Kapitel 5

Ich laufe durch den Park. Es ist dunkel, und es regnet, weswegen ich fast nichts sehe. Aber ich bin mir sicher, dass ich nicht allein bin. Da ist noch jemand, jemand, den ich nicht sehen kann. Die Dunkelheit verändert sich zwischen den Bäumen. Ich will wegrennen, fliehen. Meine Beine bewegen sich, aber ich komme keinen Meter voran. Jemand schreit. Bin ich das? Ich fange an zu weinen und weiß, dass ich überhaupt keine Chance habe. Als die Gestalt aus dem Dunkel tritt, werde ich schweißgebadet wach.

Auf dem Wecker sehe ich, dass es fünf Uhr ist. Ich sitze aufrecht im Bett und lausche der Stille. Höre ich etwas? Ein leises Rascheln unter meinem Fenster? Vielleicht läuft der Hund der Nachbarn durch unseren Garten. Aber warum sollte das Tier so früh draußen sein? Irgendwo im Haus knarrt etwas, und ich erstarre. Oder sind es nur mein Vater oder meine Mutter, die mich wieder wecken, um zu sehen, ob mit meinem Kopf alles in Ordnung ist?

Nach einigen Sekunden wird es wieder still. Ich knipse meine Nachttischlampe an und lasse den Blick durchs Zimmer wandern; alles steht an seinem Ort, nichts ist verschoben. Aber trotzdem fühlt es sich an, als würde etwas nicht stimmen. Als würde nichts mehr stimmen.

Was um Himmels willen ist in diesem Park passiert? Und warum?

Plötzlich breche ich in Tränen aus. Es ist auch viel zu leicht, sich um fünf Uhr nachts niedergeschlagen und verängstigt zu fühlen. Mein Schlafshirt klebt an meinem Rücken. Zitternd ziehe ich die Decke hoch.

Könnte ich doch nur zu meinen Eltern! Aber ich habe meinen Vater gegen halb elf mit großen Schritten ins Gästezimmer auf der anderen Seite des Flurs wechseln und die Tür laut hinter sich schließen hören. Und dann habe ich eine ganze Weile nichts mehr gehört. Erst eine halbe Stunde später kam meine Mutter leise die Treppe hinauf, als wäre sie eher traurig als wütend. Als sie mich vorsichtig weckte, schien sie sogar zu weinen. Ich habe so getan, als wäre ich schlaftrunken und würde nichts merken.

Wenn ich jetzt zu meinem Vater gehe, glaubt meine Mutter, ich würde mich auf seine Seite stellen. Und umgekehrt genauso. Also bleibe ich aufrecht im Bett sitzen, die Decke bis zur Nasenspitze hochgezogen, und warte, bis die graue Morgendämmerung durch die Vorhänge kriecht.

Um sieben schleiche ich mich ins Badezimmer. Ich habe bohrende Kopfschmerzen und schlucke zwei Tabletten. Aus dem Spiegel starrt mich eine Art Leiche an, mit weißem Gesicht, Ringen unter den Augen und in alle Richtungen abstehenden Haaren. Ich wusste gar nicht, dass ich so schlecht aussehen kann. Ich würde mich zu Tode schämen, wenn ich so zur Schule müsste.

Ganz vorsichtig kämme ich mir die Haare und binde sie zu einem Pferdeschwanz, damit die kahle Stelle auf meinem Kopf nicht auffällt. Ich traue mich nicht zu duschen, aus Sorge, dass die Wasserstrahlen an der Wunde wehtun. Unter den Augen trage ich eine Deckschicht zum Kaschieren auf, und danach eine Foundation, Puder, Kajal, Lidschatten, Mascara, Lipgloss.

Es dauert mehr als zwanzig Minuten, bis ich wieder ein bisschen so aussehe wie ich selbst. Ich schneide meinem Spiegelbild eine Grimasse und gehe in mein Zimmer zurück. Dort wähle ich sorgfältig aus, was ich anziehe: eine schwarze Jeans, einen schwarzen kurzen Pulli, eine Jeansjacke. Meine schwarzen All Stars, und fertig. Von meinem Schreibtisch nehme ich mein Handy und schalte es ein. Das Display füllt sich mit verpassten Anrufen und Nachrichten. Lisa hat mich gestern Abend viermal versucht anzurufen. Und ich habe eine Nachricht von Timo auf der Mailbox ...

Hastig rufe ich meine Mailbox an.

