Wann beginnt und wann endet eine Reise?

Es war sechzehn Jahre her, seit ich in Kathmandu (1400 Meter über N.N.) gewesen war. Damals war ich neunzehn Jahre alt gewesen und auf meiner allerersten Rucksackreise zusammen mit einem schwedischen Freund, der inzwischen zu einem anderen Leben gehörte. Ich war nun also nicht mehr dieselbe, und dies galt auch für Kathmandu. Die Stadt war hässlicher, als ich sie in Erinnerung hatte, schmutziger, heruntergekommener und vor allem hektischer. Der Verkehr war infernalisch, hupende Autos und hitzige Motorrollerfahrer drängten sich durch die engsten Gassen. Auf der Touristenmeile Thamel fochten die Reisebüros, Pashmina-Läden und Sportartikelgeschäfte, die zum Bersten voll waren mit billigen chinesischen Raubkopien, einen noch härteren Kampf um die Kunden aus als damals. Auf dem Tresen der Hotelrezeption stand prominent platziert eine Schachtel mit Gratis-Mund-Nasen-Masken gegen die Luftverschmutzung.

Noch ein wenig benommen von der langen Flugreise wurde ich im Hotel von meiner Dolmetscherin Savitri Rajali abgeholt, einer energischen Vierunddreißigjährigen mit kurzen Haaren und einem rauen ansteckenden Lachen. Sie verschwendete keine Zeit mit Small Talk, sondern forderte mich auf, Mund und Nase zu bedecken und hinter ihr auf dem Motorroller Platz zu nehmen. Ungeduldig drängte sie sich an umherschlendernden Touristen vorbei, umrundete kleine schiefe Tempel, überquerte einen Gemüsemarkt, auf dem Frauen und Männer wacklige Haufen von Karotten und Chili anboten, und fuhr auf die Hauptstraße, auf der zwar die Autos still standen, nicht aber wir. Kurz darauf hatten wir eines der Herzstücke Kathmandus erreicht.

Der Pashupatinath ist der älteste Hindu-Tempel in Kathmandu und einer der heiligsten in ganz Asien. Das fünfzehnhundert Jahre alte Gebäude ist rund um ein uraltes Linga gebaut, ein Phallussymbol, das den Gott Shiva repräsentiert. Barfüßige Pilger waren aus nah und fern mit Opfergaben gekommen, die häufig essbar waren – sehr zur Freude der einheimischen Fauna, die aus Affen, Vögeln, Hunden, Kühen und einer reichen Auswahl Ratten bestand. Nur Hindus dürfen das Allerheiligste betreten, ich musste mich damit begnügen, von dem offenen Tor aus das Linga und den goldenen Ochsen zu bewundern, auf dem Shiva reitet.

Unterhalb des Tempelkomplexes muss es einmal einen breiten Fluss gegeben haben. Nun zog sich in der Mitte des ehemaligen Flussbetts nur noch ein dünner Streifen aus graubraunem trägem Wasser dahin. Kühe weideten auf der grünen Grasfläche des ehemaligen Flusslaufs. Am Ufer bereiteten weiß gekleidete Priester Leichenverbrennungen vor. Die Leichen waren in weiße Tücher gehüllt und wurden auf eine Pyramide aus kräftigen Holzscheiten und ein Lager aus Heu und Blumen gelegt. Die Angehörigen saßen daneben und sahen zu, wie ihre Lieben langsam in Flammen aufgingen, bis nichts als Asche übrig blieb. Der Prozess konnte sich über mehrere Stunden hinziehen. In dem schmutzigen Wasser schob ein magerer Mann einen einfachen Sarg vor sich her und sammelte halb verkohlte, schwimmende Holzscheite auf, die erneut verwendet werden sollten. Auf der anderen Seite des Ufers saßen Männer in bunten Umhängen, deren Gesichter mit Ruß und rotem Pulver bedeckt waren; einer trug ein haariges Leopardenkostüm. Die Männer riefen uns nach, sie würden sich gern für Fotos zur Verfügung stehen, oder wollte ich möglicherweise eine Weissagung?

»Es sind Betrüger«, warnte mich Savitri. »Sie wollen bloß das Geld der Touristen.«

Oberhalb des Flusses, auf einem friedlichen Platz vor einem der weniger populären Tempel, fanden wir einen echten Asketen, mager und bescheiden, gekleidet in verblasste orangefarbene Fetzen. Er hieß Birhaspathi Nath Yogi und sah aus, als wäre er ungefähr fünfzig Jahre alt.

»Warum haben Sie sich entschieden, Yogi zu werden?«

»Warum haben Sie sich entschieden, als Frau geboren zu werden«, erwiderte er. »Jeder trifft seine eigene Wahl im Leben. Einer meiner Cousins ist Arzt. Ich bin Yogi.«

Birhaspathi hatte einen einfachen Unterschlupf ohne Wände direkt vor einem der Tempel. Neben ihm lag ein halb nackter Kollege und schnarchte friedlich.

»Ich wurde Yogi, als ich siebzehn war«, erzählte er. »Es gibt keinen Frieden auf Erden, und die Welt ist zu einem gewalttätigen und feindlichen Ort geworden. Die Menschen kommen hierher zu mir und suchen Frieden. Einige bleiben, aber die wenigsten halten sehr lange durch. Unser Tagesprogramm ist zu hart für sie. Ich stehe jeden Tag um vier Uhr morgens auf, nehme ein Bad und wasche mir das Gesicht. Dann trinke ich Tee. Danach fege ich den Platz vor dem Tempel und esse gegen elf Uhr zu Mittag. Dann ruhe ich mich ein wenig aus, so wie jetzt mein Kamerad. Er stammt aus Indien, deshalb ist er nicht so aktiv. Im Laufe des Tages kommen viele Besucher hierher und bitten um Rat, genau wie Sie. Am Abend spiele ich auf den traditionellen Trommeln am Fluss und verrichte die Puja, das traditionelle Gebet.«

Ein Oberst kam mit einem Geldgeschenk zu Birhaspathi, der es gnädig annahm. Nachdem er den Oberst fortgeschickt hatte, wandte er seine Aufmerksamkeit wieder mir zu.

»In der Stadt gibt es zu viel Verkehr, zu viel Verunreinigung«, sagte er. »Hier ist es friedlich. Ich bin mit meinem Leben zufrieden. Ich habe Frieden gefunden.«

»Ich verstehe den Hinduismus nicht ganz«, gestand ich. »Es ist so verwirrend mit all den Göttern und Reinkarnationen. Wie behalten Sie die Übersicht?«

»Woran glauben Sie?«, stellte Birhaspathi die Gegenfrage.

»Ich bin nicht religiös.«

»Welche Religion haben Ihre Eltern und Großeltern?«

»Sie sind Christen. Jedenfalls einige von ihnen.«

»Sie sind mit anderen Worten Christin, weil Sie in eine christliche Familie hineingeboren wurden«, hielt Birhaspathi fest. »Ich wurde in einer Hindufamilie geboren, daher bin ich Hindu. Ihr Christen habt es leicht! Ihr braucht nur an einen Gott zu glauben, Christus. Im Hinduismus haben wir dreiunddreißig Millionen Götter, und es ist unmöglich, sie alle im Kopf zu behalten.«

»Aber wie behält man den Überblick?«, fragte ich erneut.

»Letzten Endes gibt es nur einen einzigen Gott«, erwiderte der Yogi. »In unserem Inneren sind wir alle gleich, wir alle tragen eine unsichtbare Kraft in uns, Gott. Er hat uns Fleisch und Knochen geschenkt. Gott ist auf der ganzen Welt derselbe, aber seine Anhänger haben ihm verschiedene Namen gegeben. Mit der Religion verhält es sich wie mit politischen Parteien, alle haben unterschiedliche Namen. Eine Gruppe sind Hindus. Eine andere Christen. Eine dritte Muslime. Von diesen drei Gruppen ist der Hinduismus die ursprünglichste Religion, denn der Hinduismus hat existiert, solange die Menschen über die Erde wandern.«

Irgendwo klingelte eine Glocke, und Birhaspathi hatte es mit einem Mal eilig. Es war Zeit für das Abendritual. Am Flussufer lagen zwei neue Leichen eingehüllt in weiße Baumwolltücher, jede auf einem Haufen solider Holzscheite. Die Priester bereiteten sich darauf vor, die Scheiterhaufen anzuzünden, während die Familienmitglieder stoisch zusahen.

