Wo endet eine Reise?

Meine lange Reise sollte am Lugu-See enden, bei dem Volk der Mosuo, der größten matrilinearen Gesellschaft der Welt. Die Autofahrt von Lijiang dauerte über vier Stunden; wir überquerten den Jangtse und fuhren in nördlicher Richtung auf grün bewachsene Berge zu. Apple hatte mich gewarnt, die Straße sei schlecht, aber verglichen mit den Straßen in den Bergen von Pakistan, Indien, Bhutan und Nepal war sie ein Wunder.

Apple war ein paar Jahre jünger als ich und hatte mehrere Jahre als Englischlehrerin gearbeitet, bevor sie das chinesische Schulsystem verließ, um ihr Geld nur noch als Guide und Dolmetscherin zu verdienen.

»Ich war zu ungeduldig«, erklärte sie. »Ich wurde wütend, wenn die Kinder nicht zuhörten, außerdem waren viel zu viele Schüler in jeder Klasse. Dazu kam, dass die Lehrer bestraft werden, wenn die Kinder bei den Prüfungen schlechte Noten bekommen. Ich hatte genug.«

Sie hinkte ein wenig und schminkte sich nicht, ihre Haare waren glatt und schulterlang.

»Meine Eltern wollen, dass ich heirate und Kinder bekomme, aber ich will nicht«, fuhr sie fort. »Ich will frei sein. Reisen. Die Welt sehen. Es gibt so viel zu tun. Das Einzige, was ich will, ist, so zu leben, wie es mir gefällt. Aber es ist trotz allem besser, eine Frau in China zu sein als an vielen anderen Orten. Vor vielen Jahren war ich auf einer Reise in Indien. Indische Männer sind grässlich! Bevor ich nach Kalkutta kam, war ich nie sexuell belästigt worden. Als ich nach Hause kam, habe ich China mit ganz neuen Augen gesehen.«

»Ich habe in China auch keine sexuellen Belästigungen erlebt«, bestätigte ich. »Im Vergleich zu vielen anderen Ländern sieht es so aus, als sei China ein gleichgestelltes Land, aber ich habe dennoch den Eindruck, dass die meisten leitenden Positionen mit Männern besetzt sind. Wie viele Ministerinnen gibt es in der Regierung?«

»Wieso fragen Sie, wenn Sie die Antwort bereits wissen?«, fragte Apple irritiert.

»Ich kenne die Antwort nicht. Deshalb habe ich ja gefragt.«

»Fünfhundert Jahre hat China westlichen Einflüssen widerstanden«, fauchte Apple. »Warum sollen wir uns jetzt ändern? Warum soll China so werden wie der Westen?«

»Ich habe nicht gesagt, dass China so werden soll wie der Westen«, erwiderte ich perplex. »Weibliche Chefs und Minister sind doch nicht spezifisch westlich?«

Als wir in den letzten Tagen in Lijiang zusammenarbeiteten, hatte Apple vor allem gedolmetscht. Nun hatten wir mehr Zeit, uns zu unterhalten, und ich begann zu verstehen, warum aus ihrer Karriere als Lehrerin nichts geworden war.

»Die Unterschiede zwischen Ost und West sind unüberwindlich«, behauptete Apple entschieden. »Das war schon immer meine Meinung. Menschen aus dem Westen verstehen einfach nicht, wie wir denken. Östliche und westliche Menschen werden sich niemals verstehen, dazu sind wir zu verschieden.«

In angespannter Stille fuhren wir weiter. Grüne Höhenzüge zogen vorbei. Ich vertrieb mir die Zeit, indem ich Nachrichten auf meinem Mobiltelefon las. Topthema aller westlichen Zeitungen im Netz waren die Proteste in Hongkong; mehrere Hunderttausend Demonstranten waren auf der Straße, die Situation spitzte sich zu. Ich ergriff die Gelegenheit, Apple zu fragen, was die chinesischen Medien über Hongkong berichteten.

»Ich weiß es nicht, weil ich nie Nachrichten sehe«, antwortete sie zugeknöpft vom Vordersitz, ohne sich zu mir umzudrehen. »Aber ich kann den Fahrer fragen, wenn Sie wollen.«

Wie es schien, hatte der Fahrer bei diesem Thema viel auf dem Herzen.

»Die Medien schreiben, die Proteste würden von den Briten und Amerikanern inszeniert, als Versuch, die Wahlen in Taiwan im nächsten Jahr zu verhindern oder zu beeinflussen, wenn Taiwan an China zurückgeführt werden soll«, übersetzte Apple. »Er sagt, für ihn hört es sich nach einer plausiblen Erklärung an.«

»Was schreiben die chinesischen Medien über die Situation in Xinjiang und die dortigen Internierungslager?«, fragte ich weiter.

Wieder musste Apple sich bei unserem Fahrer erkundigen.

»Von Internierungslagern hat er nichts gehört, sagt er, aber er findet es normal, dass es nach dem Messerangriff im Bahnhof von Kunming vor einigen Jahren in Xinjiang mehr Sicherheit geben muss. Die Sicherheitssituation war nicht gut genug, und die Bevölkerung muss geschützt werden.«

Ich spürte, dass Apple ungeduldig wurde, aber ich stellte dennoch eine weitere Frage.

