Der Mann in Schwarz hob das Fernglas und beobachtete die verregnete Promenade. Die Bänke entlang der hoch gelegenen Dufferin-Terrasse, die die Unterstadt und den Sankt-Lorenz-Strom überragte, waren leer. Seine Kontaktperson war noch nicht da, doch das hatte er auch nicht erwartet. Es war erst Viertel nach neun, und er hatte das Treffen für Punkt zehn Uhr vereinbart. Die Zeit bis dahin benötigte er, um den Treffpunkt zu checken und nach einer eventuellen Falle Ausschau zu halten.
Er hatte den Wagen beim Hafen geparkt und war dann mit der Standseilbahn zur Oberstadt hochgefahren. Nun stand er wie ein Unsichtbarer in der Dunkelheit, hinter einer Steinmauer auf dem Hügel der Zitadelle. Im strömenden Regen verschwammen die nächtlichen Lichter von Québec. Der kalte Wind schüttelte die winterlich kahlen Bäume und übertönte mit seinem Heulen die Geräusche der Stadt. Vor ihm erhob sich das Hotel Château Frontenac wie ein mittelalterliches Schloss. Unter ihm glitzerte die Lichterkette der Unterstadt am dunklen Band des Flusses. An der Aussichtspromenade waren historische Kanonen aufgereiht, die auf das Wasser hinaus gerichtet waren, als wäre mit einem erneuten Angriff amerikanischer Invasoren zu rechnen.
Die Kanonen logen nicht.
Die Amerikaner waren hier irgendwo und suchten nach ihm.
Wo versteckt ihr euch?
Er wartete geduldig, ohne sich zu rühren, obwohl ihm Kälte, Regen und Wind zusetzten. Er hatte gelernt, solche äußeren Faktoren zu ignorieren. Wieder hob er das Fernglas und suchte jedes Fenster und jeden Türeingang ab, jeden dunklen Winkel, in dem sich jemand verborgen halten konnte. Selbst die erfahrensten Profis machten Fehler. Das Aufflammen eines Streichholzes beim Anzünden einer Zigarette. Die kaum merkliche Bewegung eines Vorhangs. Ein Fußabdruck im Schlamm. Als er alles gecheckt hatte, fing er wieder von vorn an. Dann noch einmal.
Allmählich begann er sich sicher zu fühlen.
Dann schrie jemand.
Er spannte sich an, doch es war ein vergnügter Schrei, voll jugendlicher Unbeschwertheit. Zwei junge Leute rannten Hand in Hand die regennasse Promenade entlang. Sie fanden Unterschlupf unter einem Vordach und küssten sich leidenschaftlich. Er zoomte ihre Gesichter heran – sie waren Mitte zwanzig und attraktiv. Die nassen Haare der Frau – pink und blond – klebten ihr im Gesicht. Sie hatte die schlanke, athletische Statur einer Läuferin und trug hautenge Leggings. Der junge Mann war etwas größer, hatte schwarze Haare und eine lange Narbe auf der Wange.
Er versuchte sie einzuschätzen.
Nur zwei harmlose Touristen?
Oder zwei Killer?
Die Wahrheit lag meistens in den Augen. Er achtete darauf, ob einer der beiden sich dadurch verriet, dass er oder sie einen heimlichen Blick auf die Umgebung riskierte, doch es war nicht das kleinste verräterische Zeichen zu erkennen. Falls die beiden ihm etwas vorspielten, machten sie ihre Sache unglaublich gut. Nach einigen Küssen gingen sie wieder in den Regen hinaus. Sie schauten einander mit einem begehrenden Lächeln an, wie Liebende es zu tun pflegten. Sie gingen nach Norden, in die Richtung des Hotels.
In diesem Augenblick sah er seine Kontaktperson auf der Promenade. Sie war früh dran. Der strömende Regen schien ihr nichts auszumachen, als sie mit einer großen Ledertasche an der Schulter die Stufen vom Governor’s Park hinunterstieg. Sie erreichte den Fußweg genau in dem Moment, als die beiden jungen Leute vorbeigingen. Zufall? Sein Misstrauen war aufs Neue geweckt. Er konnte es sich nur zu gut vorstellen: eine Pistole in der Hand des jungen Mannes mit der Narbe. Ein Schuss – keine Chance, zu entkommen –, und seine Kontaktperson sackte mit einer Kugel in der Kehle zu Boden. Er riss seine Waffe aus der Jackentasche und machte sich bereit, von der Zitadelle hinunterzusprinten, obwohl er viel zu weit weg war, um das Schlimmste zu verhindern.
