Jason wusste nicht, ob er sich erinnerte oder träumte.
Bruchstückhafte Szenen eines Lebens wurden in seinem Kopf abgespult wie ein Film in einem alten Projektor. Er sah Kinder in einer Reihe stehen, ein Dutzend Jungen in grauen Uniformen, die von einem strengen alten Mann gescholten wurden. Er sah einen Grabstein aus blauem Marmor mit zwei nebelhaft verschwommenen Namen darauf. Er konnte nur die Todesjahre lesen: 2001. Er hörte das Donnern von Explosionen und hielt sich die Ohren zu. Schüsse. Wörter kamen aus seinem Mund in Sprachen, die er nicht verstand. Er sah Orte, die ihm unbekannt waren, obwohl er wusste, dass er überall schon gewesen war. Städte in allen Erdteilen. Straßen und Denkmäler in der Nacht. Kirchen, nicht, um darin zu beten, sondern weil er dort ein geheimes Treffen hatte. Boote auf dem Wasser, Grenzen, Checkpoints. Mauern, über die er klettern, Gebäude, in die er eindringen musste.
Die verschwommenen Bilder wirbelten in seinem Kopf umher. Mittendrin sah er ein Gesicht. Eine Frau. Immer wieder erschien sie ihm, unterbrach den Film und flüsterte ihm etwas ins Ohr. Bleib bei mir, Liebling, halt durch . Sie hatte lange schwarze Haare, eine leicht gekrümmte Nase, dunkle, leidenschaftliche Augen, ein neckisches Lachen, olivbraune Haut. Er spürte ihren Körper an seinem, ihre vollen Lippen, ihre weiche Haut.
Sie lag in seinen Armen, und sie waren glücklich.
Dann war sie in den Armen eines anderen – er trug sie fort. Ihre Augen waren geschlossen, ihr Gesicht leblos, ihr Blut auf dem Boden. Er hörte sich selbst schreien.
Nein !
Er schlug die Augen auf, tauchte aus der Bewusstlosigkeit auf. Er war wach, aber völlig benommen. Die Bilder in seinem Kopf flüchteten wie lichtscheue Küchenschaben und ließen nur Leere zurück.
Bourne lag in einem Doppelbett. Das Laken unter ihm war feucht von seinem Schweiß. Die Decke musste er irgendwann in der Nacht abgeschüttelt haben. Er lag nackt und unbedeckt auf dem Rücken. Das Zimmer war klein und dunkel, doch die Lichtstreifen an den Rändern der Jalousien ließen ihn seine Umgebung erkunden. Es gab eine Tür nach draußen, ein kleines Bad, nicht viel größer als eine Telefonzelle, einen leeren Wandschrank. Zwei mit Wasserfarben gemalte Bilder hingen an der rissigen Tapete. Sie zeigten Segelboote auf dem Wasser. Eine Lampe stand auf einem Schreibtisch beim Fenster.
Er fühlte sich desorientiert, wie in einem bizarren Traum gefangen.
Er versuchte aufzustehen, doch der Schmerz, der ihn wie ein brennender Pfeil durchzuckte, ließ ihn schwer atmend zurücksinken. Sein Kopf hämmerte, vor seinen Augen drehte sich alles, und er wartete, bis er wieder klarer sah. Als er auf seinen Oberkörper hinunterschaute, sah er den weißen Verband unterhalb der linken Schulter, mit einem großen roten Fleck, wo die Gaze von Blut durchtränkt war.
Er musste nachdenken, sich erinnern , drückte beide Fäuste an den Kopf, ignorierte die Schmerzen. Sein Atem donnerte in der Brust, Schweiß brach aus allen Poren.
Doch diesmal war es Angstschweiß.
Jason versuchte erneut, aufzustehen, biss die Zähne gegen den Schmerz zusammen. Als er die Beine aus dem Bett schwang, gelang es ihm, sich in die Sitzposition aufzurichten, mit beiden Füßen auf dem Hartholzboden. Er wartete, bis der nächste Schwindelanfall verging. Die Schmerzen gingen nicht nur von der Brust aus, sondern auch vom Kopf. Er hob die Hand zum Schädel, doch schon bei der flüchtigsten Berührung durchfuhr es ihn wie ein Blitzschlag. Er fühlte auch hier einen Verband.