»Was lernen die Chinesen in der Schule über Tibet?«

»Was meinen Sie?«, fragte Apple wachsam zurück.

»Was lernen die Chinesen über die chinesische Übernahme von Tibet im Jahr 1950?«

»Das ist ein kleines Kapitel, sehr kurz, so kurz, dass es keinen Sinn ergibt«, antwortete sie verhalten.

Ich wagte nicht, noch weitere Fragen zu stellen und vertiefte mich wieder in die Nachrichten auf meinem Mobiltelefon. Plötzlich drehte sich Apple zu mir um.

»Warum fragen Sie nach all diesen Dingen?«, erkundigte sie sich wütend. »Es ist, als hätten Sie sich eine Meinung gebildet, die Sie nun bestätigt haben wollen. Sind Sie sich darüber im Klaren, dass Sie nach sehr politischen Sachen fragen? Wir Chinesen reden über so etwas nicht, und Sie kommen daher und haben offensichtlich Ihre eigenen Meinungen; es ist, als wollten Sie über uns urteilen, warum fragen Sie mich eigentlich nach alldem?«

Ihr standen Tränen in den Augen, ihre Stimme bebte.

»Ich habe zwanzig Jahre gebraucht, um mich von all diesen Dingen fernzuhalten – und Sie bringen alles zurück! Wir leben in einem kommunistischen Land, was glauben Sie eigentlich, wie die Dinge hier funktionieren? Es spielt keine Rolle, was wir über dieses und jenes meinen! Ich dachte, die Vereinbarung sei, Ihnen zu helfen, mit den Leuten zu reden, nicht, dass Sie mich über sehr persönliche Dinge ausfragen!«

»Es tut mir leid, wenn ich Sie verletzt habe, aber ehrlich gesagt hielt ich es nicht für sehr persönlich, als ich fragte, was die chinesischen Medien über die verschiedenen Themen sagen«, verteidigte ich mich. »Ich kann ja kein Chinesisch, wie soll ich also sonst davon erfahren?«

»Sie fragen und fragen!«, rief Apple. Eine Träne rollte ihr über die Wange. »Schluss damit, einfach aufhören!«

Schweigend fuhren wir weiter. Erfolgreiche Diktaturen funktionieren immer so: Die Diktatur zieht in die Köpfe der Menschen ein. Dort drinnen sitzt sie dann und verschanzt sich gegen Fragen. Der Alltag wird einfacher so.

Als wir am Eingangstor zum Lugu-See (2685 Meter über N.N.) hielten, um Tickets zu kaufen – der Lugu-See ist für die chinesischen Verantwortlichen ein scenic spot, somit ist ein Eintrittsgeld erforderlich –, drehte Apple sich erneut zu mir um.

»Entschuldigung, ich hätte nicht so wütend werden dürfen«, sagte sie kleinlaut. »Ich kann Ihnen das Geld zurückgeben, das Sie mir bezahlt haben, und ich kann Ihnen helfen, einen anderen Dolmetscher zu finden, wenn Sie wollen.«

»Unsinn, das ist nicht nötig«, versicherte ich. Um das Thema zu wechseln und hoffentlich die Stimmung zu verbessern, fragte ich nach den Unterschieden der verschiedenen ethnischen Gruppen, die in der Region lebten, Yi, Bau, Naxi und Mosuo, aber zum einen hatte ich das Pech, eine Frage zu stellen, die ich ihr schon einmal gestellt hatte, zum anderen zeigte ich meine bodenlose Unwissenheit.

»Haben Sie nichts darüber gelesen, bevor Sie hierherkamen?«, fragte Apple, eher überrascht als irritiert.

Wir bekamen unsere Tickets und fuhren weiter zur Touristenattraktion, vorbei an Hotels, einfachen Häusern und geparkten Touristenbussen. Der See lag blank und verlockend links der Straße, umgeben von bläulichen dekorativen Bergen. Große gelbe Schilder informierten darüber, dass Baden streng verboten war. Nach einer Weile hatten wir das kleine, familienbetriebene Hotel erreicht, in dem wir wohnen sollten.

»Sadama, eine gute Freundin von mir, wohnt im Nachbarhaus«, sagte Apple. »Sie hat uns zum Abendessen eingeladen.«

»Wie nett von ihr!«, rief ich.

»Sie verstehen es nicht«, erwiderte Apple resigniert. »Sadama ist wie gesagt meine Freundin. Sie muss uns zum Abendessen einladen. Es ist ihre Pflicht.«

In Sadamas Küche hingen ein Plakat mit Fotos der fünf letzten Vorsitzenden der kommunistischen Partei, inklusive Präsident Xi Jinping, sowie ein großes Poster von Mao. Am Buddha-Altar im Wohnzimmer stand ein gerahmtes Foto des elften Panchen Lama, der Reinkarnation, die von der chinesischen Führung ausgerufen wurde und nun in Peking lebte. Es war das erste Mal, dass ich ein Foto von ihm in einer Privatwohnung sah.

