Die Welt ist voller Kriegsgräberstätten. Außerhalb von Digboi (165 Meter über N.N.), Indiens Hauptstadt des Öls, liegen zweihundert Grabsteine in ordentlichen Reihen auf einem gleichmäßig gemähten Rasen verteilt. Über jedes einzelne Grab ließe sich ein ganzer Roman schreiben.
A Soldier of the Indian Army 1939-1945 is honoured here. Das Grab war eines der wenigen ohne Namen. Hatte sich niemand erinnern können, wie er hieß? Oder war es unmöglich gewesen, ihn zu identifizieren? Er starb am 15. November 1945, mehrere Monate nach Kriegsende. Morto per la patria, gestorben für das Vaterland, stand auf dem Grab des Feldwebels A. Respanti der Esercito Italiano. Respanti starb am 30. Juli 1944. Weniger als ein Jahr zuvor hatte Italien auf Japans Seite gegen die Alliierten gekämpft. Wie war Respanti so kurz darauf im indischen Dschungel auf der alliierten Seite gelandet? Treasured memories of a loved husband and daddy sadly missed by wife and baby. G. Marks wurde einunddreißig Jahre alt. Erfuhr er vor seinem Tod noch, dass er Vater geworden war? Die Worte Patria memor, ich denke an mein Vaterland, standen eingraviert auf dem Grabstein des Soldaten Bolongo aus Belgisch-Kongo. Wie um alles in der Welt konnte Bolongo hier enden?
Als wir gehen wollten, betraten zwei junge Burschen mit einer jungen Frau den Friedhof, alle drei mit Fotoausrüstungen beladen. Sie wollen vermutlich die Gräber fotografieren, dachte ich, vielleicht ein Schulprojekt, doch es stellte sich heraus, dass das Mädchen aus allen erdenklichen Winkeln verewigt werden sollte – mit den Gräbern als Hintergrund.
Wann beginnt und wann endet ein Krieg? In Europa brach der Zweite Weltkrieg am 1. September 1939 aus, mit Deutschlands Angriff auf Polen. In Asien begann er weitaus früher, am 7. Juli 1937, mit Japans Angriff auf China. Vielleicht hatte der Krieg sogar bereits 1931 begonnen, mit der japanischen Invasion der Mandschurei in Nord-China und den damit verbundenen unmenschlichen Leiden. Der Vorläufer der aggressiven japanischen Expansion geht sogar noch länger zurück, bis ins Jahr 1904, als Japan ohne Vorwarnung den russischen Hafen Port Arthur angriff und zur Überraschung von Zar Nikolaus II. über das russische Imperium siegte. Ein neues und selbstbewusstes Japan war geboren.
1940 schloss Japan sich der Allianz zwischen Italien und Deutschland an, und parallel zu Deutschlands Verwüstungen in Europa wuchs Japans Expansionsdrang in Asien. Im September, nachdem die deutschfreundliche Vichy-Regierung die Administration der französischen Kolonien übernommen hatte, marschierten japanische Soldaten in Französisch-Indochina (dem heutigen Vietnam), Laos und Kambodscha ein. Die USA, die für rund neunzig Prozent des japanischen Ölimports verantwortlich waren, reagierten mit einem vollständigen Ölembargo. Am 7. Dezember 1941 griff Japan die amerikanische Pazifikflotte in Pearl Harbor auf Hawaii und auf den Philippinen an, die britischen Kolonien Hongkong, Malaya (das heutige Malaysia) und Singapur sowie das Königreich Thailand. Wie bereits 1904 waren die Angriffe Teil der japanischen Überraschungsstrategie – der Krieg wurde erst erklärt, als er bereits eine Tatsache war. In rascher Folge unterwarfen die Japaner die Pazifik-Inseln und marschierten im Januar 1942 auch in der britischen Kolonie Burma ein. In kurzer Zeit hatte sich der Pazifik in ein Schlachtfeld verwandelt, und Japan führte Krieg an allen Fronten.
Der Burma-Feldzug wurde zum längsten Kampf, den die Briten während des Zweiten Weltkriegs ausfochten. Wie so oft hatte die einheimische Bevölkerung am meisten unter den Kämpfen zwischen Japan auf der einen und Großbritannien, den USA und China auf der anderen Seite zu leiden. Es wird angenommen, dass rund eine Million Burmesen durch die Kriegshandlungen oder deren unmittelbare Folgen, Hunger und Krankheiten, umkamen. In Bengalen in Britisch-Indien, westlich von Burma, starben zwischen zwei und drei Millionen Menschen den Hungertod, während die Briten die Japaner bekämpften.
Eigentlich ging es bei dem Krieg in Burma um China. Das Hauptanliegen der Japaner war es, die über tausend Kilometer lange Burmastraße zu kontrollieren, die von Lashio in Nord-Burma bis Kunming in der chinesischen Provinz Yunnan führte. Es war die wichtigste Versorgungslinie der Alliierten nach China. Im April 1942 eroberten die Japaner Lashio, damit war die Versorgungskette gebrochen. Die Amerikaner träumten davon, dass Chiang Kai-shek, der Anführer der chinesischen nationalistischen Kuomintang-Partei, die Japaner und die chinesischen Kommunisten besiegte, um dann ein Handelsabkommen mit einem freien und expandierenden, modernen China zu schließen. Sie waren daher fest entschlossen, die Versorgungslinie für die Kuomintang offen zu halten, koste es, was es wolle.