Doch er irrte sich.
Die jungen Leute winkten der Frau zu. Sie lächelte zurück. Drei Leute, die einander zufällig begegneten und sich vom Regen nichts anhaben ließen. Kein Hinterhalt, keine tödlichen Schüsse. Er beobachtete, wie die jungen Leute ihren Weg zum Château Frontenac fortsetzten und seine Kontaktperson den Weg zu dem Pavillon überquerte, wo sie sich treffen wollten. Sie holte ihr Mobiltelefon aus der Handtasche, um nach der Uhrzeit zu sehen. Dann schaute sie zur Zitadelle in seine Richtung, die Hände in die Hüften gestemmt. Er wusste, dass sie ihn nicht sehen konnte, doch sie schien zu spüren, dass sie beobachtet wurde.
Er musterte sie eingehend durch sein Fernglas.
Die Journalistin Abbey Laurent war zweiunddreißig, mittelgroß und sehr schlank. Über einem weißen T-Shirt trug sie eine Jeansjacke, die bis zur Taille reichte, dazu eine waldgrüne Cargohose und schwarze, wadenhohe Stiefel. Ihre dunkelrot gefärbten Haare fielen ihr in nassen Strähnen auf die Schultern und in die Stirn. Ihr Mund war zu einem neugierigen Lächeln gekrümmt, als genieße sie die Aufregung des nächtlichen Treffens. Ihren klugen dunklen Augen schien nichts zu entgehen.
Sie drückte ein paar Tasten auf ihrem Mobiltelefon. Im nächsten Augenblick summte sein eigenes Handy. Sie hatte ihm eine Nachricht geschickt.
Ich bin hier, Mystery Man.
Er erlaubte sich ein angespanntes Lächeln. Er mochte diese Frau. Aber mögen und vertrauen waren zwei Paar Schuhe.
Er ließ sie warten, ohne auf ihre Nachricht zu antworten. Stattdessen suchte er die Umgebung ein weiteres Mal mit dem Feldstecher ab. Sie waren allein. Das junge Paar war längst verschwunden. Er konnte nicht das kleinste Anzeichen erkennen, dass die Frau beobachtet wurde – dennoch wartete er ab und ließ den vereinbarten Zeitpunkt verstreichen. Zehn Uhr. Zehn Uhr fünfzehn. Halb elf. Sie schickte weitere Nachrichten, die ihre wachsende Ungeduld ausdrückten.
Hey, wo bleiben Sie?
Wir hatten zehn Uhr gesagt.
Ich bin klatschnass, und jetzt kommen Sie nicht?
Ich warte sicher nicht ewig.
Und wirklich. Um zehn Uhr vierzig sah er, wie ihre Lippen ein lautes Schimpfwort formten. Sie stapfte aus dem Pavillon in den Regen hinaus, vorbei an den Kanonen und durch das nasse Gras des Parks beim Château Frontenac. Als sie aus seinem Blickfeld verschwand, wurde er aktiv. Er schob die Pistole in die Jackentasche und stieg zum Fuß des Zitadellenhügels hinab, wo die alten Steinhäuser von Québec einander an schmalen, hügeligen Straßen gegenüberstanden. Er lief die Rue des Grisons hinunter, blieb einen Block weiter stehen und wartete im Eingang eines kleinen Gästehauses, wo ihn niemand sehen konnte.
Am Ende der Straße sah er die rothaarige Journalistin die Kreuzung überqueren. Sie ging zielstrebig, ohne sich umzudrehen, ohne jede Sorge, dass ihr jemand folgen könnte. Er lief zur nächsten Ecke weiter und sah sie auf den gepflasterten Weg des Parc du Cavalier-du-Moulin einbiegen. In schnellem Lauf folgte er ihr. Sie war noch einen halben Block vor ihm und schien nicht zu merken, dass er allmählich zu ihr aufschloss.
So hatte er es in seiner Ausbildung gelernt: Lass den Zeitpunkt des Treffens verstreichen, damit ein eventueller Beobachter denkt, das Treffen wäre geplatzt. Dann fang die Kontaktperson in einiger Entfernung vom vereinbarten Ort ab, sodass das Treffen unter sicheren Voraussetzungen zustande kommen kann.
Das Problem war, dass die Leute, die ihn einst ausgebildet hatten, nun hinter ihm her waren.