Sadama war neunundzwanzig Jahre alt und im achten Monat schwanger. Sie servierte Schalen mit wohlschmeckenden vegetarischen Gerichten und fragte lächelnd, ob wir Bier oder Schnaps zum Essen wollten. Ihr Vater, der zu Besuch war, und der Ehemann, ein hochgewachsener und ausgesprochen gut aussehender Tibeter, ließen sich nicht zwei Mal bitten.

Nachdem wir gegessen hatten, setzten wir uns auf Plastikstühle in den Hinterhof. Mit Ausnahme des Zirpens der Zikaden und des Dröhnens des Fernsehers, der im Wohnzimmer Selbstgespräche führte, war es ganz still; die Abendluft war kühl und mild. Sadama hatte mehrere Jahre bei einer amerikanischen Familie in Lijiang gelebt und sprach daher gut Englisch, obwohl sie nie eine Schule besucht hatte.

»Wir konnten selbst entscheiden, ob wir zur Schule gehen wollten oder nicht, und da fiel mir die Wahl leicht«, lachte sie. Im Gegensatz zu Apple war Sadama die Geduld in Person; sie antwortete freundlich und hin und wieder ausgesprochen fröhlich auf alle meine Fragen zu Mosuo-Traditionen und dem Leben am Lugu-See.

»Es heißt, wir leben im Königreich der Frauen«, lächelte sie. »Ich mag den Begriff, obwohl wir gar keinen König haben. Bei uns ist die Großmutter die Chefin. Sie entscheidet, was getan werden muss und wer was zu erledigen hat; die Großmutter bereitet die Rituale vor und ist die Herrin über die finanziellen Verhältnisse des Haushalts. Wenn die Großmutter sich zurückzieht, gibt sie die Verantwortung normalerweise an ihre älteste Tochter weiter. Aber obwohl wir eine matrilineare Gesellschaft sind, bedeutet das nicht, dass die Frauen alles bestimmen. Die Onkel sind auch wichtig! Der älteste Onkel, der in der Regel der älteste Bruder der Großmutter ist, ist die Nummer zwei im Haus. Männer sind stark, aber wir Frauen können auch all das tun, was Männer können, und zusätzlich können wir Kinder gebären. Das können die Männer nicht. Daher respektieren wir die Frauen.«

Die Mosuo heiraten normalerweise nicht, sondern praktizieren sogenannte walking-marriages, Wanderehen:

»Der Mann besucht die Frau nachts und verschwindet morgens wieder«, erklärte Sadama. »Die Kinder wohnen bei ihrer Mutter, zusammen mit den Brüdern und Schwestern der Mutter. Nur Menschen, die gemeinsames Blut teilen, wohnen zusammen. Das ist einfacher und schafft nicht so viele Probleme. Man muss sich nicht mit Schwiegereltern oder Schwägerinnen auseinandersetzen. Außerdem ist es leichter, sich zu trennen. Er kann aufhören zu kommen, oder sie kann die Tür abschließen. Anfangs kommt er normalerweise am späten Abend, um den Brüdern des Mädchens nicht zu begegnen. Wir Mosuo halten sehr viel von Privatleben. Mit unseren Brüdern reden wir nie über Liebe oder Sex. Niemals! Über uns werden viele seltsame Dinge erzählt, es heißt, wir hätten viele Männer und wären zügellos, aber davon ist nichts wahr. Einzelne Mosuo-Frauen haben zwei, vielleicht auch drei Männer im Laufe ihres Lebens. Drei ist aber nicht sonderlich verbreitet. Es heißt auch, wir wüssten nicht, wer unsere Väter sind, aber natürlich wissen wir das! Ich habe eine enge Beziehung zu meinem Vater, aber ich habe ein noch engeres Verhältnis zu meiner Mutter und Großmutter.«

Sadama wohnte bei ihrer Mutter, die sich als junge Frau entschieden hatte, aus dem Haus ihrer Mutter auszuziehen, um mit ihrem Ehemann zusammenzuleben. Auch Sadama wohnte mit ihrem Mann zusammen.

»Mein Mann kommt aus einem weit entfernt liegenden Dorf, daher können wir nicht traditionell leben, sondern müssen zusammen wohnen. Außerdem haben die Behörden jetzt festgelegt, dass wir einen Trauschein brauchen. Für uns hat das nichts zu bedeuten, es ist lediglich ein Blatt Papier, das wir benötigen. Das Fest ist wichtiger! Normalerweise feiern wir eine große Hochzeit mit Freunden und Verwandten, oft mit einer Menge Trinkspiele. Ich hatte mich sehr auf das Fest gefreut, ich wollte trinken und feiern, aber dann habe ich festgestellt, dass ich schwanger bin … Natürlich haben sich alle sehr gefreut, denn es ist nicht unbedingt so, dass man heiraten muss, um Kinder zu bekommen, aber für mich war das Fest nicht gerade ein Trinkwettkampf.«

Sadama rutschte auf dem Stuhl herum und versuchte vergeblich, eine angenehmere Sitzposition zu finden.