In einem anderen Herzstück Kathmandus wohnt eine lebende Göttin. Ich hatte sie ganz kurz gesehen, als ich zum ersten Mal in der Stadt war: Umgeben von einem Menschenmeer wurde ein kleines Mädchen in einem prunkvollen roten Kleid in einer Sänfte getragen, das ganze Gesicht war schwarz und rot geschminkt. Auf die Volksmenge, die gekommen war, um ihr zu huldigen, hatte das kleine Mädchen so ausdruckslos gestarrt, als würde der Auflauf nicht den geringsten Eindruck auf sie machen. Mir wurde erklärt, das Mädchen in der Sänfte sei eine Kumari Devi, eine lebende Göttin, die ihr Heim nur dreizehn Mal im Jahr bei besonderen Begebenheiten und Festen verlässt. Da ihre Füße die Erde nicht berühren sollen, wird sie bei diesen Anlässen in einer Sänfte getragen.

Seit damals war es den Tempeln im alten Kathmandu übel ergangen. Das kräftige Erdbeben, das Nepal 2015 erschütterte, hatte eine Stärke von 7,8 auf der Richterskala gehabt. Das Beben hatte annähernd neuntausend Menschen das Leben gekostet, über drei Millionen waren obdachlos geworden, über siebenhundert historische Monumente beschädigt worden. Die meisten Tempel der Altstadt waren aufgrund von Restaurierungsarbeiten noch immer geschlossen, überall wurde gehämmert und gesägt. Ein Teil der alten gemauerten Gebäude war komplett eingestürzt. Hinter Bauzäunen und vorübergehenden Absperrungen saßen Frauen und Männer mit Mundschutz und Handschuhen und wuschen, bürsteten und sortierten Backsteine. Stein für Stein wurden die alten Tempel wiederaufgebaut.

Das alte, windschiefe Kumari-Haus hatte wie durch ein Wunder das Erdbeben ohne eine Schramme überstanden. Ein offenes Tor führte auf einen quadratischen Hofplatz. Mitten auf dem Platz stand ein kleiner buddhistischer Stupa; ein grüner Busch wachte darüber wie ein Sonnenschirm. Das eigentliche Haus bestand aus roten Backsteinen, große Fensterrahmen aus dunklem Holz waren mit komplizierten Schnitzereien versehen. Die Kumari wohnte im zweiten Stock. Ein kleines Schild informierte darüber, dass nur Hindus das Recht hatten, sie zu besuchen, obwohl die Kumari immer aus einer buddhistischen Familie stammt.

Die Tradition der lebenden Göttinnen wurde seit Jahrhunderten von dem Volk der Newar praktiziert, den ersten Menschen, die ins Kathmandu-Tal einwanderten. Die Newar – die heute rund fünf Prozent der Gesamtbevölkerung Nepals, im Gebiet der Hauptstadt aber ungefähr die Hälfte der Einwohner ausmachen – waren ursprünglich buddhistische Händler und Handwerker, die sich strategisch bewusst in dem fruchtbaren Tal zwischen Indien und Tibet südlich der Himalaya-Berge ansiedelten. Das Kathmandu-Tal war isoliert, gleichzeitig aber auch ein zentraler Handelspunkt: Im Norden wurde es geschützt von den höchsten Berggipfeln der Welt, im Süden lag die heiße, feuchte und von Malaria befallene Tiefebene von Terai, die im gesamten Sommerhalbjahr unpassierbar war. Die Sprache der Newar gehört zur tibetobirmanischen Sprachfamilie, während Nepali, die offizielle Sprache in Nepal, sich vom Sanskrit ableitet und folglich eine indoeuropäische Sprache ist. Durch ihre Rolle als Handelsvolk kamen die Newar in Kontakt mit den übrigen Volksgruppen in der Region, und natürlich wurden sie von ihnen auch beeinflusst. Rund die Hälfte der Newar sind heute Hindus, aber auch die buddhistischen Newar-Familien haben einen Teil der hinduistischen Bräuche angenommen, unter anderem das Kastensystem.

Im 14. Jahrhundert übernahm die hinduistische Malla-Dynastie die Macht im Kathmandu-Tal. Gut einhundert Jahre später, Ende des 15. Jahrhunderts, wurde das Königreich dreigeteilt, verteilt auf Kathmandu, Bhaktapur und Patan, die drei Hauptstädte im Tal. Ungefähr gleichzeitig erwählten die drei Könige Taleju als Schutzgöttin – Taleju ist eine Inkarnation von Durga, einer der mächtigsten Kriegsgöttinnen im Hinduismus – und etablierten den Brauch der königlichen Kumari. Die Göttin lebt im Körper eines kleinen Mädchens, der Kumari, und durch das Mädchen beschützt die Göttin die Könige. Einmal pro Jahr, gegen Ende des acht Tage langen Indra-Jatra-Fests, segnet die Kumari den König und tupft ihm ein Tilaka auf die Stirn, einen roten Punkt.

1769, nach einem Feldzug, der ein Vierteljahrhundert gedauert hatte, gelang es Prithvi Narayan Shah, dem König von Gorkha, und seinen Truppen, sich während des Indra-Jatra-Fests nach Kathmandu einzuschleichen, als große Teile der Bevölkerung sturzbetrunken waren. Die Kumari wurde in einer Prozession durch die Straßen getragen, gefolgt von Jaya Prakash Malla, dem letzten König der Malla-Dynastie. Während der Prozession wurde Malla von den Streitkräften Shahs zur Flucht gezwungen. Statt des amtierenden Königs begleitete nun Shah die lebende Göttin zurück zum Kumari-Haus, dort kniete er zu ihren Füßen und wurde mit einem roten Punkt auf der Stirn gesegnet. Der lebenslange Kampf Shas, das einflussreiche Kathmandu-Tal zu unterwerfen, wurde mit einem roten Tupfer eines kleinen Mädchens gekrönt. Das moderne Nepal war geboren.

Von Guides begleitete Gruppen von Ausländern betraten den Vorhof, blieben stehen und blickten neugierig zu dem großen Balkon im zweiten Stock hinauf, auf dem sich die Kumari vormittags hin und wieder den Touristen zeigt. Ein verschwitzter Bursche in Shorts, kanariengelbem T-Shirt und einer Schirmmütze, dem ein Radio aus der Tasche seiner Shorts hing, kam angejoggt und begann vor dem Stupa mit Dehnübungen. Aus dem Radio strömten Nachrichten auf Nepali.

»Ich komme jeden Tag nach meiner morgendlichen Runde hierher, um meine Muskeln nach dem Laufen zu entspannen«, erzählte er zwischen seinen Dehnübungen. »Es ist so friedlich hier.«

Ein Jingle kündigte den Wetterbericht an, für ganz Kathmandu wurde Sonne und schönes Wetter vorhergesagt. In der anschließenden Werbepause tauchte der königliche Priester auf dem Hof auf. Ich hatte einen glatt rasierten Lama in burgunderfarbenem Gewand erwartet, doch der Priester trug Sneaker, eine Anzugshose, Poloshirt und eine Daunenweste sowie eine Brille und eine Smartwatch. Sein Haar war einige Zentimeter lang und mit glänzender Pomade frisiert.

Mit bürokratischer Sachlichkeit führte der wichtigste buddhistische Priester des Landes das morgendliche Ritual aus. Zuerst öffnete er die Tür des Tempels, fegte den Boden und staubte die fünf Buddha-Statuen darin ab, dann holte er Blumenblätter, Weihrauch und buntes Pulver, das er im Gebet über die Figuren streute. Zum Abschluss klingelte er mit einer mit großen weißen Federn geschmückten Glocke. Bevor er nach oben zur Kumari verschwand, um sie anzubeten, nahm er sich des Stupas, der mitten auf dem Platz stand, mit Blumen, Weihrauch und heiligem Wasser an.