»Hey, Nikki, tut mir leid, aber ich hatte Training, und danach sind wir noch was trinken gegangen mit äh, mit allen.« Er schweigt kurz. »Was ist denn passiert? Nichts Schlimmes, oder?« Es bleibt wieder einige Minuten still. »Hör mal, ich geh pennen, sonst flippt meine Mutter aus. Wir sprechen uns morgen, okay? Oder komm nach der Schule zu mir.«

Die Nachricht endet, und ich lege auf. Ich werde ihm heute Mittag erzählen, was passiert ist.

Langsam gehe ich die Treppe hinunter in die Küche. Am Küchentisch sitzen meine Eltern. Sie lächeln und tun so, als säßen sie gemütlich zusammen. Glauben die wirklich, ich kriege das nicht mit?

»Guten Morgen, Liebes«, sagt meine Mutter. »Wie hast du geschlafen? Haben dich unsere nächtlichen Besuche nicht zu sehr gestört?«

»Nein, nein, ich habe fast nichts davon gemerkt«, sage ich nach einem leichten Zögern und nehme eine Packung Orangensaft aus dem Kühlschrank. Ich habe keine Lust, mich zu meinen Eltern an den Tisch zu setzen.

»Wie fühlst du dich jetzt?«, fragt sie.

Diesmal kommt meine Antwort schnell: »Oh, prima.«

Sie mustert mich mit gerunzelter Stirn, als würde sie meine Antwort nicht glauben.

»Ich gehe gleich zur Schule«, sage ich, bevor sie noch etwas sagen kann.

»Schule? Das halte ich nicht für vernünftig, Nikki«, sagt sie langsam. »Du hast eine Gehirnerschütterung. Bleib wenigstens heute zu Hause. Ich habe mir einen Tag freigenommen.«

»Ich gehe zur Schule«, wiederhole ich störrisch. »Der Arzt hat gesagt, ich darf ganz normal meine Sachen machen, wenn ich mich gut fühle.« Die Wahrheit ist, dass ich es hier zu Hause keinen Tag länger mit meinen Eltern aushalte, und schon gar nicht mit meiner Mutter.

»Dann geh ruhig zur Schule«, sagt mein Vater zu mir. »Ruf an, wenn es nicht geht, dann hole ich dich ab.«

»Okay«, sage ich leise und schaue weder meinen Vater noch meine Mutter an.

»Seit wann entscheidest du solche Dinge allein?«, fragt meine Mutter in gereiztem Ton. »Dieser Arzt meinte wirklich nicht, dass sie gleich wieder zur Schule gehen soll.«

»Hör bitte auf, Sabine. Mach doch nicht aus allem so ein Problem.«

Und schon sind sie wieder dran. Ich schnappe mir eine Banane aus der Obstschale und gehe in den Flur. Mit einem Knall ziehe ich die Küchentür hinter mir zu.

Wahrscheinlich streiten sie weiter, aber wenigstens höre ich es nicht mehr.

Als ich meine Jacke anziehe, kommt meine Mutter in die Diele.

Sie lächelt mich an, als wäre damit alles gelöst.

»Nikki, vergisst du bitte nicht, dass du heute Nachmittag einen Termin auf der Polizeidienststelle in der Van Leijenberghlaan hast? Du kannst gleich nach der Schule mit dem Rad hinfahren, der Termin ist um Viertel vor vier.« Ihre Stimme klingt müde.

»Das weiß ich, Mama«, sage ich und ziehe den Reißverschluss meiner Jacke hoch. Ich bin nicht in der Stimmung für ein gemütliches Schwätzchen.

»Möchtest du, dass ich dich nachher zur Polizei begleite?«, fragt sie.

»Nein.« Ich schüttle den Kopf.

Ihr Miene erstarrt. Für eine Sekunde glaube ich, dass sie auch auf mich sauer wird. Aber dann zuckt sie mit den Schultern. »Wie du willst, Liebes«, sagt sie übertrieben freundlich und wendet sich wieder in Richtung Küche um. »Ich rufe aber den Konrektor an, um ihm von gestern Abend zu berichten. Dann weiß er Bescheid, wenn du dich nicht gut fühlst, okay?«

»Okay«, murmele ich und laufe nach draußen.

Es ist fast halb neun, und auf dem Schulhof trödeln noch ein paar Schülergrüppchen. Ich höre lautes Rufen und Lachen.