»Viele chinesische Guides kommen hierher und erzählen den Touristen, wir hätten jeden Abend einen anderen Mann«, seufzte sie. »Einige von ihnen bieten den Touristen sogar an, unsere Ehemethode auszuprobieren! Die Touristen glauben ja gern, dass es tatsächlich so ist. Vor einigen Jahren kamen chinesische Frauen hierher, die sich wie Mosuo kleideten und in Bordellen arbeiteten … Seit gut zwanzig Jahren kommen Touristen hierher, seit Lijiang eine UNESCO-Stadt wurde, und nun kommen sogar noch mehr, weil wir einen Flugplatz haben. Die Älteren finden, dass es hier jetzt schön ist, denn in ihrer Jugend waren sie sehr arm, aber wir haben viele Traditionen verloren. Bekommt man etwas Neues, verliert man etwas Altes, so ist es ja.«

Sie lächelte wehmütig und strich sich über ihren großen Bauch.

»Wir sitzen am Abend nicht länger zusammen und unterhalten uns, wir sitzen am WeChat oder sehen fern«, fügte sie nachdenklich hinzu. »Ich glaube, unsere Kultur wird allmählich verschwinden. Es gibt nur noch so wenige von uns, nur noch dreißigtausend Mosuo. In den letzten Jahren haben viele Mosuo-Frauen Han-Chinesen geheiratet und sind vom See fortgezogen. Haben Sie übrigens Lust, meine Großmutter zu besuchen? Sie liebt Besuch!«

Sadamas Großmutter Kumi lebte in einem großen, traditionellen Mosuo-Haus, zu Fuß fünf Minuten von Sadamas Haus entfernt. Sie wohnte mit drei ihrer sieben Kinder zusammen, saß aber allein am offenen Herd des Großmutterraums, als wir kamen. Als sie uns sah, klatschte sie begeistert in die Hände, weil sie Gäste hatte.

»Alle traditionellen Mosuo-Häuser haben einen Großmutterraum«, erklärte Sadama. »Im Großmutterraum steht immer eine kleine Feuerstelle, an der die Familie dem Geist des Feuers opfert; die Großmutter schläft daneben.«

Die alte Frau trug traditionelle Kleidung; eine schwarze Bluse, eine hellblaue Plisseeschürze und einen großen schwarzen Turban, außerdem hatte sie einen breiten rosafarbenen Gürtel um den Leib gebunden. Der aus Holz gebaute Raum war hoch und geräumig. Kumu hatte nahezu alle Zähne verloren, aber sie hatte noch immer einen geschmeidigen Körper und ein gutes Gehör, flinke Augen und ein ansteckendes, schönes Lachen. Sadama holte grünen Tee und Schalen mit frischem, selbst gemachtem Joghurt für uns.

»Ist es eine große Verantwortung, das Oberhaupt für den ganzen Haushalt zu sein?«, fragte ich sie.

»Oh, ich trage nicht mehr so viel Verantwortung.« Die alte Frau lachte, dass sich ihr ganzer Körper schüttelte. Sie sprach nicht Chinesisch, sondern nur Mosuo. Sadama übersetzte für Apple und mich. »Ich bin jetzt alt, und es wohnen nicht mehr so viele Menschen im Haus.«

»Wie war es hier, als Sie jung waren?«, fragte ich weiter.

»Oh!« Kumu hickste vor Lachen. »Reden wir nicht von früher! Es war fürchterlich damals. Wir haben viel gearbeitet und wenig gegessen. Es ist heute viel besser als früher! Früher mussten wir alles mit der Hand machen, wir mussten das Maismehl selbst mahlen und hatten keinen Reis. Wir hatten auch keine Straße, und alles war schmutzig und staubig. Jetzt ist es überall sauber und ordentlich, und es kommen viele Leute hierher. Es ist unmöglich, früher und heute zu vergleichen, das sage ich Ihnen.«

»Wie alt waren Sie, als Sie heirateten?«

»Ich weiß nicht einmal, wie alt ich jetzt bin, wie soll ich da wissen, wie alt ich war, als ich heiratete?«, sagte Kumu und lachte, dass der ganze zahnlose Gaumen zu sehen war.

»Ich kenne mein Geburtsdatum auch nicht«, warf Sadama ein. »Meine Eltern wissen nicht genau, wann ich geboren wurde.«

Zusammen mit der Großmutter errechnete sie, dass ihr ältestes Kind im Jahr des Affen geboren worden war, aber wann war das eigentlich? Niemand wusste es genau.

»Außerdem hatte ich mehrere Männer«, gluckste Kumu. »Wie soll ich mich erinnern, wann ich mit wem ein Kind bekam?«

»Wie viele Ehemänner hatten Sie denn?«

»Nur zwei, nicht einen ganzen Haufen, hahaha! Den einen haben meine Eltern für mich ausgesucht, den anderen fand ich selbst. Der eine ist jetzt tot, und der andere wohnt irgendwo anders.«

»Veränderte sich hier etwas, als die Kommunisten an die Macht kamen?«

Kumu sah mich verständnislos an.

»Sie kennt das Wort ›Kommunist‹ nicht«, erklärte Sadama. »Wenn ich mit ihr früher über so etwas geredet habe, hat sie erzählt, dass alle damals für die Behörden gearbeitet haben und dass die Behörden sich in alles einmischten. Wenn sie ein Schwein schlachteten, mussten sie die Hälfte abgeben, daher schlachteten die Leute heimlich und hatten Angst, entdeckt zu werden. Jetzt haben alle eigenes Land.«

»Was denken Sie über all die Touristen, die jetzt hierherkommen?«, wollte ich von Kumu wissen.