Das kostete, sowohl Material wie auch Menschenleben. Als der Versorgungsweg Burmastraße abgeschnitten war, begannen die Amerikaner, eine neue Straße von Ledo in Nordost-Indien zu bauen, direkt an der burmesischen Grenze. Der Plan war, die Straße mit der ursprünglichen Burmastraße im Norden von Burma zu vereinen und von dort weiter über die Grenze nach Yunnan in China zu führen. Die Briten waren nicht sonderlich begeistert von der Idee, dass die Chinesen eine Straßenverbindung nach Indien bekommen sollten, doch Washington setzte den Vorschlag durch – und bezahlte dafür. Winston Churchill gab zu bedenken, das Projekt sei so umfassend und arbeitsintensiv, dass die Straße vermutlich erst in Gebrauch genommen werden könnte, wenn sie gar nicht mehr nötig wäre, und er behielt beinahe recht: Obwohl fünfzehntausend amerikanische Soldaten und fünfunddreißigtausend einheimische Arbeiter eingesetzt wurden, verging das gesamte Jahr 1943 damit, eine Straße von Ledo bis Shingbwiyang in Burma zu bauen, das nur hundertsiebenundsechzig Kilometer entfernt lag. Die Straße führte durch dichten Dschungel, und da es keinerlei Vorstudien gab, mussten die Ingenieure im Großen und Ganzen raten und das Beste hoffen, was die Bodenbeschaffenheit anging. Das Klima war heiß und feucht, es wimmelte von Quälgeistern wie der Malariamücke, Spinnen, Skorpionen, Schlangen und auch größeren Biestern wie Tigern und Leoparden. Rund die Hälfte der Soldaten, die während des Burmafeldzuges starben, wurden nicht im Kampf getötet, sondern erlagen Tropenkrankheiten, Hunger oder wilden Tieren.
Während die Straße Meter für Meter ausgegraben wurde, war ein Flug über das Himalaya-Gebirge die einzige Möglichkeit, Chiang Kai-shek mit Nachschub zu versorgen. Die rund tausend Kilometer lange Route wurde The Hump genannt, bekam aber auch malerischere Spitznamen wie The Skyway to Hell, Operation Vomit, The Aluminium Trail. Letzteres spielte auf die Anzahl von Flugzeugwracks an, die entlang der Route am Boden lagen. Über fünfhundert Flüge verunglückten oder verschwanden in den dreieinhalb Jahren, in denen die Route täglich geflogen wurde, über tausenddreihundert Besatzungsmitglieder verloren ihr Leben. Die Piloten mussten häufig bei schlechtem Wetter und mit überladenen Flugzeugen starten, man hatte weder Kontrolltürme noch Radar, die Funkverbindungen waren schlecht, und es gab keine verlässlichen Karten. Die Sicht war oft gleich null, häufige Kollisionen in der Luft waren die Folge. Dazu kamen die hohen Berge. In diesem Teil des Himalaya treffen drei kräftige Luftströme aufeinander, was zu extremen Turbulenzen führte. Die meisten Piloten waren frisch ausgebildet und hatten kaum Erfahrung, dennoch mussten viele über längere Zeit drei Mal täglich hin- und zurückfliegen.
Im Januar 1945 wurde die Ledostraße schließlich in Gebrauch genommen. Nach dem Krieg wurde sie in Stilwellstraße umgetauft, nach dem notorisch schlecht gelaunten General Joseph Stilwell, der für den Straßenbau verantwortlich war. Alliierte Piloten setzten trotzdem ihre Flüge over the hump bis zum November 1945 fort, um Chiang Kai-shek mit Kriegsmaterial zu versorgen.
Ann Poyser, unsere Gastgerberin in dieser Ecke Indiens, glaubte nicht, dass Tasang und Danthi es schaffen würden, die Reste der Ledostraße zu finden, daher fuhr sie als Pfadfinderin mit. Ann war Ende siebzig, übergewichtig und schlecht zu Fuß, aber sie hatte eigene Techniken entwickelt, um voranzukommen. Ihr Vater, Stuart Poyser, war in den dreißiger Jahren als Verwalter einer der vielen Teeplantagen in der Region von England nach Assam gekommen. Das Leben auf der Plantage war einsam, und es dauerte nicht lange, bis der junge Brite sich in Monglee, die Nichte seines Dieners, verliebte. Monglee war erst vierzehn, als sie ihre erste Tochter zur Welt brachte, Mary. Ann wurde fünf Jahre später geboren.
Stuart Poyer wollte oder konnte die Kinder nicht anerkennen, und auch eine offizielle britische Ehe war nicht vorstellbar, aber er heiratete Monglee bei einer traditionellen Zeremonie in ihrem Heimatdorf und half seiner kleinen Familie, so gut er konnte. Als daheim in Europa wie auch in den Nachbarkolonien der Krieg ausbrach, meldete er sich freiwillig und wurde nach Britisch-Malaya geschickt. Am 11. Februar 1942, vier Tage vor dem Fall Singapurs, wurde er im Kampf getötet. Er hatte Monglee ein Fotoalbum und einige Informationen über seine Familie in Großbritannien hinterlassen, aber zum einen konnte sie nicht lesen, zum anderen wurden ihr die Dokumente schon bald gestohlen. Als Ann heranwuchs, kannte sie nicht einmal den Vornamen ihres Vaters. Die Mutter glaubte, er habe Stephen geheißen.