Sie wussten genau, wie er vorging.
Als er zu dem Park rannte, in dem Abbey Laurent verschwunden war, fiel ihm auf, dass die Straßenlaterne vor ihm ausgefallen war. Sein Instinkt schlug Alarm, doch es war zu spät, um jetzt noch umzukehren. Zehn Meter vor ihm tauchte ein Mann aus dem Dunkel auf. Es war der junge Mann mit der Narbe, eine Beretta mit Schalldämpfer in der Hand.
Er hatte keine Zeit mehr, um selbst zur Waffe zu greifen. Instinktiv warf er sich zur Seite, rollte sich auf dem nassen Boden ab und stieß gegen die Ziegelwand des nächsten Gebäudes. Das gedämpfte Pop der Beretta und das peitschende Geräusch der Kugeln auf dem Asphalt verfolgten ihn, als er aufsprang, tief geduckt weiterlief und sich hinter einen blauen Kastenwagen warf, der am Weg parkte.
Das Fahrzeug bot ausreichend Deckung, während er seine Pistole zog. Regenwasser rann ihm übers Gesicht, plätscherte den Rinnstein entlang, flutete die Straße. Es war stockdunkel. Er sah und hörte nichts. Langsam kroch er hinter dem Wagen hervor. Als er die Straße erreichte, drückte er dreimal kurz nacheinander ab. Der Mann mit der Narbe war da. Eine Kugel traf seinen Waffenarm, er feuerte wild zurück. Blutend duckte sich der junge Killer hinter die andere Seite des Kastenwagens.
Ihm blieben nur wenige Sekunden. Er wusste genau, was er zu tun hatte.
Schnell weg! Zum Auto !
Québec war ein Fehler gewesen. Sein Treffen mit Abbey Laurent war eine Falle.
Er wich zurück, die Pistole auf den Kastenwagen gerichtet. Gleich hinter ihm ging es in eine Gasse, durch die er fliehen konnte. Er blinzelte sich den Regen aus den Augen. Der Wind pfiff zwischen den Häusern hindurch und hallte in seinem Kopf wider. Seine Sinne waren ganz auf den Wagen fokussiert, während er darauf wartete, dass der Narbige eine weitere Salve abfeuerte. Erst in der allerletzten Sekunde spürte er die neue Gefahr hinter sich.
Die junge Frau mit den pink-blonden Haaren sprang aus der Gasse hervor und griff mit einem langen Messer an. Er wich gerade noch rechtzeitig aus, um zu vermeiden, dass sie ihm die Kehle durchschnitt, und versetzte ihr einen Tritt in die Magengrube. Sie steckte den Treffer weg, biss die Zähne zusammen und griff aufs Neue an, das Messer auf seine Kehle gerichtet. Er hatte nur einen Sekundenbruchteil, um ihr Handgelenk zu packen und mit einem jähen Ruck herumzudrehen. Der Knochen brach, das Messer fiel zu Boden. Bevor er die Pistole heben und abdrücken konnte, schnellte die Frau hoch wie eine Feder und rammte ihm den Schädel gegen das Kinn. Sein Kopf zuckte zurück, er spürte Blut im Mund. Benommen ließ er sie los.
Dann ein mehrfaches gedämpftes Pop wie von Knallfröschen. Der Mann mit der Narbe sprang aus der Deckung und feuerte mit seinem verletzten Arm. Eine Kugel zertrümmerte ein Fenster im Haus gegenüber, eine andere prallte vom Gehsteig ab. Der Mann in Schwarz packte die junge Frau an ihrem gebrochenen Handgelenk und zog sie vor sich. Sie schrie auf vor Schmerz, verstummte aber schnell, als die nächste Kugel, die auf seine Brust gezielt war, in den Hinterkopf der Frau einschlug.
Der Mann, der sie noch vor wenigen Minuten geküsst hatte, hatte sie erschossen.
Er hielt die Frau als totes Gewicht vor sich, riss seine Waffe hoch und gab einen präzisen Schuss ab, der den Narbigen unter dem Kinn traf. Ein tödlicher Schuss mitten durch die Kehle.
Wie bei Sofia Ortiz .
Einen Moment lang stand er wie erstarrt da, scharfer Rauch stieg ihm in die Nase. Die tote Frau baumelte an seinem Arm wie eine Puppe, und er legte sie auf die nasse Straße. Ihre aufgerissenen Augen starrten ihn an. Eine kleine Blutlache bildete sich um ihren Kopf, doch der Regen spülte sie in die Bäche, die am Bordstein entlangliefen.
