Kapitel 18

Ich gehe schnell, die Hände in den Taschen, den Kopf leicht gesenkt. Kalter Wind bläst mir entgegen und kriecht unter meinen grauen Pullover. Mir wird klar, wie idiotisch es ist, Ende November ohne Jacke im Freien herumzulaufen, aber ich gehe trotzig weiter.

In ein paar Minuten werden sie merken, dass ich nicht mehr in der Wohnung bin ... Ich gehe noch schneller, mein Herz hämmert, und ich habe Seitenstechen.

Ich biege nach links in eine belebte Durchgangsstraße ein. Hier bin ich eine von vielen in der Masse. Trotzdem fühlt es sich die ganze Zeit so an, als würden Augen nach mir schielen.

Der Mann am Zebrastreifen, der lange trödelt und über die Schulter zu mir schaut.

Zwei Jungs, die hinter mir gehen und erst nach ein paar Minuten in eine Seitenstraße abbiegen.

Überall sind Menschen, die mir verdächtig vorkommen. Oder bilde ich mir das nur ein?

Ich überquere das Wasser und gehe an einer Grünanlange entlang. In der Ferne nähert sich eine Straßenbahn der Linie zwei. Und die fährt in den Süden der Stadt ...

Blitzschnell treffe ich eine Entscheidung und renne zur Haltestelle. Etliche Leute versuchen, sich durch den schmalen Hinterausgang zu quetschen. Ich steige einfach mit zwei Frauen in die Bahn und tue so, als hätte ich eine ÖPNV-Chipkarte in der Hand.

Der Schaffner ist zu sehr mit anderen Reisenden beschäftigt, um es zu sehen.

Die Augen zum Boden gerichtet, lasse ich mich auf einen Platz sinken. Zum ersten Mal in meinem Leben fahre ich schwarz ...

Ruckelnd setzt sich die Straßenbahn in Bewegung. Jetzt erst merke ich, dass ich furchtbar müde bin, und starre aus dem Fenster. Menschen, Autos und Gebäude ziehen an mir vorbei. Und plötzlich sehe ich mein Spiegelbild im Glas, mit weit aufgerissenen Augen, verzagtem Blick und zerzausten Haaren.

Ich bin es. Und doch auch wieder nicht. Erschrocken wende ich den Blick ab.

Dann sagt eine Stimme an: »Hoofddorpplein. Umstieg zu den Buslinien 15 und 758. Verlassen Sie das Fahrzeug? Vergessen Sie nicht, mit Ihrer ÖPNV-Chipkarte auszuchecken. Please remember to check out with your public transport chipcard.«

Mist. Ich drücke mich an der Sitzlehne hoch und verfluche mich dafür, dass ich nicht früher darüber nachgedacht habe, wie ich hier ungesehen wieder rauskomme. Aber ich habe Glück. An der Haltestelle steigen etliche Touristen ein, und ich kann hinter ihren Rücken ins Freie schlüpfen.

Es gibt mir fast einen Kick, dass das Schwarzfahren geklappt hat. Ich atme ein paarmal tief durch und überquere dann die Straße in Richtung Amstelveenseweg. Es hat angefangen zu nieseln; feine Tröpfchen kleben wie Spinnweben an mir. Es sind noch etwa zwanzig Minuten zu Fuß.

Die Angst steigt wieder in mir auf.

Es schüttet wie aus Kübeln, als ich die Klinik erreiche. Am Zebrastreifen halte ich kurz inne, um wieder zu Atem zu kommen. Die Fenster wirken wie dunkle, glänzende Augen, und wieder fühlt es sich so an, als würde mich jemand beobachten. Ich schaue mich um. Niemand scheint mich zu beachten. Aber ich bin immer noch nicht beruhigt.

Schnell überquere ich die Straße und gehe zum Eingang. Leute in Regenjacken und mit Schirm gehen rechts und links an mir vorbei. Und dann erhasche ich plötzlich zwischen allen wogenden Gesichtern einen kurzen Blick in Timos Gesicht. Das kommt so unerwartet, dass ich stocksteif stehen bleibe.

»Hey, pass doch auf!« Jemand rempelt mich an, und für eine Sekunde bin ich abgelenkt. Als ich wieder hinschaue, sehe ich nur noch einen jungen Mann, der Timo ähnelt.