Plötzlich passiert etwas Verrücktes. Gesichter verschwimmen, und mir wird schwindelig, als würde ich gleich in Ohnmacht fallen. Die Strecke bis zum Haupteingang kommt mir auf einmal unendlich lang vor. Ich kann das nicht, ich ...

Jetzt stell dich nicht so an, Nikki! Du musst einfach gehen. Beweg deinen Fuß, setz ihn vor den anderen. Mach dir nichts aus den Leuten. Sie rufen anderen Schülern was zu, nicht dir. Niemand achtet auf dich. Niemand weiß, was gestern Abend passiert ist.

Ich hole tief Luft und setze mich in Bewegung. Mit erhobenem Kopf gehe ich zum Haupteingang, durch die Drehtür, in die Aula, zum Matheraum.

Geschafft.

Ich wische meine feuchten Hände an der Jeans ab und trete über die Schwelle. Es ist, als hätten meine Mitschüler nur auf diesen Moment gewartet. Es wird mucksmäuschenstill, und alle starren mich an. Manouk und Lisa stürzen auf mich zu und umarmen mich noch in der Tür.

»Oh mein Gott, du bist hier!« Lisas Stimme zittert.

»Wir dachten, du würdest vielleicht zu Hause bleiben«, sagt Manouk hastig. »Dass du schlimm verletzt wärst.«

»Du hast uns so erschreckt«, sagt Lisa leise.

Eine Stille tritt ein, in der wir anfangen zu lachen.

»Komm.« Lisa fasst mich an der Hand und zieht mich mit zu unserem Platz hinten in der Klasse. Manouk kommt hinter uns her.

Ich spüre, dass alle mir mit den Blicken folgen. Seit ich nach den Sommerferien in diese Klasse gekommen bin, habe ich eine Art unerklärliche Popularität erlangt. Als würden sie mich dafür bewundern, dass ich sitzen geblieben bin. Ganz ehrlich? Daran gewöhnt man sich schnell.

Ich plumpse auf meinen Stuhl neben Lisa. Manouk setzt sich auf ihren Platz vor uns und schirmt mit ihrem Rücken einen Teil der Klasse ab. Aber ich weiß, dass alle mithören.

»Ich dachte, ich kriege einen Herzinfarkt, als ich gestern Abend deine Nachricht gelesen habe«, sagt Lisa. »Es tut mir so leid, dass ich nicht gleich geantwortet habe, aber Bas hatte wieder sein Fußballteam mit nach Hause gebracht, und der Lärm hat mich verrückt gemacht. Sorry, wirklich, tut mir leid!« Sie entschuldigt sich immer wieder, als hätte sie etwas ganz Schlimmes getan.

»Ach, Lisa, das macht doch nichts«, sage ich. »Ist ja keine große Sache.«

Sie nickt nach einem leichten Zögern. »Ich habe es auch gar nicht verstanden. Was ist denn nun genau passiert?«

Ich schließe die Augen, denke kurz nach und fange dann am Anfang an. Dass ich ziemlich spät dran war fürs Tanztraining und deshalb durch den Park lief. Dass es regnete und dunkel war. Dass dort keine anderen Leute waren. Dass ich zwischen den Bäumen hindurch zur Wiese ging. »Das ist das Letzte, woran ich mich erinnere. Wahrscheinlich hat mich jemand mit etwas Hartem niedergeschlagen.« Vorsichtig schiebe ich die Haare zur Seite, damit Lisa und Manouk meine Wunde sehen können.

Ich höre, wie sie die Luft anhalten. Und der Rest der Klasse auch, so stelle ich es mir jedenfalls vor, denn es ist noch immer mucksmäuschenstill.

»Ach du Scheiße!« Lisa stößt ihren Atem aus.

»Ein Passant hat mich bewusstlos gefunden und einen Rettungswagen gerufen«, fahre ich leise fort. »In der Klinik haben sie meine Wunde genäht, und dann durfte ich wieder nach Hause.« Ich starre auf meine Hände, die wie zwei fremde, reglose Häufchen auf dem Tisch liegen.

Lisa räuspert sich. Ihre Augen glänzen im Neonlicht. »Aber ... Aber wer hat dich denn bewusstlos geschlagen? Und warum?«

Ich zucke mit den Schultern.

»Hat man dir den Geldbeutel geklaut?«, fragt Manouk.

Ich schüttle den Kopf.

