Manouk

Angestrengt lausche ich. Knarrt etwas auf dem Flur? Ist jemand auf dem Weg zu meinem Zimmer?

Es bleibt still. Schön. Wenn meine Mutter jetzt reinkommt, habe ich ein Riesenproblem. Sie hat mich sofort nach oben geschickt, als ich eben nach Hause kam, damit ich meine Mathehausaufgaben mache, als wäre ich eine Verbrecherin, weil ich in Mathe eine Sechs habe. Wahrscheinlich sieht sie jetzt mit meinem Vater fern, und sie haben mich längst wieder vergessen, wie immer.

Ich tauche den Pinsel in den hellrosa Nagellack und lackiere vorsichtig den Nagel meines rechten Zeigefingers. Erst die Mitte, dann die Ränder. Ich versuche, das Pflaster auf meiner Hand zu ignorieren und ...

Der Piepton einer reinkommenden Nachricht ist so laut, dass ich mich erschrecke. Meine Hand zuckt, und der Pinsel trifft die Seite meines Mittelfingers. Shit. Verärgert wische ich den Nagellack mit einem Kosmetiktuch ab, bevor ich nachsehe, von wem die Nachricht ist. LISA, steht auf meinem Display. Mit der Spitze meines Zeigefingers tippe ich mein Passwort ein und öffne die Nachricht.

Hast du es schon gehört? Nikki hatte heute Abend einen Unfall 😱

Sekundenlang starre ich reglos auf den Text. Und dann dreht sich mir der Magen um.

Wtf? Scherz?

Mit zitterndem Finger tippe ich auf Senden.

Innerhalb einer Sekunde kommt die nächste Nachricht rein, aber ich kenne die Antwort schon:

Nein 😰

Ich atme ein paarmal tief durch, um ruhiger zu werden. Und dann rufe ich Lisa an.

»Ist sie in Lebensgefahr?«, frage ich, als sie abhebt. Es klingt idiotisch, lächerlich. »Was ist passiert?«, fahre ich leise fort.

»Das weiß ich nicht«, antwortet Lisa mit einem Schluchzen in der Stimme. »Ich habe vor einer Stunde eine Nachricht von Nikki bekommen. Sie hätte einen Unfall gehabt ... aber sie hatte Tanztraining, und dann hätte sie im Krankenhaus gelegen oder so ähnlich ...«

Lisa springt vom Hölzchen aufs Stöckchen, aber trotzdem verstehe ich es. »Wie schlimm ...«, flüstere ich.

»Warum sprichst du so leise?«, fragt sie. »Ich kann dich fast nicht verstehen.«

»Meine Mutter glaubt, dass ich Hausaufgaben mache.«

»Oh.«

Die eintretende Stille füllt meinen ganzen Kopf. Ich höre Lisa schwer atmen.

»Ich versuche schon die ganze Zeit, Nikki anzurufen, aber sie geht nicht dran. Ich mache mir solche Sorgen. Was sollen wir denn nur machen?«, fragt sie heiser.

Mir würden tausend Dinge einfallen, aber ich sage das einzig Logische: »Ich glaube, wir müssen warten, bis Nikki uns anruft. Vielleicht schläft sie jetzt.«

»Ja, ja, du hast recht.« Sie fängt an zu weinen.

Ich sitze mit dem Telefon am Ohr da und höre Lisa zu, wie sie weint. Um Nikki.

Es bleibt still. Offenbar wartet Lisa darauf, dass ich etwas sage, um sie zu trösten.

»Es wird ganz sicher wieder gut«, sage ich mit belegter Stimme. »Vielleicht hat sie sich nur beim Tanzen den Knöchel verstaucht.« Ich kann meine eigenen Worte kaum verstehen, so laut wummert das Blut in meinen Ohren.

»Meinst du?«, fragt sie hoffnungsvoll.

Ich zucke mit den Schultern, aber das sieht sie natürlich nicht.

»Rufst du mich an, wenn du etwas von Nikki hörst?«, fragt sie.

Das scheint mir zwar nicht sehr wahrscheinlich, aber ich antworte: »Ja, klar. Du mich auch, okay?«

»Ja ...«

Lisa legt auf. Ich lausche dem Freizeichen und denke darüber nach, was sie gesagt hat. Nikki hatte einen Unfall ... Es wäre gelogen, wenn ich behaupten würde, dass ich darüber traurig wäre. Oder besorgt. Ich muss lächeln – und das macht mir selbst Angst. Man könnte auch sagen, all meine Probleme haben erst mit Nikki angefangen.