Der Wind bläst mir mit voller Wucht entgegen. Ich muss mir die Haare aus dem Gesicht wischen, damit ich noch etwas sehe. Ich stehe auf dem Stadionplein, aber ich habe keine Ahnung, wie ich hierhergekommen bin. Es fühlt sich an, als würde ich seit einer Stunde in einem trüben Dunst herumlaufen.
Plötzlich drängen sich mein leerer Magen und meine feuchte Kleidung sehr deutlich in den Vordergrund. Ich habe seit gestern Abend nichts mehr gegessen, und mir ist eiskalt. Ich zögere und bleibe kurz stehen. In welche Richtung muss ich? Ich habe keine Ahnung und gehe einfach geradeaus.
Am Zebrastreifen überquere ich die Straße und laufe an der beleuchteten Fassade einer Bibliothek vorbei. Auf dem Bürgersteig stehen Lastenfahrräder, Räder und Motorroller. Ich spähe durch eines der Fenster in das warme gelbe Licht, auf die langen Tische mit Stühlen, die Mütter und Väter mit Kindern, die zwischen den Bücherregalen umhergehen. Das ist wie eine andere Welt. Eine sichere Welt.
Ohne weiter darüber nachzudenken, gehe ich zum Eingang.
Ein paar Minuten. Nur ein paar Minuten. Und dann gehst du wieder weiter.
Es ist beruhigend viel los in der Bücherei. Ich höre Besucher leise reden, Kinder lachen. Ich zwinge mich, mich ein wenig umzuschauen und so zu tun, als würde ich ein Buch suchen. Niemand achtet auf mich. Zumindest niemand, den ich sehen kann.
Ein wenig beruhigt gehe ich zum Computertisch in der Ecke. Ein Junge mit blonden Locken und einem Kapuzenpulli hat sich gerade hingesetzt und legt einen Stapel Bücher neben sich. Ich kenne ihn von irgendwo her, aber ich komme nicht auf seinen Namen. Meine Gedanken sind schwammig, ich bin erschöpft. Es ist aber auch egal. Er hat noch keinen Blick in meine Richtung geworfen.
Ich suche mir einen Platz auf der anderen Seite, schräg neben einem Mädchen, das gerade ein Heft in die Tasche steckt und mit der anderen Hand die Computermaus hin und her schiebt. Es sieht so aus, als wollte sie gerade weggehen, und ich beachte sie nicht weiter.
Ich stütze meinen Kopf in die Hände und gönne mir einen Moment, um die Augen zu schließen. Die Wärme der Bücherei taut meinen Körper allmählich wieder auf, und ich merke jetzt erst, wie sehr mein Kopf und das Handgelenk schmerzen. Möglichst unauffällig schiebe ich den rechten Ärmel hoch. Schlagartig wird mir übel. Im Verband ist ein großer hellroter Fleck, und es riecht muffig, als wäre die Wunde entzündet.
Allmählich verliere ich den Mut. Das sieht nicht gut aus, ich müsste eigentlich zu einem Arzt. Aber das geht nicht ... Ich beiße die Zähne zusammen und ziehe den Stoff vorsichtig wieder über den Verband. Deine Verletzungen sind nicht dein größtes Problem, Nikki.
Was soll ich machen? Ich denke nach. Und je mehr ich nachdenke, desto größer wird meine Angst. Es ist, als würde man ein Spiel mit mir spielen, dessen Spielregeln ich nicht verstehe. Das halte ich nicht mehr lange durch ... Aber eine Alternative gibt es nicht: Wenn ich jetzt zurückgehe, hält man mich erst recht für schuldig. Ich muss die Wahrheit herausfinden – irgendwie.
Mit brennenden Augen starre ich auf den Computer vor mir. Könnte ich nur mal kurz googeln und die Nachrichten lesen. Aber dazu muss man sich mit dem Bibliotheksausweis einloggen, und der ist in meinem Geldbeutel – der in meinem alten Schlafzimmer liegt ...
Ich spähe zu dem Jungen auf der anderen Tischseite hinüber, der jetzt die Nase in ein Buch steckt. Ich überlege, ob ich ihn nach seinem Ausweis fragen könnte, verwerfe diese Idee aber sofort wieder – das würde zu sehr auffallen.