»Oh, es ist gut, dass die Leute kommen!« Sie strahlte. »Ich habe so gern Gäste, verstehen Sie. Aber hin und wieder ist es ein bisschen zu voll hier«, fügte sie hinzu. »Manchmal kommen vielleicht etwas zu viele Menschen.« Sie lächelte. »Aber ich habe keinen Grund, mich zu beklagen. Alle meine Enkel sind groß geworden und kommen gut zurecht.«

»Ich denke oft, dass sie Glück gehabt hat«, sagte Sadama. »Ich sehe, wie glücklich sie ist, wenn ihre Kinder und Enkelkinder hier sind. Alle respektieren sie. Ich mache mir Sorgen, wie es mir selbst ergehen wird, denn alles verändert sich momentan. Einmal war ich zu Besuch in einem Altersheim, das war ein schreckliches Erlebnis. Die Verwandten kümmerten sich nicht um ihre Alten, sie kamen nie zu Besuch. Ich war so traurig, als ich dort war, dass ich anfing zu weinen.«

»Haben Sie Angst, dass die Mosuo-Kultur verschwinden wird, da sich jetzt alles so schnell verändert?«, fragte ich Kumu zum Schluss.

»Hauptsache, die Menschen sind glücklich, dann ist es nicht so wichtig, ob es die Mosuo-Kultur gibt oder nicht«, gab sie zur Antwort. »Meine Enkelkinder sprechen Chinesisch. Ich kann kein Chinesisch, aber ich bin froh, dass sie es können!«

Wieder lachte sie. Der ganze alte, zarte Körper schüttelte sich vor Lachen.

»Sie fragen mich nach Dingen, die vor langer Zeit passiert sind, Mädchen! Wie soll ich mich an all das erinnern?«

Am nächsten Tag musste sich das Dorf von einer alten Frau verabschieden. Sadamas Mutter lud Apple und mich dazu ein. Sadama durfte aufgrund ihrer Schwangerschaft nicht dabei sein, Tod und Geburt mussten getrennt bleiben.

»Alle werden da sein«, klagte sie. »Ich wäre so gern dabei!«

»Aber wird es nicht sehr traurig sein?«, fragte ich.

»Nein, es ist eine alte Frau gestorben. In solchen Fällen sind wir nicht traurig. Wir sehen den Tod als einen Neuanfang.«

Das Haus, in dem die Frau gewohnt hatte, war voller Menschen. Sadamas Mutter stellte Apple als eine Freundin von Sadama vor, und mich als eine Freundin von Sadamas Freundin – wir wurden beide herzlich willkommen geheißen. Auf den Rat von Sadamas Mutter hin hatten wir Speiseöl, Zigaretten, eine kleine Flasche Schnaps und Kuchen mitgebracht. Wir brachten die Geschenke in den Großmutterraum, wo die Rituale stattfanden. Der Raum war klein und quadratisch; in einer Ecke stand ein Altar mit Weihrauch, Blumen, angezündeten Butterlampen, bunten Opferkuchen aus Tsampa-Mehl und Schalen mit Süßigkeiten, Nüssen und Pfirsichen. Die Wände waren bedeckt mit heiligen buddhistischen Gemälden, die die Mönche mitgebracht hatten, vom Dach hingen Girlanden und Bänder mit tibetischen Mantras.

Apple verbeugte sich vor dem Altar und forderte mich energisch auf, das Gleiche zu tun. Als wir unsere Geschenke abgelegt hatten, wurden wir an einen der Tische im Hinterhof geführt, wo uns Speisen und Getränke serviert wurden. Große Schalen mit gebratenem Fleisch standen vor uns. Am Vortag hatte die Familie eine Kuh geschlachtet, um alle Gäste ausreichend verpflegen zu können.

»Dies ist unser Mittagessen«, erklärte Apple. »Heute gibt es kein anderes Mittagessen mehr.«

»Aber es ist doch erst neun?«, wandte ich ein.

»Wie gesagt, dies ist unser Mittagessen«, wiederholte Apple gereizt.

Auch im Hinterhof war eine Art Altar aufgebaut. In einem bunten selbst gebastelten Rahmen, der aussah wie eine Lotusblume, hing die Fotografie einer lächelnden grauhaarigen Dame.

Als wir in den Großmutterraum zurückkehrten, saßen Mönche dicht an dicht auf einer Bank neben dem Altar. Für meine ungeübten Augen sahen sie mit ihren Trompeten, Trommeln und tibetischen Gebetstexten wie ganz gewöhnliche buddhistische Mönche aus, aber es stellte sich heraus, dass es sich um Bön-Mönche handelte, die dem alten Glauben anhingen.