»Es ist Vollmond, da habe ich mehr Pflichten als normalerweise«, erklärte er, als er zurückkam. »Purnima, Vollmond, ist ein besonderer Tag für uns. Gewöhnlich komme ich direkt hierher, aber bei Vollmond muss ich zuerst ein paar andere Tempel besuchen.«

Der königliche Priester hieß Manjushree Ratna Bajracharya und war sechsundfünfzig Jahre alt. Wir unterhielten uns im Schatten, ein wenig abseits von der Touristengruppe, die unter dem Balkon darauf wartete, dass die Kumari sich zeigte.

»Kathmandu hat achtzehn Klöster, die der Priesterschaft der Newar gehören«, erklärte er weiter und zeichnete ein Organisationsschema, das zeigte, welche Klöster zu den vier Administrationszentren gehörten. Er selbst kam aus einem Kloster mit siebenhundert männlichen Mitgliedern, aber als Mönch lebte er dort nur vier Tage im Jahr.

»In diesen vier Tagen dürfen wir nicht in komfortablen Betten schlafen, singen, tanzen oder Schmuck tragen. Den Rest des Jahres haben wir fünf Regeln zu folgen: nicht töten, nicht lügen, nicht stehlen, nicht untreu sein und nicht rauchen oder Alkohol trinken. Ansonsten führen wir ein ganz gewöhnliches Leben. Ich bin gelernter Elektriker, verheiratet und habe zwei Kinder. Meine Familie besteht aus königlichen Priestern, seit die Tradition vor über dreihundert Jahren begründet wurde, seither sind wir eng mit dem Ritual der königlichen Kumaris verbunden. Auch mein Vater war königlicher Priester, und als er vor zwölf Jahren starb, habe ich sein Amt übernommen. Wenn auf nationaler Ebene wichtige Rituale durchzuführen sind, bin ich der Einzige, der dafür infrage kommt. Bis vor vier Jahren habe ich in meinem normalen Beruf gearbeitet, dann bin ich in Rente gegangen, obwohl ich als königlicher Priester so gut wie nichts verdiene. Ich bekomme drei Rupien für das Ritual, das ich jeden Tag hier im Kumari-Haus durchführe. Das ist nichts. Ich mache es aus Pflichtgefühl, weil ich unsere Kultur bewahren will.«

Ein Raunen ging durch die Touristengruppe. Ich schaute hinauf und sah ganz kurz ein stark geschminktes Mädchen in einem roten Kleid auf dem Balkon. Die Ausländer fummelten an ihren Kameras und Handys, aber noch bevor sie den Auslöser drücken konnten, war die lebende Göttin bereits wieder auf dem Weg nach drinnen.

»Die Hindus glauben, dass die Kumari eine Reinkarnation der hinduistischen Göttin Taleju ist, aber wir newarischen Buddhisten glauben, sie ist eine Reinkarnation von Bajra Devi, einer buddhistisch-tantrischen Göttin«, erklärte der Priester. »Die Menschen glauben an unterschiedliche Dinge, aber wir streiten uns nicht darüber. Die derzeitige Kumari ist vier Jahre alt und wurde erwählt, als sie drei war. Eine Kumari wird immer aus der Shakya-Kaste erwählt, die Buddhisten sind. Wenn wir eine neue Kumari brauchen, bitten wir die Shakya-Familien, die Töchter im passenden Alter haben, sie zu einem Auswahlkomitee zu bringen. Wir sind zu fünft im Komitee: ich, der königliche Hindupriester, der Aufseher, ein Astrologe und ein Repräsentant des Staates. Es dauert lange, um das richtige Mädchen zu finden, eine Menge Kriterien müssen erfüllt werden: Sie darf keine Gebrechen haben, notwendig sind auch ein rundes, hübsches Gesicht, lange Haare und gesunde Augen. Die ersten Tage sind natürlich schwierig für die Kinder, aber sie passen sich rasch dem Leben in der Familie des Aufsehers an. Bevor ihre erste Menstruation einsetzt, finden wir rechtzeitig eine neue Kumari.«

»Warum ist es so wichtig, eine neue Kumari zu finden, bevor das Mädchen anfängt zu menstruieren?«

»Wenn Mädchen ihre Menstruation bekommen, verändern sie sich und werden vom anderen Geschlecht angezogen«, erwiderte der Priester. »Auch ihr Denken verändert sich. Als Kind ist sie unschuldig.«

Ich rechnete rasch zurück. Manjushrees Vater starb 2007, vor zwölf Jahren. Als sich die Tragödie ereignete, war der Vater also noch immer königlicher Priester, aber Manjushree hatte eng mit ihm zusammengearbeitet und musste daher auch selbst betroffen gewesen sein.

»Wie haben Sie reagiert, als Sie die Nachricht von dem Mord an der königlichen Familie erhielten?«

»Ich brauchte eine Stunde, um die Nachricht zu verdauen, aber so etwas ist ja auch früher schon passiert«, antwortete er nüchtern. »Mehrere unserer Könige wurden im Palast ermordet. So etwas geschieht hin und wieder, es ist nichts Neues. Natürlich war ich traurig, denn wir Menschen sollen nicht unsere eigene Familie töten. Man soll überhaupt nicht töten. Aus politischen Gründen passiert es trotzdem.«

Am 1. Juni 2001 hatte die nepalische Königsfamilie sich versammelt, um das monatliche Familienabendessen in einem Anbau direkt hinter dem Hauptpalast im Zentrum von Kathmandu einzunehmen. Sie befanden sich im Billardzimmer, als Dipendra, der neunundzwanzigjährige Kronprinz, um halb neun Uhr abends in sein Schlafzimmer gebracht wurde. Er war so betrunken, dass er kaum auf den Beinen stehen konnte, im Grunde nichts Ungewöhnliches für ihn, aber die Familie wollte eine Konfrontation mit König Birendra vermeiden, der auf dem Weg zum Abendessen war. Eine halbe Stunde nachdem er zu Bett geschickt worden war, tauchte Dipendra im Billardzimmer wieder auf – in einem Tarnanzug und bis an die Zähne bewaffnet. Er zielte auf den König, der sich am Billardtisch unterhielt, feuerte und verließ den Raum. Kurz darauf kam er zurück und schoss noch einmal auf den Vater. Dann richtete er die Waffe auf die übrigen Familienmitglieder im Raum und erschoss seine jüngere Schwester, zwei Onkel, zwei Tanten und die Cousine seines Vaters. Die Königin und Prinz Nirajan, der älteste seiner jüngeren Brüder, flohen in den Garten. Dipendra folgte ihnen. Kurze Zeit später wurde Nirajan in der Nähe des Gartens schwer verletzt gefunden. Er wurde noch vor der Ankunft im Krankenhaus für tot erklärt. Die Königin fand man an der Treppe, die zu Dipendras Zimmer führte; er hatte ihr den Kopf weggeschossen. Dipendra wurde bewusstlos an einem kleinen Weiher im Garten gefunden. Er hatte sich selbst in den Kopf geschossen, man brachte ihn in aller Eile ins Krankenhaus. Am 4. Juni wurde er für tot erklärt, nachdem er drei Tage lang König gewesen war. Gyanendra, der älteste Bruder Birendras und Nummer 3 in der Erbfolge, hatte an der katastrophalen Familienzusammenkunft nicht teilgenommen und wurde zum König gekrönt.

Viele Nepalesen weigern sich zu glauben, dass Dipendra hinter dem Massaker stand. Und es macht die Sache nicht besser, dass die Ermittlungen lediglich eine Woche dauerten, die Leichen rasch eingeäschert und die Spuren am Tatort teilweise zerstört wurden. Das Motiv des Massakers ist noch immer unbekannt. Manche meinen, die Morde waren die Rache dafür, dass Dipendra aufgrund von Kastenproblemen und politischen Allianzen Devyani Rana nicht heiraten durfte, die Frau, die er liebte. Andere meinen, in Wahrheit hätte der Onkel Gyanendra dahintergesteckt. In den Tagen nach seiner Krönung waren Kathmandus Straßen geprägt von Protesten und Demonstrationen.