Das Mädchen, das schräg neben mir saß, steht jetzt am Schalter, die Jacke über dem Arm. Ihre Tasche steht noch auf dem Tisch neben mir. Sie hat den Computer schon runtergefahren.
Hätte ich doch nur einen Ausweis ...
Mein Blick fällt wieder auf die Tasche des Mädchens, die halb offen steht. Ich sehe den Rand von einem Heft und etwas aus braunem Leder ... ihr Geldbeutel!
Plötzlich weiß ich, was ich tun muss. Ich schaue nach links, nach rechts. Keiner achtet auf mich. Meine Hände greifen nach dem Geldbeutel in ihrer Tasche. Unter dem Tisch öffne ich den Reißverschluss, während ich immer wieder prüfe, ob sie noch am Schalter steht. Ich finde den Ausweis auf Anhieb, er ist im vorderen Fach bei ihren anderen Karten. Blitzschnell gebe ich ihre Ausweisnummer ein. Von ihrem Roller-Führerschein übernehme ich ihr Geburtsdatum und drücke auf Enter.
WILLKOMMEN BEI DER STADTBIBLIOTHEK AMSTERDAM, erscheint auf dem Bildschirm. Yes!
Ich will den Geldbeutel schon wieder zuziehen und in ihre Tasche zurückstecken, als ich den blauen Zwanziger sehe. Im Mittelfach, ordentlich gefaltet, als ginge das Mädchen sehr achtsam damit um.
Für einen Moment scheint die Zeit stillzustehen. Dann nehmen meine Hände den Schein heraus und stecken ihn in meine Hosentasche.
Ich kann nicht glauben, dass ich das tue. Ohne mich schuldig zu fühlen.
Kaum habe ich ihren Geldbeutel zurückgesteckt, dreht sich das Mädchen um und kommt zum Tisch.
Eine Glutröte verbreitet sich von meinem Hals bis zu den Wangen. Ob sie mich durchschaut?
Aber sie lächelt mich an und nimmt ihre Tasche.
Es gelingt mir, ihr Lächeln zu erwidern. Ich weiß, dass ich etwas Unverzeihliches getan habe.
Ich warte, bis sie weg ist, und gehe dann ins Internet. Meine Finger schweben kurz über der Tastatur, dann tippe ich: AT5. Am besten fange ich bei den lokalen Nachrichten an.
Ich erwarte nicht viel, als ich auf Enter drücke, aber plötzlich starrt mich mein eigenes Foto vom Bildschirm an. Die Überschrift lautet: 16-JÄHRIGE NIKKI MULDER VERMISST.
Es fühlt sich an wie ein Schlag ins Gesicht, und ich kriege kaum noch Luft. Meine Finger zittern so heftig, dass es gefühlt Stunden dauert, den Artikel zu öffnen.
16-jährige Nikki Mulder vermisst
Die Polizei von Amsterdam hat wegen der vermissten 16-jährigen Nikki Mulder eine Bürgernetzaktion gestartet. Das Mädchen hat in verwirrtem Zustand ihren aktuellen Aufenthaltsort in Osdorp verlassen. Sei heute Morgen um halb elf fehlt jede Spur von ihr.
»Nikki kann momentan nicht gut für sich selbst sorgen«, so die Polizei. »Wir rufen jeden dazu auf, Ausschau nach ihr zu halten.«
Nikki ist einen Meter zweiundsechzig groß, hat lange dunkelblonde Haare und ist schlank. Bei ihrem Verschwinden trug sie eine Jeans, ein graues Sweatshirt und weiße Turnschuhe.
Wer mehr Informationen zu Nikki hat, bitte unter der Nummer 0900 – 8844 Kontakt zur Polizei aufnehmen.
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Mein Herz schlägt schnell, und ich fühle mich krank. Verwirrter Zustand? Bürgernetzaktion? Das ist echt schlimmer als ein Albtraum!
Ich scrolle zurück zu dem Foto aus dem Artikel. Ich sitze auf einem Mäuerchen, blauer Himmel im Hintergrund. In meinen Haaren steckt eine Pilotensonnenbrille. Ich lache sehr übertrieben, den Kopf leicht nach hinten geneigt. Ich sehe aus, als würde ich mich selbst für großartig halten.