Als Ann fünf und Mary zehn Jahre alt waren, gelang es der Mutter mithilfe eines katholischen Priesters, die Töchter auf eine Klosterschule in Guwahati zu schicken, weit, weit weg. Mary starb nach wenigen Monaten an der Ruhr, doch Ann überlebte, beendete die Schule und wurde die Sekretärin eines englischen Ehepaars. Einige Jahre später verliebte sie sich in einen Piloten, einen Sikh, verlobte sich mit ihm, zog in den Westen Indiens zu seiner Familie, wurde schwanger – und fand heraus, dass ihr Verlobter sich noch nicht von seiner vorherigen Frau hatte scheiden lassen. Wütend kehrte sie in das Dorf in Assam zurück und nahm ihre Stellung als Sekretärin wieder an. Es war nicht einfach, einen Vermieter zu finden, der eine junge alleinerziehende Mutter englisch-indischer Herkunft bei sich wohnen ließ, und es machte die Sache nicht besser, dass die Männer des Dorfes nachts gern ungebeten bei ihr auftauchten. Ann musste stets ihre Tür abschließen. Nach und nach wurde ihre Tochter jedoch größer, allmählich stieg Anns Ansehen, und langsam verbesserte sich auch ihre finanzielle Situation.
In ihrer Jugend hatte Ann mehrfach vergeblich versucht, mehr über ihren Vater und sein Schicksal zu erfahren. 1985 stieß sie zufällig auf einen Artikel in The Daily Telegraph aus Anlass des Jahrestages des Sieges über Japan. Der Autor des Artikels hatte selbst während des Krieges in Assam gedient und war jetzt Generalmajor. Ann schrieb ihm, und zu ihrer Überraschung bekam sie eine Antwort. Der Generalmajor konnte ihr mitteilen, wo ihr Vater begraben war und wie sein Vorname lautete. Mit dem vollen Namen des Vaters gelang es Ann, dessen Schwester aufzuspüren, die noch am Leben war und nichts von der heimlichen indischen Familie ihres Bruders geahnt hatte. Seither hat Ann die Familie ihres Vaters in Großbritannien einmal im Jahr besucht. Als sie fünfzig Jahre alt wurde und ihr Arbeitgeber in Pension ging, kaufte sie von ihrem Ersparten eine Teeplantage und hatte mit der Zeit das kleine Gästehaus aufgebaut, in dem ich übernachtete.
Die Rollbahn war mit Unkraut überwuchert. Junge Mädchen in grünen und weißen Schuluniformen beugten sich über ihre Mobiltelefone und Bücher und wurden von einer Gruppe Jungen genau beobachtet, die sich hinter einem Baum versteckt hatten. Weder informierten eine Tafel noch irgendwelche Plakate über die vielen Tausend Piloten, die in den Kriegsjahren von hier aus auf die gefährliche Route über die Ostflanke des Himalaya gestartet waren, wieder und wieder und wieder.
Auch der Ledo Club, in dem der flamboyante Lord Mountbatten of Burma sein Büro gehabt hatte, nachdem er 1943 von Churchill zum Oberkommandierenden der alliierten Streitkräfte in Südost-Asien ernannt worden war, hatte bessere Tage gesehen. Der Tennisplatz war jetzt ein Parkplatz, der Billardtisch in einem Lager verstaut. Aber die Bar gab es noch, und sie war sogar offen; drei Angestellte führten uns lächelnd in den leeren, verstaubten Räumen herum. Der Bartresen war mit ewig blühenden Plastikblumen geschmückt und in ein grelles blaues Licht getaucht.
»Am Wochenende bin ich hier oft tanzen gegangen«, erzählte Ann, während sie sich die Treppe des verfallenen Lokals herunterkämpfte. »Die Mitgliedschaft kostete acht Rupien. Es war nicht leicht, hier halb britisch, halb indisch zu sein. Weder die Weißen noch die Inder wollten mich als eine der ihren akzeptieren.«
Ein paar Kilometer weiter lag Zero Point, wo die Ledostraße begann. Der Punkt war mit ein paar Erinnerungsplaketten und verblassten Informationsplakaten markiert.
»Die eigentliche Straße ist längst verschwunden«, sagte Ann. »Aber etwas weiter vorn sind noch die Reste einer Brücke zu sehen.«
Nur das Fundament war geblieben. Die Brücke selbst hatten die Bauern der Umgebung Stein für Stein abgetragen.
Ann drehte sich triumphierend vom Vordersitz zu uns um. »Ohne mich hättet ihr das nicht gefunden, oder?« Sie lächelte zufrieden. »Hinter der nächsten Kurve liegt ein Fischmarkt. Dort besorgen wir uns Proviant.«
Die Führung wurde mit einem Picknick am Ufer des Brahmaputra beendet. Anns Dienstmädchen hatten uns mit Sandwichs und anderen Zutaten zum Lunch versorgt. Tasang und Danthi zündeten ein Feuer an, kochten Reis und hackten Gemüse. Ich betrachtete das dörfliche Leben am Flussufer. Ständig passierte etwas, auch wenn es sich nicht immer um etwas Großartiges handelte. Männer nahmen ein Bad, junge Mädchen wuschen Kleider, Kühe löschten am Ufer ihren Durst, ein Traktor durchquerte den Fluss und ging bei dem Versuch beinahe unter, ein breiter Prahm glitt träge auf dem Fluss vorbei. Am Horizont wachte der Himalaya über uns. Das Feuer verströmte allmählich angenehme Gerüche, und schon bald war das Essen fertig und wurde auf Bananenblättern serviert. Ann aß mit großem Appetit und voller Respekt für Tasang.
