Kapitel 8

Ich dachte, meine Mutter wäre zu Hause, aber sie ist nicht da. Das Haus ist dunkel und still, und niemand antwortet, als ich »Hallo« rufe. Dann muss ich mich wohl wieder mit mir selbst begnügen. Allmählich wird das zur Gewohnheit.

Ich werfe meine Jacke auf den Boden und gehe ins Badezimmer. Dort nehme ich eine Schachtel Paracetamol aus dem Schränkchen, drücke zwei Tabletten aus dem Blister und spüle sie mit einem großen Schluck Wasser hinunter. Für ein paar Sekunden schließe ich die Augen.

Seufzend gehe ich in mein Zimmer. Die Vorhänge sind immer noch geschlossen, aber ich ziehe sie weit auf. Graues Dämmerlicht fällt hinein und lässt mein Zimmer kalt und ungemütlich aussehen. Ich setze mich an den Schreibtisch.

Manchmal habe ich fast vergessen, wie es früher bei uns zu Hause war. Ich habe nur noch vage Erinnerungen daran, wie meine Mutter meinen Vater lachend durch den Flur verfolgte. An einen Urlaub in Frankreich, in dem immer die Sonne schien. An meinen Vater, der mich hochhob und auskitzelte.

Ganz allmählich ist das alles verblasst. Meine Mutter jammert jetzt über alles, vor allem über Dinge, die mein Vater tut. Oder eigentlich nicht tut. Und mein Vater ist den größten Teil der Zeit weg. Vielleicht ist er ja bei einer anderen Frau, ich habe keine Ahnung.

Und ich? Ich funktioniere. Ich tue so, als würde mich das alles nicht interessieren. Meine Eltern streiten den ganzen Tag, aber was geht mich das an?

Ich starre hinaus. Mein Handy piept in der Hosentasche, und ich fische es heraus. Irgendwie hoffe ich ja, dass es Timo ist, aber auf dem Display steht Lisas Name. Ich öffne ihre Nachricht:

Hey, Nikkiiii, hab dich vermisst @Starbucks. Wie geht es deinem Kopf jetzt? Dicken Kussss 😘

Ich lächle und schreibe zurück:

Mwah ... 😌

Ganz kurz zögere ich, dann tippe ich:

Ich war gerade bei Timo ... 🙈

Ein paar Sekunden lang passiert nichts. Dann ploppt ein neuer Textballon auf:

Omfg, Nikki, im Ernst? 😱

Und sofort danach:

Aber du hattest doch Kopfschmerzen?

Das steht da ein wenig beschuldigend. So nach dem Motto: Und warum bist du dann nicht mit uns mitgegangen? Mist, diese Reaktion hatte ich nicht erwartet.

Jaaaa, aber ich hatte noch nicht mit Timo über den Unfall gesprochen, verstehst du?

Das Display bleibt wieder leer, diesmal etwas länger.

Oh, okay, was hat er gesagt?

Was tat er, denke ich. Aber ich traue mich nicht, ihr das jetzt zu erzählen. Das Einzige, was mir einfällt, ist:

Er war wirklich superliebbbb 😊

Ich warte auf Lisas Reaktion, doch plötzlich geht sie offline. Das fühlt sich merkwürdig an, als wollte sie nicht mehr mit mir reden.

Mach dir nicht so einen Kopf, Nikki, ermahne ich mich selbst, wahrscheinlich musste sie nur kurz zum Klo. Oder ihre Mutter kam rein. Oder was auch immer.

Ich warte noch einen Moment.

Und noch ein bisschen länger.

Aber sie kommt nicht mehr online.

Hab dich auch vermisst ♥😊

Das schicke ich noch hinterher, doch die Nachricht bleibt ungelesen.

Seufzend lege ich mein Handy zur Seite und schalte den Computer ein. Der Bildschirm leuchtet auf und wirft seltsame Schatten in mein Zimmer.