»Bön gibt es bereits seit zehntausend Jahren«, erklärte einer von ihnen, Rinzhen Dorje, ein vierundzwanzigjähriger, ernster junger Mann. »Zum Vergleich, die Gelbkappenschule ist nur sechshundert Jahre alt. Unsere Schriften und Zeremonien sind auch anders. Wir Bön-Anhänger glauben, dass die Welt von dunklen und hellen Kräften beeinflusst wird, wir versuchen, diese Kräfte auszubalancieren. Wie alle Buddhisten glauben wir auch an Karma, Reinkarnation und Erleuchtung, aber unsere Traditionen reichen tiefer. Da der Lugu-See so isoliert war – die Straße wurde ja erst in den 1980er Jahren gebaut –, sind die Bön-Traditionen hier besser bewahrt als in Tibet. Wir opfern zum Beispiel noch immer Ziegen und Kühe.«

Er holte sein Mobiltelefon heraus und begann, nach Büchern zu suchen, die wir lesen könnten, um es besser zu verstehen. Mit gerunzelter Stirn scrollte er rasch über das Display.

»Leider sind alle Bücher entweder auf Chinesisch oder Tibetisch.« Er zuckte bedauernd die Achseln. »Es war übrigens nicht ganz richtig, als ich gesagt habe, dass Bön hier am Lugu-See ganz ursprünglich ist. Hier haben sich Bön-Traditionen mit lokalen Traditionen vermischt. Die Menschen haben zum Beispiel noch immer Dabas, Schamanen. Ja, heute Nachmittag kommt ein Daba hierher. Seine Aufgabe ist es, eine Passage für die Seele der Toten zu öffnen, sodass sie mit den Geistern ihrer Vorfahren vereint werden kann. Unsere Aufgabe ist es, eine Passage zu den sechs verschiedenen Stadien zu öffnen, die die Seele durchlaufen muss, bevor sie versteht, dass sie tot ist, damit sie ins Paradies einziehen oder erneut geboren werden kann.«

An einer Schnur am Altar hing ein Bündel bunter Kleider, und von einem der Pfähle, die das Dach abstützten, baumelte eine Dekoration aus Federn, Seilen und selbst gebastelten Blumen aus Tüchern.

»Das ist der Pferdesattel«, erklärte Rinzhen Dorje. »Morgen werden sie die Dekoration an einem Pferd befestigen, und das Pferd wird dann in die Berge geschickt, als Geschenk an den Gott des Berges. Es ist eine alte Mosuo-Tradition. Das Pferd kommt zurück, aber wir Mosuo glauben, dass die Seele auf dem Weg ins Paradies durch den Wald und auf den Berg wandern muss. Die Kleider sind ein Geschenk an die Seele der Toten. Wenn Mosuo-Frauen heiraten, bekommen sie neue Kleider als Geschenk. Dies ist so etwas Ähnliches. Der Tod ist ein neuer Anfang. Der Leichnam wird in Kindslage verbrannt, als ein Symbol, dass der Tod ein Übergang zu etwas anderem ist.«

Die Küche war voller Frauen. Einige waren damit beschäftigt, Fleisch aufzuschneiden und zu kochen, andere ließen es sich schmecken. An den Wänden hingen die gleichen Plakate von Xi Jinping und seinen Vorgängern wie bei Sadama.

»Ich wohne in einem traditionellen Heim«, erzählte eine junge Frau, die einen schwarzen Jogginganzug trug. Der Dresscode war generell entspannt, die meisten Gäste trugen Jeans oder Jogginghosen. »Ein traditionelles Mosuo-Heim besteht aus vier Häusern«, erklärte sie weiter. »Dem Haus der Großmutter, dem Blumengebäude, das den Frauen gehört, dem Grashaus für diejenigen, die keinen Partner haben, und dem Tempel.«

Die junge Frau hieß Bima und teilte das Haus beziehungsweise die Häuser mit ihrer Großmutter, ihrer Mutter, den Onkeln, den Geschwistern und ihren eigenen Kindern.

»Eine solche Ordnung ist gut für die Kinder«, betonte sie. »Sie wohnen bei ihrer Familie, egal, was passiert. Scheitert eine Ehe, müssen sie nicht erleben, wie der Haushalt geteilt wird. Sie wohnen weiterhin mit ihrer Mutter zusammen, alles geht weiter wie bisher. Benimmt der Mann sich schlecht, wird abends nur die Tür abgeschlossen, sodass er nicht ins Haus kann. Aber wir haben hier nicht viele Scheidungen«, fügte sie hinzu. »Wir haben keine tragischen Ehen wie in anderen Gegenden. Viele Han-Chinesen haben Liebhaberinnen, aber das ist hier nicht üblich. Es ist nicht akzeptiert, der ganze Klan wendet sich gegen Leute, die sich nicht ordentlich benehmen.«

Als Apple und ich in den Großmutterraum zurückkehrten, tranken die Mönche Tee. Ein Lama lag ausgestreckt auf der Bank und schnarchte leise vor sich hin. Auf dem Boden vor dem Herd saß ein Mann in schwarzer Hose, weißem Hemd und einer grauen Allwetterjacke und formte kleine Figuren aus Tsampa-Teig.

»Das ist der Daba, der Schamane«, flüsterte Apple.

Einige Figuren ähnelten Ziegen oder Pferden, andere erinnerten an kleine Pyramiden, verziert mit tropfenförmigen, weißen Butterklecksen. Die fertigen Figuren wurden auf ein mit Sand, Reis und Maiskörnern bedecktes Brett gestellt.