»Du findest dich vielleicht nicht so gut zurecht, aber kochen kannst du«, lobte sie ihn.
Tasang strahlte und befüllte weitere Bananenblätter.
Als wir zusammenpackten, änderte sich das Licht langsam von Milchblau zu Lila. Das Flussufer leerte sich.
»Mir war gar nicht klar, dass es schon so spät ist, es ist gleich fünf!« Ann war offensichtlich gestresst. »Wir müssen aufbrechen, bevor es dunkel wird. Die Aufständischen verstecken sich tagsüber im Dschungel, aber nach Einbruch der Dunkelheit ist hier niemand mehr sicher.«
Mit der Idylle war es abrupt vorbei.
Seit mehr als dreißig Jahren kämpften verschiedene Separatistengruppen für die Unabhängigkeit Assams. Der Konflikt hat über dreißigtausend Menschenleben gekostet und ist die Einheimischen teuer zu stehen gekommen – im buchstäblichen Sinn. So wie die meisten Landbesitzer im Bundesstaat wurde auch Ann regelmäßig erpresst, Schutzgelder zu zahlen.
»Normalerweise bezahle ich jedes Mal rund fünfzigtausend Rupien«, erzählte sie. »Die Alternative ist, ermordet zu werden, da fällt die Wahl leicht. Man kann natürlich zur Polizei gehen, aber die beschützen dich lediglich eine Woche oder zwei, dann bist du wieder dir selbst überlassen. Alle bezahlen.«
Wir fuhren zurück zu Anns Haus, vorbei an bewaffneten Soldatenpatrouillen, eingezäunten Militärlagern und Schildern, die vor Elefanten auf der Fahrbahn warnten. Im Laufe der Nacht wurde ich mehrfach von tiefem, trompetenartigem Gebrüll aus dem Dschungel gleich nebenan geweckt.
Wir fuhren weiter nach Süden, entlang der Naga-Berge, die ein Teil der Puvanchal-Kette sind, eines Ausläufers des Himalaya. Hier und da tauchten in der grünen leicht hügeligen Landschaft kleine Gruppen von Bambushäusern auf. Irgendwann bog Danthi nach Osten ab, in Richtung Myanmar.
Die Grenze zwischen Indien und Myanmar verläuft quer durch das Haus des lokalen Königs (1400 Meter über N.N.). Es ist ein Backsteinhaus mit einem modernen Blechdach, aber sonst wie ein traditionelles Langhaus gebaut. An der linken Seite des Eingangstors hing Myanmars gelb-grün-rote Flagge, auf der rechten wehte die indische. Vom Parkplatz aus waren der indische Wachposten auf der Bergkuppe sowie Myanmars wogende grüne Landschaft zu sehen, die zum Verwechseln der indischen ähnelte.
Der König sei nicht zu Hause, hieß es, er sei in der Kirche. Wir stiegen den steilen Abhang zur Kirche hinab und erlebten den letzten Teil des Gottesdienstes. Das Gotteshaus war knüppelvoll, alle waren in ihren feinsten Kleidern erschienen – die Frauen in bunten Wickelröcken oder kurzen Kleidern, die Männer im Anzug. Von der Kanzel hielt der Priester eine weitschweifende Predigt, aber das einzige Wort, das ich verstand, war Christmas – dafür wiederholte er es aber häufig. Irgendwann sang die Gemeinde Joy to the world mit hellen, zarten Stimmen, danach sprach der Priester erneut über das bevorstehende Weihnachtsfest. Plötzlich stieg ein Crescendo an Stimmen zum Kirchendach auf. Und ebenso abrupt, wie das Gebet begonnen hatte, legte es sich auch wieder, und die Gemeinde verließ rasch die Kirche.
Wir gingen zurück zum Haus des Königs. Der einheimische Guide, der uns als Dolmetscher begleitete, stellte mich einem kleinen, zurückhaltenden Mann vor. Er trug schwarze Sneakers und ein braunes Jackett, hatte hohe Wangenknochen, dunkle Lippen und nicht eine Runzel. Seine Augen waren groß und blickten ernst.
»Dies ist der König«, sagte der Dolmetscher.
Den Rang des kleinen Mannes verriet lediglich ein diskretes Namensschild an seinem Revers, auf dem Towei Phawang. Chief Angh stand.
Tasang überreichte ihm die Geschenke, die wir mitgebracht hatten: eine Plastiktüte mit Tee, Zucker und Keksen. Der Monarch nahm sie gnädig entgegen, und wir setzten uns auf Hocker am offenen Herd, wo eine Frau das Mittagessen zubereitete.
»Ich bin dreiundvierzig Jahre alt und Angh über achtunddreißig Dörfer der Konyak in Myanmar und vier Dörfer in Indien, insgesamt sind es mehr als hunderttausend Menschen«, berichtete der König mit leiser Stimme.
Da die Grenze quer durch sein Haus verlief, ging ich davon aus, dass der König in Myanmar saß und ich in Indien.
