Kapitel 4

»Rufst du, wenn etwas ist?«, höre ich meinen Vater unten an der Treppe sagen.

»Ja.«

»Möchtest du wirklich nichts essen? Oder trinken?«

»Nein.«

»Okay, wir schauen gleich noch einmal nach dir.«

Ich schließe meine Zimmertür hinter mir – gerade ein bisschen lauter als notwendig – und lehne mich an die Wand. Endlich allein. Ich schaue mich in meinem Zimmer um, registriere den Berg Schmutzwäsche auf dem Boden, die Fotos auf meinem Schreibtisch, das Waschbecken, randvoll mit Kosmetika, die Schuhsammlung unter meinem Bett. Das ist mein Leben, und es sollte mich beruhigen. Aber das tut es nicht. Mir ist schwindelig, mein Kopf fühlt sich seltsam leicht an, die genähte Wunde schmerzt.

Was um Himmels willen ist in diesem Park passiert?

Ich versuche mich zu konzentrieren und kneife die Augen fest zusammen im Versuch, ein paar Stunden in der Zeit zurückzugehen: Ich sehe mich wieder durch den Park laufen, die Brücke überqueren. Ich spüre den Regen auf der Haut, den Wind im Gesicht. Irgendwo am Rande meines Bewusstseins sehe ich, wie sich etwas bewegt. Es ist noch weniger als die Andeutung eines Schattens. Und dann wird es plötzlich dunkel, als würde das Licht ausgehen. Jemand ruft: »Mädchen! Mädchen, schau mich mal an!«, und zieht an meinem Arm.

Alles dazwischen ist weg. Verschwunden. Die Polizei denkt morgen wahrscheinlich, dass ich komplett irre bin ... Oh, bitte, Nikki, hör auf, es ist nicht deine Schuld, was da passiert ist.

Meine Beine zittern, als ich zu meinem Schreibtisch gehe. Ich setze mich auf den Stuhl und starre die Wand mit den Dutzenden von Fotos und Polaroids an. Es sind so viele, dass sie kreuz und quer übereinander hängen. Ein Foto von Lisa und mir, auf dem wir uns lachend umarmen. Ein Foto vom Tanzturnier: Mein Team hatte den ersten Preis gewonnen. Die Klassenfotos vom letzten Jahr. Die Berlin-Exkursion.

Ich lache auf allen Fotos. Auf dieser Fotowand wirkt mein Leben perfekt. Aber das ist nur Schein ...

Ich wende den Blick von den Fotos ab und nehme mein Handy. Blind tippen meine Finger das Passwort ein, und der Bildschirm erwacht. In einer fließenden Bewegung öffne ich WhatsApp. Der Chat mit Lisa steht ganz oben. Die letzte Nachricht habe ich ihr heute Abend um acht Minuten vor sieben geschickt, nachdem wir fast eine Stunde gechattet hatten:

Fck, Zeit vergessen 😲 Muss los, Tanztraining ♥♥

😂😂😂 Omg, Nikki, das schaffst du im Leben nicht mehr, nerddd

Es schien ein so normaler Abend zu sein. Aber innerhalb von zwei Stunden hat sich die Welt verändert. Ich denke lange nach, bevor ich Lisa schreibe:

Ich hatte einen Unfall und war im Krankenhaus! 😬😬 Aber jetzt bin ich wieder zu Hause.

Es erscheinen keine blauen Häkchen hinter der Nachricht. Lisa ist offline. Kurz schließe ich die Augen. Ich hatte so gehofft, dass sie da wäre ...

In meinen Kontakten scrolle ich runter zu Timo und drücke auf das Telefonsymbol hinter seinem Namen.

Es läutet durch, aber er geht nicht dran, und ich rufe sofort noch einmal an. Meine Hände zittern, während ich seiner Stimme auf der Voicemail lausche: »Jo, ich bin nicht da. Sag was nach dem Piep, dann rufe ich dich vielleicht zurück.«

Ich widerstehe dem Drang, eine hysterische Nachricht zu hinterlassen, und schreibe ihm stattdessen auf WhatsApp:

Es ist was Schlimmes passiert ...

Aber auch er ist nicht online.

Ich lehne mich zurück und schalte mein Handy aus. Mein Kopf tut so weh, dass ich kurz vorm Zusammenklappen bin. Ich sollte lieber schlafen gehen.

Von unten höre ich Fetzen des Streits zwischen meinen Eltern.

»Warum muss ich immer ...«, ruft meine Mutter.

»Verdammt, Sabine!«, brüllt mein Vater. »Nicht alles ist meine Schuld ...«

»Kannst du dich nicht ein einziges Mal entschuldigen ...«

Sie haben es genau eine Stunde geschafft, nett zueinander zu sein. Vielleicht muss ich erst wirklich ermordet werden, damit sie aufhören, sich zu streiten. Manchmal benehmen sie sich wie zwei kleine Kinder. Wie kann es sein, dass ich mich erwachsener fühle als meine eigenen Eltern?

Ich glaube, dass sie die Küchentür geschlossen haben, der Streit ist plötzlich leise und nicht mehr zu verstehen. Zum Glück ...

Ich stehe von meinem Schreibtischstuhl auf und bewege mich Richtung Bett. Erst nach zehn, fünfzehn, zwanzig Sekunden sehe ich es. Auf meinem weißen Boden ist der Abdruck einer Schuhspitze. Und als ich genauer hinschaue, sehe ich noch mehr. Die Abdrücke verlaufen von der Tür zum Schreibtisch, zum Fenster und wieder zurück – oder umgekehrt –‍, und es wirkt, als habe jemand versucht, den Boden nicht schmutzig zu machen, und sei deswegen auf Zehenspitzen gelaufen. Ich überprüfe die Sohlen meiner eigenen Schuhe, aber die sind sauber.

Ich halte den Atem an, bis ich keine Luft mehr habe. Wer ist in meinem Zimmer gewesen?

Deine Mutter, Nikki. Wahrscheinlich hat sie saubere Wäsche in deinen Schrank gelegt. Oder das Fenster zum Lüften einen Spalt hochgeschoben.

Ja, so etwas muss es sein. Ich lasse den Atem wieder entweichen und gehe zum Fenster. Von meinem Zimmer aus wirkt der Garten wie ein schwarzes Loch. Ein paar Sekunden starre ich in die Finsternis. Dann schiebe ich das Fenster schnell zu, aus Angst, es könnte jemand hereinklettern. Ich schließe die Vorhänge, und die Dunkelheit verschwindet. Mit wenigen Schritten bin ich bei meinem Bett und lege mich hinein, die Knie bis zur Brust hochgezogen. Dieser grässliche Tag ist fast vorbei. Morgen ist alles wieder normal.

Und was ist mit dem Mädchen in der Klinik?

Es bleibt still in meinem Kopf. Ich kneife die Augen fest zusammen. Ich höre das Wummern meines eigenen Bluts. Laut und anschuldigend. Und was ist mit dem Mädchen?