Als wir uns Lumbini (150 Meter über N.N.) näherten, fing es an, wie aus Eimern zu gießen, die Straße verwandelte sich in einen spiegelblanken Fluss.

»Der Monsun kommt«, bemerkte Raju, der junge Fahrer. Er beugte sich über das Lenkrad und versuchte, den Straßenverlauf zu erkennen. Draußen war alles eine graue feuchte Grütze, alle Konturen waren von Regen und Schlamm verwischt. Trotzdem kam Raju keinen Moment auf die Idee, langsamer zu fahren. Er zog einen Lappen hervor und wischte damit über die beschlagene Innenseite der Frontscheibe, was aber lediglich zu einer weiteren Verschlechterung der Sicht führte. Sein Hemdsärmel rutschte hoch und enthüllte eine Tätowierung. Obwohl ich Tibetisch nicht lesen kann, erkannte ich das Mantra, das Buddhisten weltweit vor sich hin murmeln, wenn sie meditieren: ॐ मणिपद्मे हूँ, om mani padme hum. Direkt übersetzt bedeutet es »Heil dir, Juwel im Lotus«, aber man kann es auch wiedergeben mit »Oh, Juwelenlotus«. Jede der sechs Silben hat so viele Ebenen und Bedeutungen, dass dicke Bücher über dieses Thema geschrieben wurden.

»Sind Sie Buddhist?«, fragte ich überrascht.

»Nein, nein, ich bin Hindu, aber hin und wieder bete ich zu Buddha«, erwiderte Raju. »Manchmal bete ich auch zu Jesus oder Allah. Ich glaube an alle Götter, sie sind alle gleich wichtig.«

In diesem Moment schlingerte der Wagen gefährlich, und ich sandte ein stilles Gebet an alle Götter dieser Welt. Raju krempelte den anderen Hemdsärmel auf, eine weitere Tätowierung war zu sehen, eine chaotische Ansammlung von Strichen.

»Eigentlich sollte es Shiva darstellen«, erklärte er, sichtlich verlegen, als wir vor das Hotel bogen. »Ein Freund von mir hat es gemacht. Wir haben damals viel zu viel Marihuana geraucht.«

Anfang der Woche war das Thermometer auf fünfundvierzig Grad gestiegen, aber dank des Regenschauers sank die Temperatur glücklicherweise etwas. Das T-Shirt klebte trotzdem am Rücken, als ich durch das östliche Tor ging, das Tor, durch das Prinz Siddhartha Gautama gegangen sein soll, als er mit einundzwanzig Jahren ein für alle Mal sein sorgloses und privilegiertes Dasein hinter sich ließ. Eine magere Grasebene offenbarte sich, darin niedrige hellbraune Ruinen.

Der Legende nach wurde vor rund zweieinhalbtausend Jahren ein Prinz in einem kleinen Königreich zwischen den heutigen Staaten Indien und Nepal geboren. Er bekam den Namen Siddhartha und war der einzige Sohn von König Shuddhodana und Königin Maya. Die Gelehrten streiten sich, ob Shuddhodana wirklich König oder vielleicht eher ein Fürst oder ein mächtiger Oligarch gewesen war, die meisten sind sich allerdings darin einig, dass er einer der obersten Anführer des Shakya-Klans war, die zu dieser Zeit Vasallen des Königs von Kosala waren.

Als der ersehnte Sohn geboren wurde, soll Shuddhodana eine unheilverkündende Weissagung bekommen haben: Wenn der Sohn sich entscheiden sollte, in seine Fußstapfen zu treten, würde er ein mächtigerer Herrscher werden als Shuddhodana selbst, wenn der Sohn sich aber entschiede, das privilegierte Oberklassenleben zu verlassen, würde er ein noch größerer Anführer werden, ein geistiger Wegbereiter für die ganze Welt. Von da an tat der Vater, was in seiner Macht stand, um den Sohn abzuschirmen, damit er nicht der Versuchung erlag, die schützenden Mauern des Schlosses zu verlassen.

Im Alter von einundzwanzig Jahren bekam der Sohn erstmals die Erlaubnis, sich außerhalb der Mauern zu bewegen, aber nur für kurze, kontrollierte Spaziergänge. Während dieser genau geplanten Ausflüge bekam der junge Prinz dennoch ein wenig vom Leid der Welt zu sehen: Zum ersten Mal in seinem Leben sah er Krankheit, Alter und Tod. Dies erschütterte ihn zutiefst, und es wurde ihm klar, dass das Leid ein unumgänglicher Teil des Daseins war. Siddhartha gab sich allerdings nicht damit zufrieden, dass es so sein musste. Er wollte eine Möglichkeit finden, dem Leid zu entkommen und ganz und gar frei zu werden.