»Die Grenze wurde 1971 von den indischen Behörden festgelegt, als mein Großvater Angh war«, erzählte der König ebenso leise weiter. »Mein Großvater ging nicht zur Schule, und in seiner Jugend war das Christentum auch noch nicht bis hierher vorgedrungen. Nachdem das Christentum sich durchgesetzt hatte, hörten die Menschen auf, sich gegenseitig die Köpfe einzuschlagen. Dann wurde die Grenze zwischen Myanmar und Indien gezogen. Mein Großvater entschied, dass sein Haus auf dem Kamm des Bergrückens liegen sollte, mitten zwischen den beiden Ländern, sodass er in beiden Ländern König war und außerdem die Möglichkeit hatte, seine Feinde im Auge zu behalten. Bevor das Christentum eingeführt wurde, kamen wir nicht an dem Dorf Tangyu vorbei, weil wir mit den Dorfbewohnern Krieg führten, aber nun sind wir alle Baptisten und eine einzige große Familie. Als mein Großvater jung war, lebten wir als Kopfjäger und beteten Steine, Bäume und das Wasser an.«
»Sie praktizierten eine Form des Animismus«, warf ein fremder weiblicher Guide ein. Ihre Touristen, vier deutsche Rentner, hatten sich ebenfalls an den Herd gesetzt und hörten dem Gespräch interessiert zu. Ein Herr mit weißem Vollbart, einer teuren Kamera und einer großen grünen Rotzblase an einem seiner Nasenlöcher hatte sich so nah an den König gesetzt, dass er ihm beinahe schon auf dem Schoß saß. Das Haus des Königs war offen für alle, die Türen standen weit offen, man konnte einfach hineinspazieren und nach Herzenslust fotografieren.
»Ich bin der älteste Sohn der ersten Frau meines Vaters«, fuhr Towei fort, ohne sich von dem gerade angekommenen Publikum stören zu lassen. Man hörte das intensive Klicken und Fiepen der Kameras. »Die erste Frau des Königs wird Königin. Sie muss nicht arbeiten. Ich selbst habe zwei Frauen. Nummer zwei«, er nickte der Frau zu, die auf dem Boden kniete und Gemüse hackte, »ist als eine Art Helfer anzusehen, eine Arbeiterin. Der König kann so viele Frauen haben, wie er will. Mein Großvater hatte sechzig Frauen, mein Vater vierzehn.«
»Planen Sie, weitere Frauen zu haben?«, fragte ich.
»Möglich«, antwortete er mit einem kleinen Lächeln. »Vorläufig habe ich neun Kinder, aber ich habe so viele Geschwister, dass ich gar nicht weiß, wie viele es eigentlich sind. Ich wünsche ihnen alles Gute, und ich will, dass alle meine Kinder zur Schule gehen. Ich selbst bin nicht zur Schule gegangen, das war früher so üblich. Der kommende König ging nicht zur Schule.«
Der bärtige deutsche Tourist hockte sich auf die Knie und kam dem Gesicht des Königs mit dem Teleobjektiv so nahe, dass er es ihm beinahe in die Nase bohrte.
»Ich trage die Verantwortung für alle Dörfer, alle wichtigen Entscheidungen werden von mir getroffen«, erklärte der König ungerührt weiter. »Gibt es eine Schlägerei, muss ich vermitteln. Dafür müssen die Menschen in den Dörfern mir Steuern zahlen. Wenn jemand ein großes wildes Tier tötet, bekomme ich den Kopf. Wird ein Gayal geopfert, bekomme ich die rechten Beine. Außerdem geben die Menschen mir Reis, Yams und Opium. Auf der Myanmar-Seite bauen sie Opium in großen Mengen an, und so gut wie alle rauchen, allerdings habe ich vor drei Jahren aufgehört. Hast du Opium, ist alles gut, aber wenn du keins hast, schaffst du es nicht, auch nur das Geringste zu tun. Am Ende jedes Monats komme ich mit den Repräsentanten der indischen Armee und der von Myanmar zusammen. Ich habe die doppelte Staatsbürgerschaft, beide Länder erkennen mich als König der Konyak an. Ich kann ungehindert die Grenze überqueren und in beiden Ländern wählen.«
»Und für wen stimmen Sie bei der kommenden Wahl?«, erkundigte ich mich.
»Für Naga People’s Front.«
»Die Unabhängigkeitsbewegung?« Ich hob eine Augenbraue.
»Ja, mich würde es freuen, wenn Nagaland unabhängig würde, aber Indien wird das niemals zulassen«, erwiderte der König. »Ansonsten, wenn es keine besonderen Probleme in den Dörfern gibt, wie im Augenblick, führe ich ein ganz gewöhnliches Leben. Ich arbeite auf dem Feld, und hin und wieder nehme ich alle aus dem Dorf zum Angeln mit.«
Ich wollte gerade fragen, welche Träume er für sein Volk hatte, als eine Delegation ernster Männer in die Halle marschierte. Der König sprang wortlos auf und ging auf sie zu.
»Der König kann kommen und gehen, wie er will«, erklärte der Dolmetscher. »Das ist das Privileg des Königs.«
Towei setzte sich ans Ende eines langen Tisches in einem Zimmer, das offenbar als Konferenzraum diente. Die Audienz war vorbei. Wir verließen das Langhaus und gingen zurück nach Indien. In einem der kleineren Zimmer auf der Myanmar-Seite saßen vier Männer und rauchten Opium. Ein halbes Dutzend ältere westliche Touristen dokumentierten die Séance gründlich.
Ein Krieg endet oft erst allmählich, langwierig und leidvoll. Er ist in der Regel lange vorbei, bevor er tatsächlich beendet ist, denn die wenigsten Kriegsherren beherrschen die Kunst, rechtzeitig aufzugeben. Renya Mutaguchi, der Generalleutnant, der die japanischen Streitkräfte anführte, die im Frühjahr 1944 die Grenze zu Indien überschritten, gehörte definitiv nicht zu ihnen.