Ich könnte jetzt meine Englischvokabeln für morgen lernen. Ich stehe echt auf der Kippe und kann mir unmöglich erlauben, noch einmal sitzenzubleiben. Meine Finger schweben unentschlossen über der Tastatur. Dann öffne ich Google und tippe in den Suchbalken: UNFALL + AMSTELVEEN + DE BRAAK + MÄDCHEN. Ich weiß nicht, warum ich das mache, aber ich drücke auf Enter.

Eine riesige Treffersammlung erscheint. Völlig verblüfft starre ich auf die blauen Links. TV-Sender, Zeitungen, Nachrichtenportale und Plattformen – alle haben darüber geschrieben.

Mit zitternden Fingern klicke ich den Link von TV AT5 an und überfliege den Text.

Zwei Mädchen verwundet nach Messerstecherei in De Braak

Am Sonntagabend gegen 19 Uhr ging bei der Polizei die Meldung über zwei verletzte Mädchen im Stadtpark De Braak in Amstelveen ein. Mehrere Rettungsdienste und ein medizinisches Traumateam waren vor Ort.

Eine 16-Jährige liegt noch immer schwer verletzt in der Universitätsklinik. Sie hat Stichwunden und eine Kopfverletzung davongetragen. Das andere Mädchen wurde noch am Sonntag mit leichten Verletzungen nach Hause entlassen.

Bislang ist unklar, was genau sich im Park abgespielt hat. Die Polizei sucht nach Zeugen des Unfalls. Wer sachdienliche Hinweise geben kann, wird gebeten, sich mit der Polizei in Verbindung zu setzen, und zwar über folgende Telefonnummer: 0900 – 8844.

Gefühlt handelt der Artikel von einer anderen Person, obwohl ich weiß, dass ich »das andere Mädchen« bin.

Mein Blick geht zu dem dunklen Foto, das zum Artikel gehört. Ein Rettungswagen mit weit geöffneten Türen parkt auf einer Wiese, und zwei Sanitäter kauern neben einem Hubbel auf dem Boden. Ich klicke das Foto an, um es zu vergrößern. Das Bild wird körnig. Ich starre trotzdem weiterhin darauf, mein Blick verschwimmt, und in meinen Ohren ertönt ein seltsames Rauschen. Und dann erkenne ich einen kleinen Teil von einem Turnschuh zwischen den Beinen des rechten Sanitäters. Fast unsichtbar, aber er hat verdammt viel Ähnlichkeit mit der Spitze der weißen Turnschuhe, die ich am Sonntag getragen habe ... Mist, bin ich das? Hat jemand ein Foto gemacht, während ich da lag? Ich versuche, mich dort zu entdecken, aber die Sanitäter schirmen mich wie zwei Bodyguards vor dem Fotografen ab.

Ich starre auf den dunklen Hintergrund des Fotos. Undeutlich erkenne ich die Konturen von Bäumen und von etwas, das aussieht wie ein Auto oder ein Bus. Das muss der zweite Rettungswagen sein. Dort liegt das andere Mädchen ... Ich starre auf das Bild, bis meine Augen tränen.

Und dann ist es plötzlich, als würde ich in diesem Foto verschwinden. Es ist finster, und hoch über mir sehe ich Äste, die sich wie ein schwarzes Spinnennetz gegen den Himmel abzeichnen. Irgendwas stimmt nicht mit dem Blickwinkel, aus dem ich die Äste sehe. Es dauert ein paar Sekunden, bis mir klar wird, dass ich auf dem nassen, kalten Gras liegen muss. Aber ich spüre es nicht. Ich spüre nichts mehr. Mein Körper ist gefühllos, als würde er nicht mehr existieren.

Ich höre mich selbst panisch atmen. Die Dunkelheit bewegt sich, und über mir taucht ein Schatten auf. Es sieht aus wie ein Gesicht, aber ich kann weder Augen noch Mund entdecken. Ich habe das schon einmal gesehen. Frag mich nicht, woher ich das weiß, ich weiß es einfach. Langsam nähert sich das Gesicht, bis es nur noch wenige Zentimeter von mir entfernt ist. Verzweifelt versuche ich, meinen Blick scharf zu stellen. Aber noch bevor ich sehen kann, um wen es sich handelt, verschwindet das Gesicht wieder im Dunkeln.

