Ngawang begann wieder zu sprechen, monoton und eindringlich. Diesmal hatte sie mehr auf dem Herzen.

»Das Buch, das du schreibst, wird Zeit brauchen, aber du wirst weltberühmt werden«, übersetzte Rinchen. »Du musst die Geschichten der Vergangenheit sammeln. Nicht alle Geschichten, nicht alle Mythen, nur diejenigen, die dich interessieren. Wenn du das tust, wirst du in der ganzen Welt bekannt werden. Wenn du auch weiterhin das tust, was du jetzt machst, wenn du auch weiterhin Bücher schreibst, wirst du ein langes Leben haben. Man wird dir eine andere Arbeit anbieten, und wenn du sie annimmst, wird sie dir zu viel werden. Es wird zu viel Stress geben. Nimm die andere Arbeit nicht an, schreib weiter. Was macht dein Mann?«

»Er ist auch Schriftsteller.«

»Ihr werdet gemeinsam ein Buch schreiben«, orakelte Ngawang. »Er wird den größten Teil der Arbeit übernehmen, aber du wirst berühmt werden. Du wirst weitaus berühmter werden als dein Mann.«

Ich dankte für die Weissagung, die beste bisher, und legte einen Geldschein in die Spendenschale. Vielleicht gelten die gleichen Regeln für Horoskope und Vorhersagen wie fürs Würfeln: Man hat drei Versuche, oder so viele, bis man mit dem Resultat zufrieden ist. Ngawang lächelte und sagte, sie würde beten, dass ich noch weltberühmter werde, als sie es vorhergesagt habe. Wir standen auf, um zu gehen, aber unser Fahrer blieb sitzen.

»Meine Frau hat im Mai ein Kind verloren«, sagte er. »Sie war bereits mehrere Monate schwanger. Sollen wir noch einmal versuchen, ein Kind zu bekommen, oder sollen wir es lassen?«

»Ihr müsst versuchen, noch ein Kind zu bekommen«, erklärte Ngawang. »Aber nur, wenn du den Fruchtbarkeitstempel in Punakha aufsuchst und dort betest. Tust du das, werdet ihr noch ein Kind bekommen.«

Wir dankten und verließen das Empfangszimmer. Ngawang blieb im Schneidersitz auf dem Sofa sitzen. Unten an der Treppe standen drei Frauen mit ihren Kindern im Arm und warteten darauf, dass sie an der Reihe waren. In der freien Hand hielten sie Plastiktüten voller Saft, Milch und Kekse.

Für den Rest des Tages war unser Fahrer ein einziges großes Lächeln.

Der Fruchtbarkeitstempel hieß eigentlich Chimi Lhakhang und wurde 1499 zu Ehren von Drukpa Künleg gebaut, besser bekannt als der Göttliche Wahnsinnige, der in Bhutan beinahe ebenso populär ist wie Padmasambhava. Er lebte von 1455 bis 1529 und stammte ursprünglich aus Tibet. Als sein Vater starb, entschloss er sich, Mönch zu werden, aber er hatte das rigide, langweilige Klosterleben schnell satt und wanderte als freier Bettler umher. Drukpa Künleg war belesen und selbst ein begabter Dichter, bekannt wurde er aber hauptsächlich wegen seiner tantrischen Methoden, die unter anderem darin bestanden, mit Frauen zu schlafen, obszöne Lieder zu singen und große Mengen Alkohol zu trinken – alles Katalysatoren, die den religiösen Erleuchtungsprozess beschleunigen sollten. Er soll auch auf berühmte Thangkas uriniert haben und sich vor Lamas nackt ausgezogen haben, um zu zeigen, dass man sich nicht scheinheilig aufführen muss, um ein guter Buddhist zu sein. Drukpa Künleg baute keine Tempel und begründete keine Schule, aber der Fruchtbarkeitstempel in Punakha (1242 Meter über N.N.) soll an der Stelle errichtet worden sein, an der er einen Dämon zähmte. Und das Kloster besitzt den großen Holzphallus, den er aus Tibet mitgebracht haben soll.