Der Plan war von vornherein gewagt, und Mutaguchi war auf starken internen Widerstand gestoßen. Durch den Angriff auf die Dörfer Imphal und Kohima auf der indischen Seite hoffte er, die Versorgung durch China abzuschneiden und eine Gegenoffensive der Briten in Burma zu verhindern. Wäre der Plan gelungen, hätten die indischen Ebenen relativ problemlos durch die Japaner erobert werden können.
Am 8. März 1944 überquerten die ersten japanischen Regimenter die indische Grenze. Die Schlacht um Imphal begann. Vier Wochen später leiteten die Japaner einen Parallelangriff auf das Dorf Kohima ein, rund hundert Kilometer weiter nördlich. Kohima lag am Ende eines engen Passes, der von Burma hinüber nach Indien führte, und war daher von großem strategischem Wert.
Die Schlacht um Kohima ist als das Stalingrad des Ostens in die Geschichte eingegangen. Die intensivsten Kämpfe, Mann gegen Mann, fanden auf dem Tennisplatz am Bungalow des Vizekommissars statt. Überall lagen verwesende, von Fliegen wimmelnde Leichen, es gab so gut wie kein Wasser, die sanitären Verhältnisse waren grausig, und die Verwundeten wurden zum Sterben zurückgelassen.
Zunächst waren die japanischen Soldaten in der Überzahl, sie wurden jedoch nicht rechtzeitig versorgt, ihnen gingen allmählich Lebensmittel und Munition aus. Von den fünfundsechzigtausend japanischen Soldaten, die zu den Leiden von Imphal und Kohima abkommandiert wurden, starben rund die Hälfte. Außerdem wurden über zwanzigtausend Mann verletzt – aber nur sechshundert wurden gefangen genommen. Krankheit, Hunger, Selbstmord, Insekten, Schlangenbisse und pure Erschöpfung führten zum Verlust von ebenso vielen Leben wie die Kugeln, die Bajonette und die Granaten der Briten.
Am 20. April war die Situation so prekär, dass Generalleutnant Satō Kōtoku, der eine der beteiligten Infanteriedivisionen anführte, beschloss, seine Truppen aus Kohima abzuziehen. Mutaguchi, der Befehlshaber der Offensive, stoppte den Rückzug und befahl, die Kämpfe wieder aufzunehmen. Ende Mai meldete Satō, sie hätten nichts mehr zu essen und außerdem nur noch wenig Munition. Er kündigte an, die Soldaten aus Kohima abzuziehen, es sei denn, der versprochene Nachschub käme sofort. Mutaguchi tobte: »Wie können Sie es wagen, die Versorgungsschwierigkeiten als Vorwand zu nehmen, um in Kohima zu kapitulieren?«[5]
Satō widersetzte sich dem Befehl und zog wie angekündigt seine Soldaten mit folgenden Abschiedsworten aus Kohima ab: »Unsere Schwerter sind zerbrochen, unsere Pfeile verschwunden. Mit bitteren Tränen verlasse ich nun Kohima.«[6]
Am 22. Juni errangen die Briten die volle Kontrolle über Kohima, und die verbliebenen japanischen Soldaten gehorchten keinen Befehlen mehr. Selbst Mutaguchi sah nun ein, dass die Schlacht verloren war. Am 3. Juli zogen sich die Japaner aus Indien zurück.
Satō Kōtoku wurde wenige Tage später aus der Armee entlassen. Den Rest seines Lebens widmete er sich der Hilfe für die überlebenden Soldaten und die Familien der Gefallenen, fest entschlossen, jede einzelne von ihnen zu besuchen. Mutaguchi wurde unehrenhaft entlassen. Nach dem Krieg wurde er von den Amerikanern vor ein Kriegsgericht gestellt und wegen Kriegsverbrechen zu einer Gefängnisstrafe verurteilt.
Die Niederlage von Imphal und Kohima wurde zu einem Wendepunkt und war der Anfang vom Ende der japanischen Expansion in Asien. Japan führte dennoch bis zur endgültigen Niederlage im August 1945 ein weiteres Jahr einen aggressiven Krieg in China und im Pazifik.
Das einzige Haus, das aus der Zeit der japanischen Niederlage noch steht, ist das Haus, das Generalleutnant Satō Kōtoku während der Schlacht bewohnt hat. Das Haus steht in dem kleinen Dorf Kigwema (1585 Meter über N.N.), rund zwölf Kilometer vom Zentrum Kohimas entfernt.
Am Eingang des Dorfes informierte ein Schild darüber, dass die Japaner am 4.4.1944 um 15:00 Uhr ins Dorf gekommen sind. Vier Männer saßen auf Schemeln direkt daneben und töpferten Teebecher.
»General Satōs Haus liegt hinter dem großen Gebäude«, erklärte einer von ihnen, bevor wir uns vorstellen konnten.
Tasang und ich folgten den vagen Hinweisen, doch weder gelang es uns, das große Gebäude zu finden, noch General Satōs Haus. Nachdem wir eine Weile umhergeirrt waren, stießen wir auf ein paar ältere Männer, die Tee tranken und sich unterhielten. Der Älteste, ein grauhaariger Greis in einer regenbogenfarbenen Jogginghose, sprang auf, stellte sich auf Hindi als Siesa Yano vor und teilte uns mit, er sei im Jahr 1926 geboren worden.