Verwandte, die breite, alte Bretter trugen, auf die sie Fleisch und Reis gelegt hatten, betraten den Raum. Sie stellten die Bretter als Opfergaben an den Altar, verbeugten sich mehrmals so tief, dass der Kopf den Boden berührte, und verließen den Raum wieder.

»Die Bretter stammen von ihren Häusern«, erklärte Apple. »Jeder Verwandte muss ein Brett bringen. Morgen werden sie die Bretter verbrennen.«

Der ganze Raum roch nach Schweinefleisch, das die Verwandten geopfert hatten. Die Mönche richteten sich auf und begannen wieder, ihre Mantras aufzusagen, die Stimmen und Zimbelklänge wurden lauter und wieder leiser. Zwischendurch befeuchteten sie ihre Kehlen mit Kräutertee aus der Dose. Eine Handvoll Fliegen schwirrte bedächtig im Raum herum, hin und wieder setzten sie zur Landung auf einem der Mönchsköpfe an und liefen eine Weile auf dem Schädel umher, bevor sie weiterflogen.

»Die Mosuo glauben, dass die Seele der Toten vielleicht in einem Enkelkind zurückkommt, daher ist der Tod sowohl ein Ende wie ein Anfang«, erklärte Apple leise.

Der Daba hieß La’nji und war sechsundvierzig Jahre alt.

»Am frühen Morgen habe ich einen besonderen Text für die Tote gesungen, sodass sie mit ihren Vorfahren wiedervereint werden kann«, erzählte er. Wir waren auf ein Stück Land hinter dem Haus gegangen, weil er meinte, es gehöre sich nicht, im Haus der Familie einer Toten über religiöse Themen zu sprechen. Der Schamane arbeitete sich kettenrauchend durch meine Fragen.

»Der Daba spielt eine wichtige Rolle bei allen großen Ereignissen in der Mosuo-Kultur«, erläuterte er aus den Rauchwolken heraus. »Bei Geburten, wenn Mädchen dreizehn Jahre alt werden, wenn jemand stirbt. Der Daba muss kommen, wenn jemand ein Haus baut, die Feuerstelle im Großmutterraum geweiht werden soll oder zwei Menschen heiraten. Während die Lamas und Mönche auf Tibetisch beten, führen wir Dabas unsere Rituale in Mosuo aus, unserer eigenen Sprache, sodass alle verstehen, was geschieht.«

Er drückte die Zigarette aus und zündete sich eine neue an.

»Kranke Menschen suchen mich ebenfalls auf. Ich kann keine Krankheiten kurieren, aber ich kann herausfinden, warum Menschen krank sind, und wenn ich verstanden habe, warum sie krank sind, kann ich die Ursache entfernen. Wenn sie zum Beispiel ein Erdelement beleidigt haben, kann ich eine Passage zu dem Erdelement öffnen und das unsichtbare Gleichgewicht wiederherstellen. Ich habe auch Kontakt zu den Geistern der Vorfahren und zu all den übrigen Geistern, die uns umgeben. Wir Mosuo glauben, alles in der Natur hat einen Geist und einen Beschützer.«

»Warum wurden Sie Daba?«, wollte ich wissen.

»Ich hatte einen entfernten Verwandten, der Daba war. Von ihm habe ich gelernt«, beantworte La’nji kurz meine Frage.

»Muss man besondere Eigenschaften haben, um Daba werden zu können?«

»Natürlich«. Er drückte die Zigarette aus, trat sie in die schwarze Erde und zündete sich eine neue an.

»Wie führen Sie Ihre Rituale aus?«

»Ich singe und forme Tsampa-Figuren.« Er blies einen Rauchring und verfolgte ihn mit den Augen, bis er verschwunden war. »Eine einzige Figur kann viele verschiedene Geister symbolisieren. Als Daba kümmere ich mich um die gesamte Gemeinschaft hier am Lugu-See; ich stehe allen bei, die mich brauchen. Am späteren Nachmittag muss ich eine Zeremonie für die Tote vor dem Dorf ausführen, in der Natur. Sie können kommen und zusehen.«

Einige Stunden später folgten wir der Straße aus dem Dorf hinaus bis zu der Stelle, wo das Ritual stattfinden sollte. An einem Berghang saß La’nji auf einer Plane, und direkt unter ihm, auf derselben Plane, saßen sieben junge Männer, die Bier tranken, Karten spielten und rauchten. Neben ihnen brannte ein lebhaftes kleines Feuer.

Der Daba leierte Texte herunter und verschob die Tsampa-Figuren. Es sah nicht so aus, als würde er sich in irgendeiner Form von dem Lärm der Bier trinkenden Jugendlichen stören lassen, die das Ritual keineswegs verfolgten, sondern mit sich selbst beschäftigt waren. Hin und wieder verschob ein Helfer eine der Figuren ein paar Meter den Hang hinauf oder stellte sie an einer bestimmten Stelle im Gras ab.