Schnell weg! Zum Auto !
Die Falle schnappte zu.
Am östlichen Ende der Straße sah er die Lichter entlang der Promenade schimmern. Er lief darauf zu, dicht an den Häuserwänden entlang. An der nächsten Ecke checkte er die Querstraße und die Bäume, die wie Soldaten im Governor’s Park standen. Er war nicht allein, das spürte er. Doch er konnte nicht sehen, wo die Bedrohung lauerte. Er atmete ein paarmal tief durch, dann sprang er aus der Deckung, sprintete über die Straße und warf sich ins schlammige Gras des Parks.
Aus zwei Richtungen pfiffen Kugeln über ihn hinweg. Der erste Schütze war auf den Stufen eines Gästehauses postiert, der zweite im dunklen Tunnel der Parkgarage unter dem Château Frontenac. Er sprang auf und rannte im Zickzack weiter, als die nächste Salve auf ihn einprasselte. Einen kurzen Moment blieb er stehen, fuhr herum und gab vier Schüsse in den dunklen Tunnel ab. Der Schütze in der Parkgarage sackte zu Boden, doch der Mann auf der Hoteltreppe feuerte weiter. Dann passierte es. Er spürte einen scharfen Stich in der Brust. Mit zusammengebissenen Zähnen schleppte er sich hinter eine Esche, riss sein Hemd auf und sah den blutigen Ring der Einschusswunde.
Der Attentäter auf der Treppe feuerte weiter. Der Mann in Schwarz wartete, bis der Schütze sein Magazin verfeuert hatte, dann sprang er aus der Deckung und drückte ab. Sechsmal.
Der Schütze rollte von der Treppe auf die Straße hinunter.
Er hatte keine Zeit, um seine Wunde zu versorgen. Bald würden noch mehr Männer hier sein. Er nahm die Pistole in die linke Hand und drückte die rechte an die Brust. Im Moment spürte er keine Schmerzen, doch das würde sich schnell ändern. Mit gesenktem Kopf stapfte er durch den Park, vorbei am Château Frontenac, und eilte die Stufen zur Promenade hinunter. Lichter schimmerten am anderen Ufer des Flusses. Der Wind peitschte ihm den Regen ins Gesicht. Er humpelte auf die andere Seite der Promenade und stützte sich auf das Metallgeländer. Dahinter ging es fünfzig Meter in die Tiefe. Unten in der Altstadt ragten kahle Bäume empor. Er schloss die Augen, geschwächt und benommen vom Blutverlust.
» Jason Bourne .«
Jemand zischte es ihm zu, nur wenige Meter entfernt.
Dann noch ein Wort. » Verräter .«
Er riss die Augen auf. Ein jäher Schmerz durchfuhr ihn, als er die Pistole hob. Er war nicht allein. Er hatte jemanden übersehen, der im Dunkeln lauerte. Beim Pavillon stand ein Mann mit grauem Trenchcoat und Fedora-Hut und richtete im strömenden Regen seine Pistole auf ihn. Er war fünfzehn Jahre älter als Bourne, kleiner, aber wettergegerbt und zäh. Bourne kannte Nash Rollins gut. In einem anderen Leben hätte er ihn als Freund bezeichnet – jetzt nicht mehr.
Nicht nach dem, was in Las Vegas passiert war.
Und nun war dieser Mann hier, um ihn zu töten. Oder getötet zu werden. Eine andere Option gab es nicht.
Bourne hatte mitgezählt. Er hatte nur noch eine Kugel im Magazin, doch das genügte, um einen alten Freund zu töten. Um den Abzug zu drücken und ihn sterben zu sehen. Sein Gehirn wog die Optionen ab, um zu einer Strategie zu gelangen. Sein Herz rang mit der Frage, ob er diesen Mann wirklich töten konnte.
Rollins war persönlich gekommen, um dabei zu sein, wenn Bourne eliminiert wurde. Das war ein Fehler. Er war seit Jahren nicht mehr im Feldeinsatz gewesen. Bei einem Showdown ging es um Konzentration. Man durfte sich durch absolut nichts ablenken lassen, doch das war schwierig, wenn die alten Fähigkeiten eingerostet waren. Während einer den anderen anstarrte, um ihn zu verunsichern, wartete Bourne darauf, dass der ältere Mann ihm eine winzige Chance bot. Er wusste, dass er sie bekommen würde. Ein Windstoß traf den Mann mit voller Wucht, und er zuckte zusammen. Das Nachlassen der Aufmerksamkeit währte nur einen Sekundenbruchteil, doch das war genug.