Eines Nachts, als die Wachen schliefen, nahm der Prinz in aller Stille Abschied von seiner Frau und ihrem kleinen Sohn und schlich durch das östliche Tor nach draußen. Dort verschenkte er seinen Schmuck und seine Kleider, schnitt sich das lange Haar ab und lebte sechs Jahre als radikaler Asket. Schließlich glich er einem lebenden Skelett. Er genoss großen Respekt bei den übrigen Asketen, aber einer Befreiung von den Schmerzen war er nicht näher gekommen. Es wurde ihm bewusst, dass das strenge asketische Leben nur seinem Körper und seinem Geist schadete und er darüber hinaus die Fähigkeit verlor, klar zu denken. Er sagte sich, dass es einen anderen Weg geben musste, einen Mittelweg. Als eine Frau ihm eines Tages eine Schale Milch anbot, nahm er sie an – zur Bestürzung der übrigen Asketen, die ihn daraufhin alle verließen. Siddhartha Gautama trank die Milch und setzte sich unter einen Feigenbaum, um zu meditieren. In dieser Nacht erlangte er die Erkenntnis über den Zustand und Zusammenhang aller Dinge, er verstand, dass nichts von Dauer ist, auch nicht der menschliche Geist, und dass es bei dem Weg zur Befreiung von Leid darum geht, dies einzusehen und loszulassen. Nur so ließe sich die Erleuchtung erreichen, das Ende des Leidens, das Nirwana.

Mit dieser Erkenntnis wanderte Siddhartha Gautama in Nord-Indien umher, um zu diskutieren und zu unterrichten. Mit der Zeit bekam er die Beinamen Shakyamuni, der weise Shakya, nach der Familie, aus der er kam, und Buddha, der Erleuchtete. Langsam wuchs seine Anhängerschaft, und heute, zweieinhalbtausend Jahre später, zählt sie rund eine halbe Milliarde Menschen.

Wie alle guten Geschichten hat die Erzählung über Buddhas Leben viele Gemeinsamkeiten mit Märchen. Es ist schwierig, die Mythen von den Fakten zu unterscheiden, aber ähnlich wie Jesus von Nazareth oder Muhammed war Siddhartha Gautama eine historische Person. Nepalesische Archäologen meinen, er habe die ersten einundzwanzig Jahre seines Lebens genau hier verbracht, auf dieser trockenen, mageren Grasebene von Lumbini, nicht weit von der indischen Grenze entfernt. Die kürzlich ausgegrabenen Grundmauern zeugen von einer kleinen Stadt mit Geschäften, Wohnsiedlungen und Tempeln. Man braucht dennoch eine ordentliche Portion Fantasie, um sich vorzustellen, wie die Stadt ausgesehen hat, als der zukünftige Buddha hier aufwuchs, denn soweit sie ausgegraben sind, stammen nahezu sämtliche Ruinen von Häusern und Mauern, die mehrere hundert Jahre errichtet wurden, nachdem der junge Prinz durch das östliche Tor hinaus in die Welt gewandert war.

Arbeiter mit dunklen, sonnengebräunten Gesichtern bauten Wege und Brücken aus Holzplanken zwischen den Ruinen, damit Touristen die mühselige Forschungsarbeit der Archäologen nicht zertrampelten. An einem großen Baum am Rande der Ruinenstadt flatterten Tausende von zerschlissenen Gebetsfähnchen in der sanften Vormittagsbrise. Ich ging zu dem Baum und erwartete, fromme Pilger oder buddhistische Mönche in tiefer Meditation zu finden, aber es war kein einziger Buddhist zu sehen, nur Elefanten. Mehr als hundert kleiner und großer Elefantenstatuen standen am Stamm, sorgfältig in Reih und Glied aufgebaut. Direkt in der Nähe war ein kleines Zelt aufgeschlagen. Ein schmutziger, barfüßiger Junge entdeckte mich, holte eine Trommel und begann beschwörend darauf zu schlagen. Ein herausgeputztes junges Pärchen tauchte auf dem Weg hinter mir auf. Es schien nicht das geringste Interesse an den Ruinen von Buddhas Elternhaus zu haben, sondern ging direkt zu den Elefantenfiguren und fiel vor ihnen auf die Knie.