Mein Herz hämmert so fest gegen die Rippen, dass es wehtut, und meine Handflächen sind schweißnass. Könnte das eine echte Erinnerung sein? Aber wer ...

Die Haustür schlägt mit einem Knall zu. Ein paar Sekunden schaue ich wie erstarrt auf den Bildschirm. Dann schalte ich blitzschnell den Computer aus. Ich will nicht, dass das jemand sieht ...

Es ist auf einmal pechschwarz in meinem Zimmer. Regen peitscht gegen das Fenster. Ich höre, dass jemand die Treppe heraufkommt. Ein Brett auf dem Treppenabsatz knarrt. Ich bleibe einfach sitzen. Die Tür zu meinem Zimmer wird langsam geöffnet.

»Nikki, du bist ja zu Hause«, sagt meine Mutter. »Warum sitzt du denn im Dunkeln?« Sie schaltet das Deckenlicht ein.

Ich kneife die Augen für ein paar Sekunden zu. »Ich ... Ich habe nachgedacht«, sage ich heiser.

»Oh.« Sie schweigt kurz. »Worüber denn?«

»M-meine Hausaufgaben.«

Sie hört bestimmt, dass ich lüge, und starrt mich reglos an. Aber dann zuckt sie mit den Schultern. »Das geht doch auch mit Licht, Liebes. Wie war es heute Nachmittag bei der Polizei?«

Ich schließe wieder kurz die Augen, um mich besser zu erinnern. Ich sehe vor mir, wie de Graaf mich mit seinem merkwürdigen Blick anschaut. »Gut, nichts Besonderes«, sage ich.

Sie zieht eine Augenbraue hoch. »Das ist alles? Das ist nicht dein Ernst.« Sie klingt wieder wie meine Mutter, die sich in alles einmischt und nörgelt.

Etwas in mir zerspringt. Plötzlich werde ich wütend. Wütend auf sie! »Ich habe ihnen erzählt, was ich weiß, und das war's, okay?«, schnauze ich.

»Na, entschuldige, dass ich mich danach erkundigt habe«, sagt sie scharf. »Aber du bist meine Tochter. Ich konnte die ganze Nacht nicht schlafen wegen dieser Sache.«

Schweigend sehe ich sie an.

Meine Mutter seufzt tief. Als sie wieder etwas sagt, klingt ihre Stimme viel sanfter. »Wie geht es deinem Kopf? Tut die Wunde noch weh? Wir haben nächste Woche Montag einen Termin im Krankenhaus, um die Fäden ziehen zu lassen, aber wir können auch früher gehen, wenn du Schmerzen hast.«

Ich will ihr Mitleid nicht. Irgendwie ist es viel leichter, wenn sie sauer auf mich ist. »Es geht mir wirklich großartig, und mir tut nichts weh«, schnauze ich sie an. »Und jetzt kümmere ich mich wieder um meine Hausaufgaben«, sage ich und zeige auf meinen leeren Schreibtisch.

»Natürlich.« Sie wirkt niedergeschlagen. »Ich werde dann mal kochen.«

»Wann kommt Papa nach Hause?«

»Oh, gleich, er ist noch auf der Arbeit.«

An ihrem Blick sehe ich, dass sie in Wirklichkeit gar nicht weiß, wo er ist.

»Wir heben ihm etwas auf«, fährt sie lächelnd fort.

»Wenn er noch nach Hause kommt«, sage ich kaum vernehmbar.

»Oh, Nikki ...« Sie scheint zu mir kommen zu wollen. Aber bevor sie das tun kann, drehe ich mich um. Nach einigen Sekunden sagt sie ausdruckslos: »Ich rufe dich, wenn das Essen fertig ist.«

Ich höre, wie sich die Schritte meiner Mutter von mir entfernen, über den Treppenabsatz, die Stufen hinunter. Sie entfernen sich immer weiter von mir, bis ich nichts mehr höre und ganz allein bin.

Wenn sie jetzt zurückkäme, könnte sie die Tränen in meinen Augen sehen.