Gyanendra wurde ein ungewöhnlich unpopulärer König. 1990 hatte sein Bruder dem Druck des Volkes nachgegeben und politische Parteien und freie Wahlen zugelassen. Gyanendra setzte die Wiedereinführung der Zensur und des Ausnahmezustands durch und führte das Land zurück in eine autoritäre Monarchie. Seit Mitte der 1990er Jahre hatten maoistische Aufständische im Land gewütet, unter Gyanendra wurde die Armee im Kampf gegen die Aufständischen eingesetzt und die Verluste stiegen auf beiden Seiten heftig. 2005 setzte Gyanendra den Ministerpräsidenten ab und führte damit praktisch einen Staatsstreich durch. Die Allmacht währte allerdings nur kurz: Durch starken in- und ausländischen Druck war er bereits im folgenden Jahr gezwungen, das Parlament wieder einzusetzen. Mit der Unterzeichnung eines Friedensabkommens der Regierung mit den Maoisten verlor der König seine gesamte politische Macht. Zwei Jahre später, 2008, wurde die Monarchie in Nepal offiziell abgeschafft.

»Glauben Sie an eine Wiedereinführung der Monarchie?«, fragte ich den königlichen Priester. Ähnlich wie die Kumari in Kathmandu hatte er seinen Berufstitel wie eine sprachliche Spolie bewahrt, obwohl Nepal keine Könige mehr hervorbringt.

»Nein«, antwortete er rasch. »Die Monarchie wird vom Volk nicht länger unterstützt. Der letzte König war egoistisch, er dachte nur an sich und nicht an sein Volk, wie es sich eigentlich für einen König gehört. Auch die Könige vor ihm waren egoistisch und dachten nur an sich. Das Volk wurde nicht berücksichtigt, und so ist es noch immer.«

Das Stimmengewirr im Hinterhof war abrupt verstummt. Die Kumari war wieder auf den Balkon getreten und starrte mich direkt an. Ihre schwarz geschminkten Augen hielten zehn Sekunden meinen Blick. Sie hatte den gleichen mürrischen, überlegenen Gesichtsausdruck wie das Mädchen in der Sänfte, das ich vor sechzehn Jahren gesehen hatte. Das Gesicht der Vierjährigen war reglos, ohne Anzeichen von Gefühlen. Dann drehte sie sich auf den Hacken um und verschwand wieder. Aus dem Hinterhof drangen aufgeregte Stimmen.

Direkt am Kumari-Haus liegt das alte Schloss, in dem die Malla-Könige lebten. Der schöne weiß gestrichene Bau, von dessen kreisrundem Dach ein Turm zum Himmel ragt, war durch das Erdbeben stark beschädigt und für die Öffentlichkeit geschlossen. Große Schilder verkündeten, dass der Wiederaufbau vom chinesischen Staat finanziert wurde. Überall standen Baugerüste. Die Shah-Dynastie hatte das Schloss in der Altstadt dennoch längst verlassen und war in größere und elegantere Räume an einer vornehmeren Adresse gezogen.

Die modernisierte Ausgabe des neuen Königspalastes wurde 1969 fertiggestellt und ist heute ein Museum. Das Exterieur glich einer Pagode aus den sechziger Jahren, die man mit einem Krematoriumsschornstein ausgestattet hatte. Die Säle waren unpersönlich, wie es Säle in Schlössern häufig sind, aber im Gegensatz zu Palästen aus fernen Jahrhunderten waren sie auch erstaunlich niedrig. Die Möbel und das Dekor waren schlicht, wenn man von den vielen ausgestopften und nun ziemlich verstaubten Raubtieren absah, die von jedem einzelnen Treppenabsatz herabsahen. Man hatte beim Durchgang durch die königlichen Säle den Eindruck, als besuche man ein Museum über den Einrichtungsgeschmack der 1970er und 1980er Jahre – angefangen bei dem japanischen Fernseher des Königs, der 1985 sicher hochmodern war, bis hin zum Thronsaal, der mit vier weißen pfeifenähnlichen Rohren dekoriert war, die sich steif zum Dach schlängelten. Die Rohre bildeten das Fundament für den hohen Turm, der dem Gebäude äußerlich diese krematoriumsartige Prägung verlieh.

Am Ausgang wies ein rotes Schild den Weg zum Royal Massacre. Auf einer Karte war markiert, wo Dipendra die verschiedenen Familienmitglieder ermordet hatte. Der kurze Text unter der Karte informierte sprachlich neutral, wo die verschiedenen Personen im Gebäude und auf dem Gelände von den Kugeln getroffen wurden. Ein Täter wurde nicht genannt.

Das Billardzimmer war abgeschlossen, aber es war möglich, durchs Fenster zu schauen. Die Teppiche waren zusammengerollt, aber der Billardtisch und das Sofa, hinter dem viele Familienmitglieder Zuflucht gesucht hatten, standen noch da. Ein Schild wies den Weg zu der Stelle, wo man Königin Aishwarya tot im Garten gefunden hatte, gleich neben einem Gebäude, von dem nur noch Ruinen standen. Ein letztes Schild lockte makaber mit Bullet Holes. An der Palastwand, gleich neben der Stelle, an der Prinz Nijaran schwer verletzt gelegen hatte, gab es tatsächlich sichtbare Löcher von Gewehrkugeln.

Kein Schild wies den Weg zu dem kleinen Teich, an dem man Kronprinz Dipendra bewusstlos gefunden hatte.

Der einundfünfzig Jahre alte Gautam Ratna Shakya war im Kumari-Haus aufgewachsen. Um mit mir zu sprechen, hatte er zunächst einhundert Dollar verlangt, einen Betrag, der etwa dem Monatslohn vieler Nepalesen entspricht, aber Savitri hatte es geschafft, ihn auf dreißig Dollar herunterzuhandeln.

»Meine Familie, eine Familie der oberen Kaste, stellt die Aufseher der königlichen Kumaris in Kathmandu, seit die Tradition vor über dreihundert Jahren eingeführt wurde«, erzählte Gautam. »Insgesamt sind wir zwölf Personen, die gemeinsam im Kumari-Haus wohnen. Meine sechsundsiebzig Jahre alte Mutter ist die Hauptaufseherin, aber sich um die Kumari zu kümmern, ist ein Vollzeitjob für uns alle. Niemand von uns hat irgendeinen anderen Beruf nebenher – wir leben von den Zuwendungen, die wir von den Anbetern der Kumari erhalten.«

Als Ausländerin durfte ich nicht in das Kumari-Haus, daher trafen wir uns in einem traditionellen Newar-Restaurant in der Nähe. Die Kellnerin brachte uns zwei große Kupferteller mit gekochtem Reist, gebratenen gekochten Eiern, würzigem Kartoffelsalat, Bohnen und Chatamari, eine Art dicker Pfannkuchen, gefüllt mit gehacktem Gemüse und Eiern, der in einer Pfanne mit Deckel zubereitet wird.

»Die Kumari steht um sieben oder acht Uhr auf«, erzählte Gautam weiter. »Meine Mutter kleidet sie an und schminkt sie, um neun frühstückt sie. Dann erscheint der Priester, und zwischen neun und elf kommen die Menschen, um sie anzubeten. Um elf isst sie zu Mittag, am Nachmittag wird sie unterrichtet. Wenn die Schule vorbei ist, ruht sie sich fünfzehn, zwanzig Minuten aus, bevor sie zwischen vier und sechs Uhr erneut Anbeter empfängt. Abends hat sie frei und kann spielen, Hausaufgaben machen, fernsehen oder auf ihrem Mobiltelefon Spiele spielen. Gegen halb acht bekommt sie das Abendessen. An Samstagen hat sie einen etwas kürzeren Tag, aber weder sie noch wir in der Familie haben jemals Urlaub.«

»Mit wie vielen Kumaris haben Sie schon gearbeitet?«

»Die jetzige ist die siebte. Die Kumaris werden im Alter von elf, zwölf Jahren fortgeschickt, bevor sie ihre Menstruation bekommen. Am selben Tag kommt ein neues Mädchen. Wir gewöhnen sie an die Routine, und nach einigen Tagen ist sie damit vertraut. Das Kumari-Haus steht niemals leer.«

»Inwieweit haben sich die verschiedenen Kumaris voneinander unterschieden?«

Gautam sah mich verständnislos an.