Siddhartha Gautamas Geburtsort Kapilavastu (107 Meter über N.N.) liegt ein paar Dutzend Kilometer entfernt von den Ruinen des Schlosses, in dem er aufwuchs. Als der Zeitpunkt seiner Geburt näher kam, war seine Mutter Maya zum Haus ihrer Eltern aufgebrochen. Bis heute fahren viele indische und nepalesische Frauen nach Hause zu ihren Eltern, um zu gebären. Maya war noch immer weit von ihrem Elternhaus entfernt, als die Wehen einsetzten, sie suchte Schutz in den schönen Gärten bei Lumbini. Gestützt an einen Baum gebar sie ihren einzigen Sohn.

Heute steht dort ein weißer viereckiger, seltsam unpoetischer Tempel über dem Stein, der anzeigt, wo Siddhartha Gautama irgendwann um das Jahr 500 vor Christus geboren wurde. Rund zweihundert Jahre später besuchte der indische Kaiser Ashoka den Geburtsort. Eine Säule erinnert an ihn. Der Text auf der Säule informiert darüber, dass der Kaiser hierherkam, um an Buddhas Geburtsort zu beten, und als Gast der örtlichen Gemeinschaft entschied, dass das ganze Dorf Steuererleichterungen erhalten sollte. Bei der Inschrift handelt es sich um die älteste Nepals.

In den folgenden Jahrhunderten wurde Lumbini entweder angebetet oder vergessen, bis der Ort im 14. Jahrhundert endgültig in Vergessenheit geriet. Ashokas Säule wurde erst 1896 wiederentdeckt. Neben dem weißen quadratischen Tempelgebäude stehen die Grundmauern von zwei tausend Jahre alten Stupas und Klöstern, die zu Ehren Buddhas errichtet und dann verlassen und den Elementen überlassen wurden.

Um das Gebiet aufzuwerten, bekam der japanische Architekt Tange Kenzo in den 1970er Jahren den Auftrag, eine »Lumbini Development Zone« zu entwerfen, einen Komplex, der rund drei mal zwei Kilometer umfasst. Auf dem Gelände sind Klöster und Tempel aus der ganzen Welt versammelt, umgeben von kurz geschnittenen Grasflächen, Wald, Mücken und zwitschernden Vögeln. Lumbini sollte zu einem attraktiven Touristenziel gemacht werden.

Die Entfernungen sind zu groß und die Hitze zu erschöpfend, um auf eigene Faust umherzustreifen. Da Autos in der Development-Zone verboten sind, haben Fahrradrikschas das Monopol für Sightseeing-Touren; ein sehniger alter Mann fuhr mich in einem wackligen Gefährt von Tempel zu Tempel. Er folgte offensichtlich einer festgelegten Route, einer Art Hochgeschwindigkeitsreise durch die buddhistische Welt; der Reihe nach hielt er vor den verschiedenen Tempeln, die er jeweils ankündigte: Cambodian monastery, ma’am. Dann direkt weiter zur Vietnamese monastery, ma’am, French monastery, ma’am, danach zu nepalesischen, chinesischen, deutschen, singapurischen und thailändischen Tempeln, alle gebaut in Stilarten, mit denen man meinte, die jeweils besonderen nationalen Charaktere und Traditionen abzubilden. Nach zwanzig Tempeln konnte ich sie in meiner Erinnerung einfach nicht mehr auseinanderhalten, sie verschmolzen zu einer vergoldeten Grütze.

Gemessen an der Zahl westlicher Gäste ist die Development-Zone bisher kein großer Erfolg. Die Besucher sind überwiegend nepalesische und indische Hindus, die von Tempel zu Tempel eilen, sich an der Tür bücken, ein Selfie schießen, einen Geldschein in die Spendendose werfen und zum nächsten Tempel weiterhasten. Die nepalesischen Verantwortlichen hoffen, dass die Zahl der westlichen Touristen steigen wird, wenn der Gautam Buddha International Airport in naher Zukunft seine Pforten öffnet.

Obwohl kaum eine Volksgruppe mit Siddhartha Gautamas Schicksal enger verbunden ist als die Tibeter, gab es keinen tibetischen Tempel in der Entwicklungszone. Der chinesische Tempel war mit Drachen und fetten, vergoldeten Buddha-Statuen geschmückt und geradezu chemisch bereinigt von jedem Detail, das die Gedanken zum tibetischen Plateau hätte lenken können.

Hinter dem unpoetischen Maya-Devi-Tempel stand allerdings ein leicht schiefer weiß-roter Tempel mit einem flachen Dach – ausgesprochen tibetisch in seinem Stil, geschmückt mit Gebetsmühlen, tantrischen Dämonen und tibetischen Schriftzeichen. Der bescheidene Tempel war in den 1960er Jahren vom König des Oberen Mustang errichtet worden, das zu der Zeit ein kleines buddhistisches Königreich an der Grenze zwischen Nepal und Tibet war.

Mustang war mein nächstes Reiseziel.