Bourne drückte ab. Die Kugel bohrte sich in Rollins’ Oberschenkel. Sein alter Freund sackte zu Boden, schrie auf vor Schmerz, doch in spätestens zwei Sekunden würde dem Mann bewusst werden, dass er noch lebte. Er würde sich nicht lange fragen, warum er verschont worden war, sondern einfach zurückfeuern.
Bourne sah keine Fluchtmöglichkeit, warf die leere Pistole weg, packte das Geländer mit beiden Händen und sprang in den Abgrund. Der Schmerz der Schussverletzung durchzuckte seinen Oberkörper. Die Schwerkraft griff nach ihm, doch eine Mikrosekunde lang verharrte er in der Luft wie eine Tontaube. Sein alter Freund drehte sich auf dem Boden zu ihm, riss unter Schmerzen die Waffe hoch und drückte ab. Einmal.
Die Kugel zog eine blutige Spur über seinen Schädel.
Jason Bourne fiel in die Dunkelheit. Ein Meteor im kalten Universum, ein winziges Stück Materie in der Weite des Raumes. Der Boden tief unter ihm war wie ein fremder, unerforschter Planet, der mit Lichtgeschwindigkeit auf ihn zuzurasen schien. Im Moment des Aufpralls wurde es dunkel um ihn herum.
Die kanadischen Sanitäter wollten Nash Rollins ins Krankenhaus bringen, doch er weigerte sich entschieden. Er würde nirgendwohin gehen, sagte er, solange man den Mann nicht gefunden habe, der vor seinen Augen in die Tiefe gesprungen war. Er stützte sich auf den Stock, den ein Sanitäter ihm gegeben hatte, und biss sich auf die Zunge, um sich von den Schmerzen abzulenken, die sein Bein durchpulsten.
In der Ferne tanzten die Lichter des Suchtrupps in den Straßen der Unterstadt. Sie suchten den verwundeten amerikanischen Killer. Rollins wusste, dass er ihn noch getroffen hatte, bevor er abgestürzt war. Er hatte Blut spritzen sehen. Es erschien ihm unvorstellbar, dass der Mann die Schussverletzung und den Sturz überlebt haben könnte, doch bislang war noch keine Leiche gefunden worden, nur eine Blutspur, die an der Rue du Petit-Champlain abrupt endete. Der Mann war ganz einfach verschwunden.
Bourne war ein Phantom. Ein Meister des Überlebens.
Doch Rollins war nicht überrascht. Er wusste genau, was Bourne in seiner Ausbildung gelernt hatte.
Rollins verspürte keine Reue. Er war mit seinem Team angerückt, um eine Mission zu erfüllen. Doch sie war noch nicht beendet. Seine frühere Beziehung zu dem Mann war nicht von Bedeutung. Dass Bourne sein Leben verschont und auf sein Bein gezielt hatte, spielte ebenfalls keine Rolle. Was zählte, war allein, ihn zu stoppen !
Er zog sein Mobiltelefon hervor und wählte die Nummer. Am anderen Ende meldete sich eine Frau mit einem einzigen Wort.
»Treadstone.«
»Gehen Sie auf eine sichere Verbindung«, forderte Rollins sie auf.
»Verbindung ist sicher«, meldete sie nach einem kurzen Moment. »Wie ist die Lage in Québec? Hat sich Ihr Verdacht bestätigt? Ist es Cain?«
»Ja, er ist es. Wie ich Ihnen gesagt habe.«
»Haben Sie ihn neutralisiert?«
»Nein, er ist auf der Flucht.«
»Das ist schlecht«, sagte die Frau eiskalt. »Sie haben felsenfest versprochen, mit dem Problem fertigzuwerden. Direktor Shaw ist sehr besorgt. Falls Bourne hinter dem Attentat in New York steckt, ist der Neustart von Treadstone gefährdet.«
Rollins verzog das Gesicht, als der Schmerz im verletzten Bein wieder aufflammte. Er würde nicht mehr lange durchhalten, doch das war ihm egal. »Keine Sorge. Sagen Sie Shaw, ich werde Bourne finden. Er ist verwundet und kann nicht weit kommen. Ich werde ihn finden und höchstpersönlich eliminieren.«