»Sehen Sie, wie der Berg aussieht, auf dem das Kloster liegt?«, fragte mich Rinchen und sah mich gespannt an. Ich schüttelte den Kopf. Alles was ich sah, war ein kleiner Berggipfel.

»Erkennen Sie es wirklich nicht?«, fragte er verwundert.

»Nein«, gab ich zu. »Wonach sieht es denn aus?«

»Eine Frauenbrust!«, antwortete Rinchen lachend.

Wir gingen hinauf zum Kloster, das wie eine steife Brustwarze auf dem Gipfel des Berges thronte. Ich schwitzte in der Nachmittagshitze. Die Hauswände, an denen wir vorbeikamen, waren verziert mit strotzenden Gliedern, die wollüstig ihren Samen über die Wände spritzten. Die Touristengeschäfte übertrafen sich in der Auswahl von Phalli in allen erdenklichen Farben und Größen.

Der Tempel war voller Menschen, allerdings waren es überwiegend westliche Paare weit über dem reproduktiven Alter.

»Sehen Sie«, sagte Rinchen und öffnete ein Fotoalbum, das auf einem Tisch lag. »Paare aus der ganzen Welt haben Kinder bekommen, nachdem sie hier waren!«

Das Album war voller Fotos von Babys und lächelnden Eltern.

Rinchen räusperte sich und sah mich unsicher an.

»Der Astrologe im Dorf hat betont, es sei sehr wichtig, dass Sie von einem Mönch gesegnet werden«, sagte er. Sangye musste es ihm erzählt haben. »Aber ich fürchte, das reicht nicht …« Er räusperte sich erneut und zeigte auf einen großen, naturgetreuen Phallus aus Holz. Er war beinahe einen Meter groß. »Sie müssen auch drei Mal um den Tempel gehen und ihn dabei in den Händen tragen.«

»Sie machen Witze.« Ich sah ihn ungläubig an.

»Nein, selbstverständlich mache ich keine Witze«, erwiderte Rinchen ernst. »Aber ich habe Freunde, die nur gesegnet wurden und auch Kinder bekommen haben«, fügte er rasch hinzu.

Ich konnte mich nicht dazu überwinden, den Tempel drei Mal zu umrunden und dabei einen schweren Holzschwanz in den Händen zu halten. Schließlich hatte ich nicht den brennenden Wunsch, ein Kind zu bekommen, obwohl sämtliche männlichen Repräsentanten des Reisebüros anderer Meinung zu sein schienen, daher begnügte ich mich mit einer Segnung durch den jungen Mönch, der auf den Tempel aufpasste. Er hielt einen beträchtlich kleineren Doppelphallus in der Hand, den er an meine Stirn legte und dabei ein Mantra murmelte.

»Ich fürchte, es reicht nicht, nur gesegnet zu werden …« Rinchen sah mich prüfend an.

»Nein, oder?« Ich fürchtete, er würde darauf bestehen, dass ich mit dem enormen Holzphallus den Tempel umrundete.

»Sie müssen sich hinsetzen und ordentlich über Ihren Wunsch meditieren.«

Gehorsam tat ich, was er sagte. Ich war froh, dass er den Holzphallus nicht noch einmal erwähnte. Als ich die Meditation beendet hatte, stand Rinchen mit drei Würfeln bereit.

»Werfen Sie«, forderte er mich auf. Ich würfelte dreizehn Augen. Rinchen strahlte vor Freude und Stolz.

»Dreizehn ist sehr gut!«, rief er. »Es ist die Zahl des Klosters!«

Der junge Mönch kam noch einmal mit einem Stapel Karten in der Hand zu uns. Ich sollte eine davon ziehen.

»Was steht da?«, fragte Rinchen gespannt.

»Kinley Wangchuk.«

Rinchen lächelte von einem Ohr zum anderen.

»Das bedeutet, Sie werden einen Sohn bekommen, und er soll Kinley Wangchuk heißten«, erklärte er. »Wangchuck ist der letzte Name des Königs. Das ist sehr, sehr gut!«

Ich ließ mir den Namen auf der Zunge zergehen. Kinley Wangchuk Fatland Hansen. Sicher war es ein wenig gewöhnungsbedürftig, aber mit Namen wird ja bekanntlich niemand verwöhnt.