»Alle Kinder sind doch verschieden, also müssen die sechs Kumaris, die Sie kennengelernt haben, sich doch auch untereinander unterschieden und verschiedene Persönlichkeiten gehabt haben?«, erklärte ich meine Frage.

»Nein, sie sind alle gleich«, versicherte mir Gautam. »Es gibt keine Unterschiede. Wir betrachten die Kumaris nicht als gewöhnliche Kinder, sondern als Göttinnen, und versuchen, ihre Wünsche nach besten Kräften zu erfüllen. Eine Kumari besitzt automatisch kosmische Kräfte. Wenn ich eine Kumari trage, spüre ich, dass sie schwerer ist als andere Kinder. Das kann natürlich auch daran liegen, dass sie so schweren Schmuck trägt«, fügte er nachdenklich hinzu.

»Was passiert, wenn eine Kumari krank wird?«

»Was passiert, wenn eine Kumari krank wird?«, wiederholte Gautam verwirrt.

»Ja, rufen Sie zum Beispiel einen Arzt oder den königlichen Priester oder vielleicht sogar beide?«

»Nein, denn Kumaris werden niemals krank«, erwiderte Gautam. »Das ist noch nie vorgekommen. Es mag sein, dass sie ein wenig Fieber haben, aber es war niemals etwas Ernsthaftes, es war nie nötig, einen Arzt zu rufen.«

Kathmandus vorherige königliche Kumari, Matina Shakya, war zwei Jahre zuvor in das Haus ihrer Eltern zu einem normalen Dasein zurückgekehrt, nachdem sie beinahe ihr ganzes Leben bis dahin als Kumari verbracht hatte – vom dritten bis zum zwölften Lebensjahr. Sie wohnte mit ihrer Familie auf zwei Etagen in einer Wohnung in der Altstadt mit Aussicht auf einen großen, offenen Platz, nicht weit vom Kumari-Haus entfernt. Der Vater, Pratap Man Shakya, empfing Savitri und mich überschwänglich. Matina lag auf einem großen Bett im Wohnzimmer, den Blick auf den Fernseher am anderen Ende des Raums geheftet. Das Gesicht war schmal und herzförmig und wurde von zwei langen Zöpfen eingerahmt. Die ehemalige Göttin hatte helle, beinahe durchsichtige Haut, ungewöhnlich volle Lippen und große, melancholische Augen. Sie trug eine schwarze Strumpfhose und eine schwarz-weiße Bluse. Sie blickte zu uns auf, grüßte aber nicht. In der Hand hielt sie ein iPhone und schaute abwechselnd auf den Bildschirm des Fernsehers und des Telefons. An den Wänden hingen große, gerahmte Fotografien von ihr als Kumari in roten Seidenkleidern und mit stark geschminkten Augen.

»Wir sind gerade aus Moskau gekommen«, erzählte der Vater eifrig. »Matina ist die erste Kumari in der Geschichte Nepals, die auf einem offiziellen Besuch im Ausland war.«

Stolz erzählte Pratap von all ihren Erlebnissen und Begegnungen und zeigte uns auf seinem Mobiltelefon Fotos der Reise. Er sprach ein wenig Englisch, wechselte aber zu Nepali, wenn es kompliziert oder er zu eifrig wurde.

»Haben Sie Moskau gemocht, Matina?«, fragte ich.

»Ja«, flüsterte sie leise, ohne den Blick vom Fernsehschirm abzuwenden.

»Was gefiel Ihnen am besten?«

Sie antwortete nicht, sondern starrte stattdessen auf das Display ihres Smartphones.

»Wir wurden von allen freundlich empfangen, wir haben sogar das Trainingszentrum der Astronauten besucht«, berichtete der Vater enthusiastisch. »Normalerweise lassen sie dort keine Besucher herein, aber uns schon, da wir offizieller Besuch waren. Matina wurde eingeladen, dort an der Landwirtschaftsuniversität zu studieren.«

»Wie war das, Vater einer Kumari zu sein?«, fragte ich Pratap. Mir wurde klar, dass sich der Exgöttin nicht mehr als geflüsterte einsilbige Antworten aus der Nase ziehen ließen.

»Ich sehe mich selbst als einen sehr glücklichen Menschen«, antwortete er und lächelte breit. »Ich hatte nicht damit gerechnet, dass Matina Kumari werden könnte, denn Matinas Mutter stammt nicht aus der Shakya-Kaste wie ich. Normalerweise müssen beide Eltern aus der Shakya-Kaste kommen. Dass Matina als Kumari erwählt wurde, war eine große Ehre. Ich bin froh, dass ich dazu beitragen konnte, unsere Tradition fortzuführen.«

»Wie war Matina als Kind?«

Matina blickte von ihren Bildschirmen auf und sah ihren Vater an, blieb aber weiterhin stumm.

»Als kleines Kind war sie unglaublich unschuldig«, erzählte ihr Vater. »Sie war still und freute sich, neue Dinge zu lernen. In vieler Hinsicht war sie unschuldiger als die anderen Kumaris. Ihre Augen waren sehr groß, sehen Sie sich nur die Fotos an. Sie hat ausdrucksvolle und starke Augen. Natürlich habe ich sie hier zu Hause vermisst, aber die Kumari-Tradition ist ein Teil unserer Kultur, und wir müssen sie bewahren. Ich konnte sie außerdem besuchen, so oft ich wollte. In der Regel besuchte ich sie jeden zweiten Tag. Ich habe alles verfolgt, was mit ihr geschah, ich vertrat sie auch gegenüber den Behörden. Dank meines Einsatzes wurden einige Verbesserungen des Kumari-Systems vorgenommen.«

Matina wurde 2008 Kumari, im selben Jahr, in dem die Monarchie abgeschafft und Nepal eine föderale Republik wurde. Der Staat beschloss, die Tradition der königlichen Kumari fortzusetzen, aber statt des Königs ist es nun der Präsident, der die Segnung der Kumari während des Indra-Jatra-Festes entgegennimmt.

»Es gab einige praktische Probleme, als das Land eine Republik wurde«, berichtete Pratap. »Ich habe eine Systemänderung durchgesetzt, die königliche Kumari ist jetzt an der örtlichen Schule eingeschrieben. Früher hatte sie nur einen Hauslehrer, aber nun kommen die normalen Lehrer nach der Schule zu ihr nach Hause und geben ihr Privatunterricht. Ich habe auch durchgesetzt, dass die Nation die Kumaris finanziell unterstützt. Während die Mädchen Kumaris sind, bekommen sie ein Gehalt, und wenn sie keine Kumaris mehr sind, erhalten sie eine Rente. Insgesamt bekommt Matina fünfzehntausendfünfhundert Rupien Rente im Monat, rund hundertfünfzig Dollar.«

Er sah seine Tochter liebevoll an, die auf dem Mobiltelefon ihren Freundinnen schrieb.

»Wir sind sehr glücklich, Matina wieder bei uns zu Hause zu haben. An dem Tag, an dem sie aus dem Kumari-Haus zurückkehrte, erschien die gesamte Nachbarschaft und führte sie in einer großen Prozession heim. Der Übergang zur Schule war nicht so schwierig, denn wir hatten dafür gesorgt, dass ihre Mitschüler sie kennenlernten, als sie noch im Kumari-Haus lebte.«

»Ich habe sie in der Schule gesehen«, warf Savitri ein. »Da ist sie ganz anders, lebhaft und gesprächig. Da sieht es so aus, als ob sie sich wohlfühlt. Ich glaube, sie ist jetzt müde.«

»Sie ist in der Schule aktiver, aber sie ist auch während unserer Feiertage sehr aktiv«, bestätigte der Vater. »Als sie keine Kumari mehr war, hat sie angefangen, Flöte zu spielen.«

»Wie war es, Kumari zu sein, Matina?«, fragte ich sie.