So allmählich fängst du an, dir Dinge einzubilden, Nikki. Es geht dir nicht gut. Natürlich war das nicht Timo.

Ich gehe noch schneller, renne fast, und steige keuchend die Treppe hinauf. Die Schiebetüren öffnen sich, und ich betrete den zentralen Eingangsbereich. Vor vier Tagen war ich auch hier ...

Ich fange an zu kichern vor lauter Nervosität. Ein anderer Besucher betrachtet mich kopfschüttelnd. »Was glotzt du denn so?«, will ich rufen. Aber mir ist bewusst, dass ich ziemlich seltsam aussehe mit meinen verregneten Haaren und klatschnassen Klamotten, daher ignoriere ich ihn.

Denk nach, Nikki. Denk nach, als hättest du nur eine einzige Chance. Plötzlich erinnere ich mich, dass de Graaf sagte, sie läge auf der Überwachungsstation.

Auf der großen Tafel in der Halle suche ich die Station: 7D. Ich folge den Schildern in den D-Flügel und lande bei einem Raum mit vielen Aufzügen. Ich steige in den äußersten und schaue einige Male über meine Schulter. Ich bin ganz allein.

Im siebten Stock steige ich aus und gehe durch zwei Schiebetüren und an einem leeren Wartebereich mit Stühlen vorbei in Richtung Überwachungsstation. Immer tiefer verschwinde ich im Gebäude. Ich sehe kein Tageslicht mehr, und es kommt mir fast so vor, als wäre ich die einzige lebendige Person hier.

Der Stationstresen ist verlassen. Was soll ich machen? Ein Wasserspender sprudelt und tröpfelt in einer Ecke. Das Neonlicht summt über meinem Kopf. Und dann treffe ich eine Entscheidung. Ohne Zögern gehe ich weiter.

Meine Turnschuhe quietschen im totenstillen Gang, und wieder klopft mein Herz bis zum Hals. Ich gebe mir große Mühe, mich selbst davon zu überzeugen, dass ich nichts Falsches tue. Möglichst unauffällig scanne ich im Vorbeigehen die Namensschilder neben den Türen und versuche, nicht nach den Menschen in den Zimmern zu schauen.

Und dann sehe ich ihren Namen auf einem Schild.

In meinem Kopf steigt etwas Finsteres auf. Ich versuche, es zu ignorieren, und stelle mich an die Scheibe neben der Tür. Meine Beine zittern ein wenig, als ich ins Zimmer schaue.

Im Krankenhausbett liegt ein zierliches Mädchen. Ihre Augen sind geschlossen, und eine Locke ihrer dunkel glänzenden Haare fällt über ihre Wange. Auf den Schränkchen neben ihrem Bett sitzt ein großer Teddybär, daneben sehe ich ihr Handy. Sie liegt so reglos, dass sie tot sein könnte. Ihr Kopf ist leicht von mir abgewandt, sodass ich ihr Gesicht nicht gut erkennen kann. Ich glaube, irgendwoher kenne ich sie, aber mir fällt absolut nicht ein, woher.

Ich starre eine Weile zu ihr hinüber. Die Finsternis in meinem Kopf wächst. Ich stehe im Dunkeln, ganz allein, und sehe auf einmal mich selbst. Nicht wie auf einem Foto, eher wie im Film.

Ich gehe durch einen Gang. Ich kenne diesen Ort, da bin ich vollkommen sicher. Er fühlt sich so vertraut an.

Plötzlich bleibe ich wie angewurzelt stehen. Weiter oben im Gang huscht eine Gestalt aus einer offen stehenden Tür. Ich spüre, wie ich erstarre, ich kann es wirklich fühlen. Vielleicht könnte ich es auch sehen, wenn es in meinem Kopf nur nicht so dunkel wäre.

Und dann sitze ich auf einmal in einem Raum. Ein Mann steht neben mir. Er sagt etwas, und ich nicke. Ich bin wütend. So unglaublich wütend, dass ich vor mir selbst Angst bekomme.

Die Finsternis in meinem Kopf breitet sich noch weiter aus. Oh Gott, es liegt zum Greifen nah in meinem Gedächtnis, es ...

Eine Hand auf meiner Schulter. Finger, die sich in meine Haut bohren. »Hey, was machst du hier?« Die Stimme scheint aus dem Nichts zu kommen.