»Das wäre ja auch richtig kacke!«, ruft Manouk. »Ist schließlich erst ein paar Monate her, dass er dir beim Sport geklaut wurde von dieser marokk...«

»Hallo, komm schon, fängst du jetzt wieder davon an?«, fragt Lisa mit gehobenen Augenbrauen. Ich höre sie fast denken: Als wäre das hier keine Megakacke ...

Arme Manouk, denke ich. Sie hat eine Gabe, immer die falschen Dinge zu sagen, aber sie meint es gut.

»Dieser Mann ... Er ... Er hat dich doch nicht ...«, fragt Lisa leise.

Ich verstehe sofort, was sie meint. »Nein, zum Glück nicht.«

Sie nickt erleichtert.

»Aber er hat wohl ein anderes ... Da war auch ein ...«

»Vielleicht ist es ja eine Art Selbstschutz vom Gehirn, dass du alles vergessen hast«, unterbricht mich Manouk, gerade als ich von dem anderen Mädchen erzählen will. »Dass es einfach zu heftig ist, um es zu behalten.«

»Was? Äh, ja, vielleicht.« Ich schaue zu ihr hinüber. »In der Klinik sagten sie, ich hätte eine Gehirnerschütterung und es käme wohl davon.«

Manouk legt lächelnd ihre Hand auf meinen Arm. Ich betrachte ihre rosa lackierten Fingernägel. Und dann entdecke ich den Schnitt, der von ihrem Zeigefinger zum Daumen läuft.

Manouk sieht meinen Blick, und wir starren beide auf ihre Hand. Dann zieht sie sie weg. »Kleiner Unfall mit einem Brotmesser«, sagt sie mit einem dümmlichen Grinsen. »Ich wollte gestern ein Baguette schneiden.«

Lisa ignoriert Manouks Bemerkung und sagt zu mir: »Ich hoffe so sehr, dass dein Gedächtnis wiederkommt. Für mich wäre es ein Albtraum, nicht mehr zu wissen, was passiert ist.«

»Danke, Lisa.« Ich versuche erfolglos zu lächeln.

Rechts neben mir höre ich einen Stuhl, der über den Boden schrappt. Ich schaue zur Seite. Oh nein, Sidney hat sich zu uns rumgedreht. Von Anfang an habe ich ihn für einen selbstgefälligen Arsch gehalten. So ein Typ, der denkt, dass alle Mädchen in ihn verknallt sind. Auf einem Schulfest im Oktober hat er versucht mich zu küssen, aber ich habe ihm gesagt, da würde ich lieber einen Mülleimer auslecken. Und das hat die halbe Klasse gehört ...

»Es stand auch auf der Homepage von TV AT5«, sagt er und fixiert mich mit dem Blick.

»Oh, echt?«, versuche ich möglichst cool zu antworten.

»Yep.« Er nickt. »Zwei Mädchen angegriffen in De Braak.«

Ein paar erstaunte Ausrufe. »Häh? Gleich zwei?«, sagt jemand. »Wie kann das denn sein?«

Sidney lehnt sich mit einem starren Grinsen zurück. »Da stand, eins der Mädchen sei leicht verletzt. Das musst dann wohl du sein.« So wie er es sagt, klingt es herablassend, so als würde ich mich anstellen. »Das andere Mädchen liegt noch immer schwer verletzt im Krankenhaus.«

Plötzlich ist die Stimmung angespannt. Alle starren mich an.

»Äh, ja, von dem anderen Mädchen wollte ich ja gerade erzählen«, sage ich schnell, aber ich höre selbst, wie unglaubwürdig das klingt. »D-doch ich weiß nicht, wer sie ist, denn ich kenne sie nicht.«

»Aber was hat sie dann da gemacht?«, fragt Lisa verblüfft.

»Wahrscheinlich lief sie auch durch den Park oder so«, murmele ich, ohne sie anzuschauen.

Es bleibt sehr lange still. Schließlich sagt Lisa: »Was für ein Idiot, gleich zwei Mädchen anzugreifen. Ich hoffe, sie finden den Irren bald und sperren ihn für immer weg.«

Alle fangen an zu nicken – ja, das hoffen alle –, und die seltsame Spannung löst sich. Vielleicht habe ich es mir ja auch nur eingebildet. Und dann kommt der Mathelehrer rein, und keiner achtet mehr auf mich.

Der Lehrer sagt etwas über Seite sechzig und die Lösung von Differenzialgleichungen, aber es gelingt mir nicht, weiter zuzuhören.