»Ich bin dabei, die Passage zum Heim der Vorfahren zu öffnen«, informierte uns La’nji, als er sein Psalmodieren unterbrach. »Die Tsampa-Figuren repräsentieren die verschiedenen Geister, den Berggeist, den Wassergeist, den Windgeist und so weiter. Wir warnen sie alle, dass die Großmutter auf dem Weg ist, und bitten sie, sie zu empfangen und ihr morgen zum Heim ihrer Vorfahren zu helfen. Traditionsgemäß müssen mindestens sieben Jungen oder Mädchen anwesend sein, wenn dies passiert, und sie müssen betrunken sein, wenn sie nach Hause kommen. So ist die Tradition.«

Die Verbrennung des Leichnams sollte am frühen nächsten Morgen stattfinden, an einer etwas höher gelegenen Stelle des Berghangs.

Dicker Rauch stieg von dem kleinen Feuer auf. Etwas weiter entfernt wurde ein größeres Feuer vorbereitet. Die Opfergaben der Verwandten lagen auf den Holzscheiten bereit; jedes Geschenk war für einen bestimmten Geist ihrer Vorfahren gedacht. Daneben lagen drei Stoffstreifen im Gras, ein schwarzer, ein grüner und ein blauer. Wenn der Tote ein sündiges Leben geführt hatte, musste die Seele dem schwarzen Pfad folgen. Der grüne Pfad war für die Seelen, die ein eher durchschnittliches Leben geführt hatten, während der blaue Stoffstreifen den Weg für Seelen symbolisierte, die ein »anderes« Leben geführt hatten – was immer das bedeuten mochte.

Leichter Regen fiel vom Himmel und legte sich wie frischer Tau über das Gras, die Tsampa-Figuren, den Schamanen, seine Helfer, die sieben jungen Männer und die leeren Bierbüchsen.

Am späten Nachmittag ging ich ein letztes Mal in das Haus der Verstorbenen, bevor ich den Lugu-See und die Berge verließ und von dem neuen Flugplatz in Richtung Westen nach Hause flog. Der Himmel war dunkelblau, die Sonne ging allmählich unter.

Der wichtigste Lama der Mosuo, ein älterer Mann mit einer großen gelben Kappe auf dem Kopf, stand vor dem Altar, umgeben von Mönchen und knienden Angehörigen. Er psalmodierte andächtig. Seine Aufgabe war es, die Passage zu öffnen, durch die die Seele der Verstorbenen musste, bevor sie das Paradies erreichte oder eventuell neu geboren wurde.

Zur gleichen Zeit war der Daba einige Kilometer entfernt am Berghang dabei, eine andere Passage zu öffnen, zum Urheim der Vorfahren.

Zwei Passagen wurden also parallel geöffnet, doch das schien niemand seltsam zu finden. Die Seele der Toten war möglicherweise bereits auf dem Weg zum Heim ihrer Vorfahren, vielleicht aber auch auf dem Weg ins Paradies. Eventuell wurde sie aber auch neu geboren, in einem winzigen Körper am Ufer des Lugu-Sees.

Durch das ovale Fenster des Flugzeugs konnte ich einen letzten Blick auf den Himalaya werfen. Hier oben waren die Berge ebenso blau wie der Himmel und bedeckt von Schnee, Eis und einer dünnen Wolkenschicht. Die Menschen weit unten waren unsichtbar, alles, was ich sah, waren Felsen, Wasser und Luft.

Die Berge wirkten unendlich, dauerhaft, unveränderlich. Trotzdem wusste ich, dass sie auf dem Weg zum Meer sind, Stein für Stein. Ich wusste es, denn ich hatte die großen Flüsse gesehen, die in tiefen Schluchten Sand und Kies auswuschen. Hier oben konnte man auch nicht sehen, wie der ewige Schnee schmilzt und die Gletscher abtauen, immer schneller und schneller. Aber ich hatte es gesehen. Und dort unten im Tal, so hatte ich es gesehen, bahnen sich neue Straßen ihren Weg wie Lindwürmer aus schwarzem Asphalt, auf deren Rücken die Modernität reitet. Ich hatte es gesehen. Ich hatte die Abwanderung der Menschen gesehen und die Mobiltelefone, die in den Bergdörfern des Himalaya mit dem gleichen verlockenden, öden Schein in dunklen Abenden leuchten wie überall, wo sich Jugendliche treffen. Alles verändert sich, immer.

Das Kleine wird vom Großen geschluckt, kleine Königreiche verschwinden; enge, geschlossene Täler öffnen sich, und die Welt strömt hinein, hier wie überall. In einem solchen Tal stoßen die Interessen eines Weltimperiums brutal auf die Interessen eines anderen, und was geschieht dann mit den Menschen, die in diesem Tal leben? Ich hatte Unterdrückung und Freiheitsdrang gesehen, Pessimismus und Optimismus, religiösen Zwang und tiefe Frömmigkeit, Intoleranz und Aufklärung, Verzweiflung und Ekstase.

Das Kleine wird vom Großen geschluckt, aber das Kleine lebt weiter, so gut es kann. Es gibt so viele Arten zu leben! Das konnte man von hier oben aus nicht sehen, aber ich wusste es, denn ich hatte es gesehen. Die vielen, vielen kleinen Leben zwischen den massiven, hohen Bergen. Auch das langsame Wachsen und die Erosion der Berge kann man nicht sehen, und man kann die unendlich langsamen Bewegungen der tektonischen Platten nicht sehen, wenn sie aneinander stoßen.

Von hier oben waren nur Berge und Wolken zu sehen.