Es dauerte lange, bevor sie antwortete.

»Es war gut«, flüsterte sie schließlich.

»Erinnern Sie sich an etwas Bestimmtes?«, fragte ich weiter.

»Nein …« Sie flüsterte so leise, dass ich sie kaum verstand.

»Gab es etwas, was Ihnen besonders gefiel, oder gab es vielleicht etwas, was Sie nicht so gern mochten?«

Wieder schwieg sie lange, dann schüttelte sie langsam den Kopf.

»Wie war es, wieder nach Hause zu kommen?«

Erneut dauerte es lang, bevor sie antwortete.

»Gut …«, sagte sie schließlich.

»Vermissen Sie es, Kumari zu sein?«

Sie starrte auf den Fernsehbildschirm, ohne zu antworten oder meinen Blick zu erwidern.

»Sie besucht die neue Kumari oft und hat ihr sehr geholfen«, erklärte der Vater. »Die neue Kumari ist sehr glücklich über sie und will nicht, dass sie wieder geht. Anfangs war Matina jeden zweiten Tag bei ihr und übernachtete auch regelmäßig dort, aber nun hat sie in der Schule mehr zu tun, sodass sie seltener zum Kumari-Haus geht. Sie redet wenig mit Menschen, die sie nicht kennt«, fügte er hinzu. »Sogar bei uns Eltern ist sie nicht sonderlich mitteilsam. Aber mit ihrer Schwester redet sie viel!«

»Wie war der Übergang von einer Kumari zu einem normalen Mädchen?«, versuchte ich es erneut bei Matina.

Es kam keine Antwort. Die ehemalige Göttin war offenbar in einen Zustand absoluten Schweigens abgeglitten.

»Die Eltern müssen sie anleiten, daher bin ich immer bei ihr«, antwortete der Vater. »In der ersten Zeit fand sie nirgendwo hin, denn sie war es ja nicht gewohnt, sich außerhalb des Hauses zu bewegen. Im Großen und Ganzen ist sie immer mit uns zusammen. An ihrem ersten Schultag kamen viele Journalisten.«

Er stand auf und holte ein paar dicke Ordner mit Zeitungsausschnitten, die fein säuberlich in Plastikhüllen einsortiert waren. Datum und Name der Zeitung waren sorgfältig von Hand oben auf jeden Ausschnitt geschrieben. Die Ordner waren randvoll mit Artikeln aus dem In- und Ausland.

»Ich habe viele solcher Ordner«, sagte Pratap. »Wir versuchen, den Leuten verständlich zu machen, dass eine Kumari ein ganz normales Mädchen ist, ein Kind wie jedes andere.«

Matina nahm sich einen Ordner und fing nachdenklich an, die Zeitungsausschnitte durchzublättern.

»Wir wurden gerade in die USA eingeladen, aber im Moment hat der Schulbesuch oberste Priorität; wir werden sehen, ob wir die Zeit finden«, erklärte der Vater. »Das kann jedenfalls nur nach dem Examen vonstattengehen, in den Ferien.«

»Was würden Sie gern studieren, wenn Sie die Schule beendet haben, Matina?«, erkundigte ich mich.

»Ich weiß nicht«, flüsterte sie so leise, dass ich sie kaum verstand.

»Wenn sie mit der zwölften Klasse fertig ist, darf sie selbst wählen, was sie studieren will«, antwortete ihr Vater. »Ich wünsche mir, dass meine Töchter gute Bürgerinnen werden, aber wir wollen sie zu nichts zwingen. Matina hat sich noch nicht entschieden, was sie studieren will, aber sie ist ja auch noch sehr jung. Sie hat noch viel Zeit.«

Erneut fing er an, von der Reise nach Moskau zu erzählen und zeigte uns weitere Fotos von den Metrostationen, der Landwirtschaftsuniversität und dem Astronautenzentrum. Von dem großen Bett aus verfolgte Matina schläfrig die Slideshow ihres Vaters.

Premshova Shakya wohnte in einer kleinen Wohnung in einer lebhaften Straße mitten in Kathmandus Wahrsagerbezirk. Selbst geschriebene Schilder informierten über die vielen verschiedenen Dienstleistungen, die sie anbot, vom Handlesen bis zum Geburtshoroskop. Premshova weissagte aus Reiskörnern. Sie war klein und rund und mit einem roten Sari mit Goldborten bekleidet; an jedem Finger trug sie Ringe, dazu große Ketten um den Hals und schwere Ohrringe, die ihre Ohrläppchen hinunterzogen. Ihr Haar war noch dunkel und dicht, obwohl sie die siebzig überschritten hatte; auf der Stirn hatte sie einen großen roten Punkt. Die Lippen waren rot geschminkt, und wenn sie sprach, klirrten ihre zahlreichen Armreifen. Das kleine Wohnzimmer war tapeziert mit Plakaten von Buddha, hinduistischen Göttern und Fotografien von Premshova als Kumari – als Kind war sie die Kumari von Bhaktapur gewesen, historisch gesehen das größte der drei Malla-Königreiche im Kathmandu-Tal. An der Längswand des Zimmers standen eine Reihe verschiedener Altäre und Götterstatuen, umgeben von halb verwelkten Blumen, Weihrauch, brennenden Öllampen und Schalen mit Speisen als Opfergaben. Dazwischen krabbelte ein Insekt. In einem kleinen Glasschrank neben dem kleinen Fernseher tummelte sich eine Handvoll weißer Mäuse. Premshova öffnete den Schrank und nahm die zwei kleinsten Mäuse heraus. Sie waren offenbar erst wenige Tage alt, denn ihre Augen waren noch geschlossen und die Haut beinahe durchsichtig.

»Sie bringen Glück«, erklärte Premshova mit einer tiefen, heiseren Stimme und streichelte die beiden Mäuse behutsam. Sie gab uns ein Zeichen, uns auf das Bett in der Ecke zu setzen, das einzige Sitzmöbel des Raums, sie selbst setzte sich zwischen Savitri und mich.

»Ich habe Diarrhoe«, informierte sie mich, »daher fühle ich mich nicht ganz auf der Höhe. Ich nehme Medikamente, es geht ganz gut, aber ich habe Bauchschmerzen und fühle mich nicht so kräftig wie normalerweise. Bevor wir uns unterhalten können, müssen Sie den Göttern Opfer bringen.«

Sie nickte energisch in Richtung einer der bunten Statuen, Vishnu möglicherweise, oder Shiva, neben der eine Opferschale stand. Wir taten, wie uns geheißen, und legten beide einen Geldschein in die Opferschale. Premshova lächelte zufrieden.

»Ich wurde Kumari, als ich ein Jahr alt war«, erzählte sie dann. »Damals gab es auch in Bhaktapur eine Aufseherfamilie, ich lebte bei ihnen im Kumari-Haus. Jeden Tag kamen Frauen wie Sie, Ausländerinnen, alle gaben sie mir zehn Dollar als Andenken.«

Sie sah mich vielsagend an.