Erschrocken drehe ich mich um. Eine Frau von etwa vierzig Jahren mit einem großen Schal um Kopf und Hals sieht mich an. Ihre Miene ist neutral.

Ob das ihre Mutter ist?

»Ich ... Ich ... bin eine Freundin ... aus der Schule, und ich war in der Nähe«, stammle ich. Als ob das alles erklären würde.

»Ah.« Sie nickt. »Bist du aus ihrer alten Schule?«

Ich verstehe absolut nichts und sage einfach ja.

Es bleibt lange still. Ich fühle mich aufgeschmissen und traue mich kaum, die Frau anzusehen. Könnte ich doch nur weg ...

Aber sie hält meinen Arm noch immer ziemlich fest. »Sei nicht traurig«, sagt sie. »Sie macht Fortschritte, wirklich.«

»Okay.« Ich versuche, meinen Arm zu befreien.

»Wie heißt du eigentlich, Mädchen?«

Ich zucke mit den Schultern, bis die Stille peinlich wird. »Ich ... Ich muss gehen«, sage ich dann mit rauer Stimme.

»Ach, bleib doch noch ein bisschen. Dann kannst du ...« Plötzlich beginnt sie zu lächeln, und ihr Blick geht über meine Schulter hinweg. »Nora! Hast du eine Freistunde?«

Ich drehe den Kopf. Auf halber Höhe des Flurs kommt ein Mädchen mit langen dunklen Haaren auf uns zu. Sie hält die Schnur eines Heliumballons fest, auf dem I love you steht.

»Ja, Sport ist ausgefallen«, sagt das Mädchen und stellt sich zu uns. Verblüfft schaut sie zu mir. »Mit wem redest du da, Mama?«

»Mit einer Schulfreundin von Anika«, sagt sie, und ihr Griff lockert sich. »Vielleicht kennt ihr ...«

Ich reiße meinen Arm los und weiche zurück. »E-es tut mir leid, aber i-ich muss weg.«

»Was ist denn?« Ich sehe in ihren dunklen Augen, dass sie glaubt, sie hätte mir Angst eingejagt.

»S-sorry, ich habe es eilig«, sage ich und drehe mich um.

»Warte, ich will dich noch etwas fragen!«, ruft das Mädchen.

Ich tue so, als würde ich es nicht mehr hören, und entferne mich mit kerzengeradem Rücken. Ich spüre, dass sie mir hinterherschauen. Lass sie bitte nichts ahnen ... Es ist, als wüsste ich auf einmal nicht mehr, wie man läuft. Meine Arme und Beine schlackern in alle Richtungen. Noch wenige Meter ...

Ich biege um die Ecke und beginne zu rennen, obwohl es auf dem glatten Linoleum rutschig ist. Ich renne am Station‍stresen und dem Wartebereich vorbei und pralle gegen eine Pflegerin.

»Du darfst hier nicht rennen!«, ruft sie.

»Entschuldigung«, rufe ich über die Schulter nach hinten, aber ich renne weiter, als würde mein Leben davon abhängen.

Gleich bin ich am Aufzug. Ich höre, wie sich die Türen mit einem leisen »Ping« öffnen. Schwein gehabt. Ohne zu gucken, stürme ich in den offen stehenden Aufzug und stoße fast mit einem blondgelockten Jungen zusammen, der gerade aussteigen will.

»Was hast du denn für ein Problem?«, fragt er verärgert.

»Sorry«, stammele ich keuchend. Ich entschuldige mich ständig bei allen.

Der Junge starrt mich an, als hätte ich sie nicht alle. Zum Glück schließen sich die Aufzugstüren, und er verschwindet. Außer Atem lehne ich mich an die Kabinenwand. Wie dumm, hierherzukommen. Was hatte ich denn gedacht? Dass ich mich wieder an alles erinnern könnte? Dass alles aufgelöst würde? Und dass alle danach sagen würden: »Entschuldige, Nikki, dass wir je an dir gezweifelt haben«?

Ein merkwürdiger Gedanke schießt mir durch den Kopf: Vielleicht willst du dich gar nicht daran erinnern ...

Für einen Augenblick kann ich mich nicht bewegen und bekomme keine Luft. Da schieben sich die Aufzugstüren auseinander. In meinem Kopf dreht sich alles, als ich die Kabine verlasse.