Ich weiß noch sehr gut, wo und wann dieses Foto aufgenommen wurde. In der Schule, von Lisa. Vor ein paar Wochen, als wir uns in der Pause langweilten. Sie rief: »Say bitch!« und machte dann schnell dieses Foto von mir. Dass wir uns danach vor Lachen kaum einkriegten, weil es aussah wie ein misslungenes Selfie von Kim Kardashian, sieht man leider nicht.
Warum haben meine Eltern ausgerechnet dieses Foto ausgesucht?
Weil sie finden, dass du dir darauf am ähnlichsten siehst ...
Ein dümmlich grinsendes Mädchen, das vollkommen nichtssagend in die Linse schaut, als wäre ihr alles egal. Ist das alles, was von mir übrig geblieben ist?
Schnell klicke ich den Artikel weg, damit ich mich nicht mehr sehen muss. Als ich mich wieder im Raum umschaue, bekomme ich Angst. Ich bin fast sicher, dass meine Wangen knallrot geworden sind und dass ein Schild über meinem Kopf erschienen ist, auf dem steht: HALLO ZUSAMMEN, ICH BIN DIE VERWIRRTE 16-JÄHRIGE, NACH DER GESUCHT WIRD!
Mit einem Ruck stehe ich auf. Mein Stuhl fällt fast um, aber ich kann ihn gerade noch rechtzeitig auffangen. Erschrocken schaue ich dorthin, wo der Junge mit den blonden Locken saß, aber er ist verschwunden. Auch seine Bücher sind weg.
Zum Glück ...
Langsam gehe ich an allen Tischen vorbei. Ich will nicht nach draußen, aber ich kann auch nicht hier warten, bis mich jemand im grellen Neonlicht erkennt.
»Mädchen!«
Mein Herz setzt einen Schlag aus, und ich drehe mich um.
»Ja, ich rede mit dir.« Die Bibliothekarin starrt mich mit einem ausdruckslosen Gesicht an.
Eine Welle der Panik durchläuft mich. Ich will etwas sagen, aber ich kriege es nicht über die Lippen.
»Hör mal«, sagt sie, während sie sich von ihrem Stuhl erhebt und Anstalten macht, in meine Richtung zu kommen. »Du bist ...«
Den Rest ihres Satzes höre ich nicht mehr. Jede Faser in meinem Körper schreit, dass ich flüchten muss. Ich gehe schneller. Schiebe andere Besucher mit Schultern und Armen zur Seite. Obwohl sich der Ausgang nur ein paar Meter vor mir befindet, scheint er meilenweit entfernt.
»Hallo, junge Dame, warte!«, höre ich die Bibliothekarin rufen. Alle schauen mich an, als wäre ich eine Diebin, die aufgehalten werden muss.
Plötzlich steht ein Mann zwischen mir und dem Ausgang. Ich pralle gegen ihn, der Zusammenstoß dröhnt durch meinen ganzen Körper. Ich falle fast, kann mich gerade noch aufrecht halten und schlüpfe an ihm vorbei. Er ruft mir etwas hinterher, aber ich verstehe nicht, was.
Und dann stehe ich draußen. Ich weiß nicht, in welche Richtung ich muss, ich weiß nicht, was ich machen soll. Blindlings renne ich nach links. Die Straße hinunter, vom Bordstein auf ...
Lautes Hupen, Bremsen quietschen. Das Auto scheint aus dem Nichts zu kommen und stoppt nur ein paar Zentimeter von mir entfernt. Der Fahrer lässt das Fenster hinunter und brüllt, ob ich vielleicht Selbstmord begehen wolle.
Ich habe keine Zeit für eine Entschuldigung und renne weiter. Ich erreiche die andere Seite und tauche in eine andere Straße ein, laufe an einem kleinen Spielplatz und Geschäften vorbei, immer weiter und weiter. Nach ein paar Minuten bekomme ich Seitenstechen. Meine Beine brennen, die Lunge pfeift.
Einfach weiter. Nicht an den Schmerz denken. Nur rennen.
Aber ich kann nicht mehr. An einer belebten Kreuzung klappe ich zusammen. Die Hände auf den Knien hole ich keuchend Luft und spucke einen großen Schleimpfropfen auf den Bürgersteig. Ich bin so außer Atem, dass ich nicht mal mehr merke, dass die Leute einen weiten Bogen um mich machen, bis ich aufschaue.
Ich muss eine Möglichkeit finden, weniger aufzufallen.