»Woran erinnern Sie sich bei Ihrem Leben als Kumari?«

»Als ich neun Jahre alt war, bekam ich meine erste Menstruation und hörte als Kumari auf«, sagte sie. »Ich war so klein, als ich Kumari war, dass ich mich nicht an sehr viel erinnern kann, höchsten an ein, zwei Dinge. Ich erinnere mich, dass ich viel Spielzeug und Teddybären hatte. Das Leben als Kumari war schön. Wenn es etwas gab, das ich nicht tun wollte, dann konnte ich es lassen. Es wurde immer so gemacht, wie ich es wollte, aber es gab nie etwas, das ich nicht tun wollte. Die Familie der Aufseher kämmte mir gewöhnlich die Haare und färbte mir die Füße rot. Der König besuchte mich. Daran erinnere ich mich. Die Nachbarn kamen, um mich anzubeten. Die Leute schenkten mir Gold und Silber, und mein Vater, der Goldschmied war, fertigte daraus ein Fußkettchen für mich. Das weiß ich noch. Wir waren fünf Mädchen, die zur Auswahl standen, und ich war die Einzige, die nicht geweint hat. Auch daran erinnere ich mich.«

»Haben Sie verstanden, warum die Menschen Sie angebetet haben, als Sie Kumari waren?«

»Nein, das verstand ich nicht, aber ich fühlte die Kraft der Göttin. Ich fühlte, dass Taleju in meinem Körper war. Wenn sie bei mir war, empfand ich Ruhe und Frieden. Es war ein gutes Gefühl. Als ich aufhörte, Kumari zu sein, vermisste ich das Kumari-Haus und die Aufseherfamilie. Ich vermisste es, mit ihnen zu spielen, aber ich durfte nicht dorthin zurück. Ich bekam auch keine Ausbildung. Aber nachdem ich aufgehört hatte, Kumari zu sein, konnte ich tanzen. Das war schön. Ich tanze sehr gern. Zehn Monate, nachdem ich meine Zeit als Kumari beendet hatte, kam eine andere Göttin, Kali, in meinen Körper. Sie ist noch immer bei mir. Ich heiratete erst mit dreißig, denn ich hatte Angst, meine Schwiegerfamilie würde mich zwingen, schmutzige Teller anzufassen. Kali mag das nicht. Mein Mann versteht mich glücklicherweise und übernimmt immer den Abwasch.«

Sie drehte sich zu Savitri um.

»Wie ist das Foto geworden, das Sie gemacht haben, als Sie das letzte Mal hier waren? Wurde es gut?«

»Es wurde sehr gut«, versicherte ihr Savitri.

»Vier oder fünf Mal gab es Fotos von mir in Amerika«, erzählte Premshova stolz. »Wenn ich im Tempel bin, geschieht es oft, dass Leute ein Foto von mir machen. Sie sagen, ich sähe besonders aus. Mein ältester Sohn wird jetzt vierzig. Zwei Jahre nach seiner Geburt kam auch die Wahrsage-Göttin in meinen Körper, und ich fing an, den Menschen die Zukunft vorherzusagen.«

»Wie haben Sie gemerkt, dass die Wahrsage-Göttin in Ihren Körper kam?«, erkundigte ich mich.

»Das spürt man automatisch. Andere spüren es auch. Jede Woche kommen Menschen, um sich aus dem Reis weissagen zu lassen. Die Menschen haben viele Probleme. Sie können keine Kinder bekommen, oder sie bekommen Kinder, die früh sterben. Ich mag es nicht, den Menschen schlechte Nachrichten zu verkünden, deshalb achte ich immer darauf, ihnen auch eine Lösung anzubieten – ich sage, dass sie Dinge spenden, einen Gott anbeten und in den Tempel gehen müssen, dann geht es vorbei.«

»Können Sie mir weissagen?«

»Nein, Sonntag ist kein guter Tag.« Premshova schüttelte traurig den Kopf. »Montag, Dienstag und Samstag sind gute Tage. Aber nicht Sonntag.«

Sie begleitete uns zur Treppe, griff nach unseren Händen und pustete fest und konzentriert darauf.

»Ich gebe Ihnen gerade all meine Kraft«, lächelte sie und schlurfte zurück ins Wohnzimmer.

Die letzte Ex-Kumari, mit der ich sprach, empfing mich auf der Straße.

»Kommen Sie, folgen Sie mir«, sagte sie bestimmt und geleitete mich über eine schmale Treppe in ein Empfangszimmer. Chanira Bejracharya war von ihrem fünften Lebensjahr bis zu ihrem fünfzehnten Geburtstag Kumari in Patan (1332 Meter über N.N.) gewesen, dem kleinsten der Malla-Königreiche im Kathmandu-Tal. Heute gehört Patan sozusagen zum Einzugsbereich von Kathmandu, und man merkt kaum, wo die eine Stadt aufhört und die andere beginnt. Die ehemalige Göttin sah aus wie eine ganz gewöhnliche Studentin, sie trug ein kariertes Hemd und Jeans und hatte ihr halb langes Haar zu einem Pferdeschwanz gebunden. Sie war einen Kopf kleiner als ich, und ihr Gesicht war mondförmig, beinahe kreisrund.

An den Wänden des Empfangszimmers hingen große Fotografien von Chanira als lebender Göttin. Auf den Fotos trug sie große rote Kumari-Kleider, war dick geschminkt und hatte ein ausdrucksloses Gesicht. Sie war freundlich, gleichzeitig aber professionell distanziert. Für das Interview nahm sie zweieinhalbtausend Rupien, rund achtzehn Euro. Es war weniger, als der Aufseher in Kathmandu verlangt hatte, aber dennoch eine verhältnismäßig stattliche Summe in einem Land, in dem ein Drittel der Bevölkerung mit weniger als drei Euro am Tag auskommen muss.

»Ich gebe im Schnitt drei bis vier Interviews pro Woche«, erklärte die Vierundzwanzigjährige in fließendem Englisch. »Es nimmt viel Zeit in Anspruch und ist daher wie ein Beruf für mich.«

Als Chanira im Alter von fünf Jahren zur Kumari ausgewählt wurde, war ihre Familie in der einmaligen Situation, zwei lebende Göttinnen unter einem Dach zu haben.

»Meine Tante ist offiziell seit beinahe dreißig Jahren Kumari«, erzählte Chanira. »Die Kumaris werden ausgetauscht, sobald sie ihre erste Menstruation bekommen, aber meine Tante hatte nie eine Menstruation. Als sie dreißig Jahre alt war, wurde entschieden, dass sie aufgrund ihres Alters nicht länger an religiösen Festen teilnehmen durfte. Sie wurde durch eine neue offizielle Kumari ersetzt. Meine Tante hat dennoch auch weiterhin die Pflichten einer Kumari erfüllt: Sie kleidet sich noch immer in rote Kleider und geht nicht aus dem Haus. Viele Gläubige suchen sie auf, um gesegnet zu werden. Als kleines Mädchen war ich fasziniert von der Tante, und ich erinnere mich gut an das erste Mal, als ich selbst als lebende Göttin eingekleidet wurde. Ich war fünf Jahre alt, und es gefiel mir ausgezeichnet.«

Im Gegensatz zu der königlichen Kumari in Kathmandu, die im Kumari-Haus lebt und von der Aufseherfamilie erzogen wird, darf die Kumari in Patan auch weiterhin bei ihrer Familie wohnen.

»Meine Familie musste viele besondere Regeln befolgen«, erzählte Chanira. »Sie durften mich nicht länger als Schwester oder Tochter anreden, nur als Göttin. Ich konnte weiterhin mit meinen Brüdern spielen, aber sie durften mich nicht berühren. Ich bekam immer zuerst etwas zu essen, und meine Familie tat ihr Äußerstes, um all meine Wünsche zu erfüllen, damit die Göttin nicht verärgert wurde. Finanziell war es eine schwierige Zeit für meine Eltern, denn mein Vater war gezwungen, sein Geschäft zu schließen, damit er sich während meiner Zeit als Kumari um mich kümmern konnte. Meiner Mutter gelang es, einen Privatlehrer für mich zu finden, aber meine Eltern mussten den Unterricht aus eigener Tasche bezahlen. Jetzt werden die Familien besser unterstützt, aber damals war es schwierig.«

»Haben Sie sich anders gefühlt, als Sie Kumari wurden?«

»Nach und nach wurde mir klar, dass ich eine Sonderstellung und eine besondere Verantwortung in der Gesellschaft hatte, aber es war nicht so, dass ich den ganzen Tag die Göttin in mir gespürt hätte. Während religiöser Feierlichkeiten oder wenn ich auf dem Thron saß und angebetet wurde, hatte ich in gewisser Weise das Gefühl, kein Teil der Gesellschaft zu sein. Ich hatte nicht das Gefühl, jemanden anlächeln zu müssen, und ja, insgesamt … Es ist nicht so leicht zu erklären. Aber den größten Teil der Zeit war ich ein ganz normales Mädchen.«