»Holla, dann sind Sie ja beinahe hundert Jahre alt!«, rief ich.
»Zweiundneunzig«, korrigierte mich Siesa. »Kommen Sie, ich zeige Ihnen General Satōs Haus. Ich nehme an, deshalb sind Sie hier? Ich kannte ihn übrigens gut.«
Siesa lief geschmeidig die steile Steintreppe hinauf, die zu General Satōs Haus führte. Das Haus war kleiner als die übrigen Häuser des Dorfes, aber offenbar hatte man es renoviert und modernisiert, nachdem der japanische Generalleutnant den indischen Kontinent verlassen hatte. Der Eingangsbereich war mit sorgfältig gepflegten Blumenkästen geschmückt. Die Tür stand offen, aber es war niemand zu Hause. Zwei durchsichtige Tüten mit flach gedrückten Bierdosen standen an der Hauswand, obwohl Alkohol in ganz Nagaland verboten ist. Von unserem Standpunkt aus hatten wir eine ausgezeichnete Übersicht über das Tal.
»General Satō wohnte in diesem Haus, während seine Soldaten unten im Dschungel leben mussten«, erzählte Siesa. »Die Japaner haben niemals auch nur einem von uns etwas getan. Während des Krieges bombardierten die Briten die Lager der Japaner, und die Japaner bombardierten die Lager der Briten. Wir waren die Flugzeuge gewohnt, hatten aber Angst vor den Bomben. Jedes Mal, wenn sie uns überflogen, rannten wir davon und versteckten uns. Unser Nachbardorf wurde von den Briten bombardiert, ohne dass die Einwohner gewarnt worden waren. Neun Menschen starben sofort, zwanzig wurden verletzt. Die Überlebenden suchten Zuflucht bei uns.«
Ein großer blonder Tourist, der von Kopf bis Fuß Khaki trug, kam zu dem Haus und knipste rasch ein Foto. Dann ging er wieder.
»So sind die meisten«, seufzte Siesa. »Sie machen nur ein Foto vom Haus und gehen wieder. Aber das Haus zeigt ihnen nicht, wer General Satō war. Er war ein guter Mann. Die Japaner waren ein bisschen wie wir, es gab nie Probleme mit ihnen. Sie aßen nicht besonders viel Fleisch, aber sie mochten unser Gemüse aus dem Dschungel. Die britischen Soldaten kannten dieses Gemüse gar nicht, aber die Japaner bezahlten viel Geld dafür. Die Briten benutzten uns Einheimische für die schwere Arbeit, wir mussten Sachen für sie schleppen. General Satō hat so etwas nie verlangt. Er war ein guter Mensch. Als der Krieg vorbei war, ist er abgezogen. Beinahe alle seine Soldaten waren tot und wurden im Dschungel zurückgelassen. Einige Zeit nach Kriegsende kamen die Japaner zurück, um ihre Toten zu begraben. Es waren nur noch Knochen übrig.«
Siesa begleitete uns aus dem Dorf. Als wir eine Steintreppe hinaufgingen, begegneten wir einem jungen Mann, der auf dem Weg nach unten war.
»Hat er Ihnen General Satōs Haus gezeigt?«, erkundigte sich der junge Mann. »Sind Sie sich darüber im Klaren, dass er für Satō gearbeitet hat? Er hat die Japaner geliebt!«
Siesa lächelte nur.
»General Satō war ein guter Mensch«, wiederholte er.
Der achtundachtzigjährige Thinoselie Keyho trug einen dunklen Anzug, eine Wollweste, ein weißes Hemd, blank geputzte Schuhe und eine Schiebermütze. Er war schwerhörig, aber seine Tochter, die in meinem Alter war, half. Ich hatte geplant, mit ihm über den Zweiten Weltkrieg zu sprechen, über seine Erlebnisse in den dramatischen Wochen, als in Kohima gekämpft wurde, aber er hatte über die berühmte Schlacht nicht viel zu erzählen.
»Aus der Entfernung habe ich Flammen gesehen«, erklärte er kurz. Lieber wollte er über einen Krieg neueren Datums reden, zumal er diesen Krieg seit zwanzig Jahren selbst mit der Waffe in der Hand ausfocht.
»Nagaland hat sich am 14. August 1947 für unabhängig erklärt, einen Tag vor Indien«, erzählte der alte Mann in langsamem, aber korrektem Englisch. »Am 16. März 1951 fand eine Volksabstimmung statt, und mehr als neunundneunzig Prozent stimmten für die Unabhängigkeit, aber die Inder wollten sie uns nicht geben. Ich bin der Anführer des Naga National Council, der ursprünglichen Befreiungsbewegung, die 1946 gegründet wurde.«
Nagaland, dessen Fläche etwas kleiner ist als die Kuwaits, ist einer der kleinsten Bundesstaaten Indiens und hat rund zwei Millionen Einwohner.