»Sie waren doch ein Kind«, bemerkte ich. »War es nicht schwer, die ganze Zeit im Haus bleiben zu müssen? Nie hinaus zu können?«

»Nein, das habe ich nicht vermisst. Vielleicht lag es an der Kraft der Göttin oder irgendetwas anderem. Ich weiß nicht warum, aber ich habe es nie vermisst. Meine Eltern kümmerten sich gut um mich, ich bekam alles, was ich mir wünschte. Ich hatte Videospiele und YouTube, ich war nicht so isoliert wie die Kumaris früher. Da ich Kumari war, durften meine Eltern nicht mit mir schimpfen, aber meine Mutter hat alles, was ich falsch gemacht habe, in einem Buch notiert, um mich zu bestrafen, wenn ich keine Kumari mehr war. Das hat funktioniert, ich benahm mich im Großen und Ganzen ordentlich. Viele Menschen im Westen halten die Kumari-Tradition für Kindesmisshandlung, aber ich habe das nicht so erlebt. Ich habe es geliebt, Kumari zu sein, und vermisse es noch immer.«

Chanira war die letzte Kumari in Patan, die der königlichen Familie begegnet war. Sie war sechs Jahre alt, als Kronprinz Dipendra im Sommer 2001 Amok lief und beinahe die gesamte Familie ermordete.

»Vor dem Mord an der königlichen Familie habe ich vier Tage geweint«, erzählte sie. »Ich war absolut untröstlich. Meine Mutter wusste nicht, was sie tun sollte, und suchte Rat beim königlichen Priester. Er sagte, es sei ein sehr schlechtes Zeichen, und er instruierte meine Mutter, ein bestimmtes Ritual auszuführen und um Vergebung zu bitten, denn vielleicht hätte sie irgendein Ritual falsch durchgeführt. Meine Mutter bereitete das Ritual vor, aber um Mitternacht des vierten Tages klingelte das Telefon, und wir erfuhren, dass die königliche Familie bei einem Massaker ermordet worden war. Ich lachte und lachte, als ich die Nachricht hörte. Meine Mutter meinte, irgendein Ritual auszuführen sei nicht mehr nötig.«

»Wieso haben Sie gelacht?«, fragte ich verblüfft.

»Ich weiß es nicht. Die Göttin in mir hat gelacht. Ich erinnere mich nur, dass es mir nicht gelang, mit dem Lachen aufzuhören.«

»Gab es etwas, was Sie nicht mochten, als Sie Kumari waren?«

»Die Touristen«, antwortete Chanira ohne nachzudenken. »Die Nepalesen kamen, um mich anzubeten, sie kamen, weil die Kumari ihnen etwas bedeutet – die Kumari ist ein Teil unserer Tradition. Die Touristen kennen unsere Kultur nicht, sie kommen nur, um zu gaffen. Ich fühlte mich wie ein Affe im Käfig, aber als Kumari hatte ich nicht das Recht, jemandem den Besuch zu verweigern. Auch Touristen nicht. Die Kumari in Kathmandu empfängt keine Touristen, aber wer immer es will, kann die Kumari in Patan besuchen. Ich meine, man sollte Restriktionen einführen.«

Als Chanira als Fünfzehnjährige ihre erste Menstruation bekam, wurde sie von einem Tag auf den anderen wieder zu einem ganz gewöhnlichen Mädchen.

»Meine Eltern hatten versucht, mich auf den Tag vorzubereiten, an dem ich keine Göttin mehr sein würde. Sie hatten mir erzählt, dass sich mein Leben ändern und die Leute sich mir gegenüber anders benehmen würden. Trotzdem kam es wie ein Schock. Als ich die ersten Male aus dem Haus ging, musste meine Mutter mich an der Hand halten. Ich war vorher nie auf der Straße gewesen, und die erste Zeit wollte ich am liebsten getragen werden. Ich hatte in dieser Hinsicht keinerlei Selbstvertrauen, ich fühlte mich so hilflos, ich fand mich nicht zurecht und war überwältigt von all dem Verkehr. Auch in der Schule war es nicht leicht. Ich fand es schwierig, mit anderen zu interagieren – ich war ja weder gewohnt, mit Gleichaltrigen zu reden, noch mit ihnen umzugehen. Anfangs war es allein schon ein Problem, gewöhnliche Kleidung zu tragen. Um den Übergang für andere leichter zu gestalten, habe ich einen Verein zur Unterstützung ehemaliger Kumari gegründet. Die Mädchen brauchen gerade in der ersten Zeit sehr viel Hilfe.«

Sie blickte rasch auf die Uhr.

»Wollen Sie meine Tante kennenlernen?«, fragte sie.

Ich nickte, selbstverständlich. Sie bat mich, zehn Minuten zu warten, bis die längst erwachsene Göttin sich bereit gemacht hatte. In der Zwischenzeit knipste ich eine Handvoll Fotos von Chanira, die routiniert posierte. Zehn Minuten später tauchte ihr Vater an der Tür auf.

»Sie ist bereit, Sie zu treffen«, sagte Chanira. »Aber erst müssen Sie sich die Hände waschen.«

Ich wurde zu einem kleinen Waschbecken geführt, danach in einen rosa gestrichenen Raum. In der Ecke saß Dhana auf einem Holzthron, der ursprünglich für ein kleines Mädchen gedacht war. Chaniras Tante trug ein rot- und goldfarbenes Kleid, sie hatte schwarz geschminkte Augen, die Haare waren zu einem Knoten gebunden. Der Kinderthron war umgeben von Weihrauch, Öllampen und kleinen Schalen mit Früchten. Obwohl Dhana annähernd siebzig Jahre alt war und zusammengesunken dasaß, war ihr ovales Gesicht bemerkenswert glatt, beinahe vollkommen faltenlos.

Ich kniete vor sie, so wie man mich instruiert hatte, und legte einen Geldschein in die Opferschale, die vor dem Thron stand. Dann beugte ich mich vor, damit die Göttin mir einen roten Punkt auf die Stirn tupfen konnte. Danach legte sie mir eine kleine Blume auf den Kopf und überreichte mir eine Banane. Während der Zeremonie sagte sie kein Wort, und ihr Gesicht blieb ausdruckslos, aber ihr Blick war sanft und geduldig. Als ich aufstand, fiel die Blume herunter. Ich hob sie auf und legte sie mir wieder auf den Kopf, aber sie fiel noch einmal herunter.

Die aktuelle Kumari in Patan wohnte nicht wie Chanira zu Hause, sondern war in das Kumari-Haus gezogen, ein altes Holzhaus, das ein paar Steinwürfe weiter an der Straße lag. Dort lebte sie mit ihrer Familie. Ich klingelte, eine ältere Frau öffnete und empfing mich. Sie bedeutete mir, die Schuhe auszuziehen und ihr die Treppe hinauf zu folgen.

Ich kam in ein dunkles und annähernd leeres und schmuckloses Zimmer mit hölzernen Wänden. An einer Wand stand ein niedriger Thron aus Holz auf dem Fußboden, noch leer. Einige Minuten später betrat eine junge Frau mit einem kleinen Mädchen auf dem Arm das Zimmer. Das Mädchen trug wie gewohnt ein rotes Kleid, die Augen waren schwarz geschminkt, das Haar zu einem vorschriftsmäßigen Knoten gesteckt. Sie lächelte mich an, klammerte sich aber mit Armen und Beinen an ihre Mutter. Die junge Frau setzte das Mädchen auf den einfachen Thron, und ich kniete vor ihr, legte einen Geldschein in die Opferschale und senkte den Kopf. Mit spielerischen Bewegungen platzierte die kleine Göttin einen roten Punkt auf meine Stirn.

»Darf ich ein Foto machen?«, fragte ich und bereute es im selben Moment. Die Mutter übersetzte es dem Mädchen, das entschieden den Kopf schüttelte. Dann war die Audienz vorüber, und ich ging die Treppen hinunter, hinaus in den Tag.