»Die verschiedenen Naga-Stämme führten Krieg gegeneinander, bis die amerikanischen Missionare kamen und uns das Christentum brachten«, fuhr der Alte fort. »Die Briten säten den politischen Samen. Wäre die Machtübernahme friedlich verlaufen, hätten wir die Unabhängigkeit vielleicht bekommen, aber die Briten zogen sich in aller Eile zurück und überließen Pakistan und Indien ihrem Schicksal. Während des Zweiten Weltkriegs haben wir Naga Indien gerettet, wir haben die Japaner aufgehalten, trotzdem wurde Nagaland Indien einverleibt und zu einem indischen Staat gemacht – obwohl wir nie etwas mit Indien zu tun hatten. Wir Naga sind keine Inder und waren es auch nie.«
Die Tochter schenkte frisch gebrühten Tee ein und forderte uns auf, ihn zu trinken, solange er noch heiß war. Ihr Vater redete ununterbrochen weiter.
»Zwanzig Jahre habe ich gegen die Inder gekämpft. In jeder Schlacht gab es viele Verletzte und Tote auf der indischen Seite, und nur wenige oder gar keine bei uns. Gott ist auf unserer Seite, und wir haben auch noch andere Freunde. China und Pakistan unterstützen unseren Kampf.«
Der Freiheitskampf hatte Folgen: 1971 war Thinoselie in Bangladesch verhaftet und an Indien ausgeliefert worden.
»Ich wurde in eine überfüllte Zelle gesteckt und psychisch gefoltert, aber ich habe alle Demütigungen ertragen. Nach fünf Jahren kam ich frei und setzte meine Arbeit für ein vereinigtes Nagaland fort. Die Aufgabe ist schwierig, denn die indische Obrigkeit spielt mit uns, sie spielen die Leute gegeneinander aus. Heute ist die Unabhängigkeitsbewegung in neun, zehn Fraktionen gespalten, von denen sieben mit den indischen Behörden verhandeln und diskutieren.«
»Sehen Sie irgendeinen Vorteil darin, ein Teil Indiens zu sein?«, fragte ich ihn.
»Nein.« Die Antwort kam prompt.
»Haben Sie denn noch Hoffnung, dass Nagaland eines Tages unabhängig wird?«
»Ja.« Die Antwort kam ebenso rasch. »Eine unsichtbare Supermacht ist auf unserer Seite. Darum haben wir so lange ausgehalten. Nicht nur physisch, sondern auch mental.«
»Sie haben Ihr ganzes Leben für die Unabhängigkeit gekämpft, aber Nagaland ist noch immer ein Teil Indiens. Gibt es etwas, das Sie bereuen?«
»Nein, ich bereue nichts«, hielt der Alte fest. »Wir kämpfen nicht für die Unabhängigkeit, wir verteidigen unsere Unabhängigkeit. Wir sind momentan vielleicht zersplittert, aber im Herzen sind wir vereint.«
»Haben Sie je bei einer indischen Wahl Ihre Stimme abgegeben?«, fragte ich zuletzt.
»Niemals! Ich war nicht einmal in der Nähe eines Wahllokals.«
Ich bedankte mich für den Tee und das Gespräch und erhob mich, um zu gehen.
»Sie sind jetzt Gast im indischen Marionettenstaat Nagaland!«, rief Thinoselie mir nach. »Kommen Sie wieder, wenn wir frei sind!«
Die Tochter begleitete mich hinaus.
»Unterstützen die jungen Leute die Unabhängigkeitsbewegung?«, fragte ich sie.
»Nein, die wenigsten tun es«, antwortete sie. »Die meisten sind mit ihrem bequemen Dasein zufrieden.«
»Und Sie, unterstützen Sie den Kampf Ihres Vaters?«
»Ja, natürlich«, antwortete sie pflichtschuldig.
Den Kriegsgräberfriedhof von Kohima (1444 Meter über N.N.) hatte man auf der Anhöhe angelegt, auf der der Tennisplatz des Vizekommissars einmal gelegen hatte. Die Gräber waren terrassenförmig angeordnet, der Blumenschmuck folgte dem gleichen pedantischen Muster, das ich von dem Friedhof außerhalb Digbois kannte. Im Tod werden alle gleich behandelt. Auf dem Gedenkstein war ganz oben ein Schild mit dem berühmten Epitaph des Schriftstellers John Maxwell Edmonds angebracht: When you go home, tell them of us and say / For your tomorrow we gave our today.
Kleine Gruppen von Schulkindern und Studenten schlenderten zwischen den Gräbern umher und unterhielten sich leise. Touristengruppen suchten rastlos nach den besten Stellen für ein Selfie. In einer schattigen Ecke saßen zwei Reinigungskräfte auf dem Boden und machten eine Pause beim Scheuern der Grabsteine.
Über siebzehntausend Soldaten des britischen Commonwealth wurden in den Schlachten von Imphal und Kohima getötet, als vermisst gemeldet oder schwer verletzt. Drei Jahre später wurde Indien unabhängig, und ein Jahr später folgte Burma. 1949 siegte Maos von der Sowjetunion unterstütztes kommunistisches Heer über Chiang Kai-shecks von den Amerikanern unterstützte Truppen, und der Traum von lukrativen Handelsabkommen war geplatzt.
In der Zwischenzeit hatten über fünfzigtausend Menschen ihr Leben für den Traum von einem freien Kaschmir geopfert, und über dreißigtausend Menschen waren im Kampf um ein unabhängiges Assam gestorben. Die Unabhängigkeitsbewegung in Nagaland hat mindestens dreitausend Menschenleben gekostet.
Die Flüsse, die vom Himalaya strömen, sind rot vor Blut, aber das Wasser und die Berge setzen sich unverdrossen nach Süden fort, bis zum Golf von Bengalen. Und auch dort fließen sie weiter unter der Meeresoberfläche, wie ein breiter, unterseeischer Fächer.