Seine Sinne lieferten ihm Informationen, die sein Gehirn zu verarbeiten versuchte. Draußen hörte er Vögel zwitschern. Durch den Türrahmen pfiff kalte Luft herein. Er nahm den feuchten Geruch seines Körpers wahr, doch da war auch ein salziger Duft, wie am Meer. Er stand auf, stützte sich mit einer Hand an der Wand ab, dann ging er zum Fenster und drückte die Lamellen der Jalousien auseinander. Er befand sich in einem Urlaubscottage und schaute auf eine hölzerne Veranda hinaus. Nur wenige Schritte entfernt traf das blassblaue Wasser einer kleinen Bucht auf den steinigen Strand. Am anderen Ende der Bucht ragte eine dicht bewaldete Landzunge ins Wasser. Es herrschte Ebbe, die Möwen pickten im schlammigen Boden. Die Bucht öffnete sich in eine weite, offene Wasserfläche, wo keine Küste mehr zu sehen war.
Er kannte diesen Ort. Das Delta des Sankt-Lorenz-Stroms.
Jetzt erinnerte er sich wieder. Er war in einem Strandgasthaus in Saint-Jean-sur-Mer, zwei Stunden nordöstlich der Stadt Québec. Les chalets sur la rivière . Hier hatte er sich an Bord von Schiffen geschlichen, um Schmugglerringe zu zerschlagen. Der Kampf gegen Drogen- und Menschenhandel. Doch es gab noch mehr Erinnerungen an dieses Zimmer, so viel mehr. Hier war er mit Nova gewesen. Auf diesem Bett hatten sie sich geliebt, hatten die Zeit und alles um sich herum vergessen.
Ja, er wusste, wo er war.
Langsam kehrten auch die Ereignisse der jüngsten Vergangenheit zurück, träge zunächst, als müssten sie sich aus dem Treibsand befreien. Der Hinterhalt, in den er geraten war. Der Schusswechsel. Die Konfrontation mit Nash Rollins.
Und davor New York. Das Attentat. Die Unruhen auf den Straßen.
Sie waren für Bourne nichts Ungewöhnliches, diese lähmenden Momente des Vergessens. Er hatte gelernt, damit zu leben. Er war ein Mensch mit bruchstückhafter Vergangenheit, ein Mann ohne Identität. Vor Jahren schon hatte er sein Gedächtnis verloren, nachdem er von einer Kugel in den Kopf getroffen worden war. Die Verletzung hatte ihm seine Vergangenheit geraubt. Geblieben waren ihm nur Bruchstücke dessen, was er einmal gewesen war, und ein Name aus einem anderen Leben, mit dem ihn nichts verband. Dieses Leben gehörte zu einem Fremden. Mit Anfang dreißig hatte er ganz neu anfangen müssen. Hatte neue Erinnerungen erwerben müssen. Auch heute noch passierte es ihm immer wieder, dass er wie in dichtem Nebel aufwachte und nicht wusste, wer er war. Dann packte ihn die Angst, dass er erneut alles verloren hatte.
Langsam taumelte er zum Badezimmer und zog an der Strippe, um die Glühbirne an der Decke einzuschalten. In dem matten gelben Licht stützte er sich mit beiden Händen auf das Waschbecken und musterte das Gesicht, das ihm aus dem Spiegel entgegenschaute.
Es war ein kantiges, aber nicht unschönes Gesicht, nur sehr blass und abgezehrt. Die kurz geschnittenen Haare waren von einem dunklen Braun, das fast schon in Schwarz überging. Die blaugrauen Augen unter der hohen Stirn hatten einen intensiven Ausdruck, die Tränensäcke spiegelten einen chronischen Schlafmangel. Er hatte sich seit Tagen nicht mehr rasiert, sodass die Stoppeln sich zu einem Bart verdichteten. Er war etwa eins fünfundachtzig groß und von athletischer Statur, doch sein Oberkörper war von frischen Wunden und blauen Flecken übersät, die ihm der Sturz von der Promenade eingetragen hatte. Es war nicht das erste Mal. Er trug am ganzen Körper die Narben früherer Verletzungen, auch über dem rechten Auge und unterhalb des Ohrs.
Als er den Brustverband entfernte, sah er, dass die Schusswunde genäht worden war. Daran konnte er sich erinnern. Er wäre fast verblutet während der halbstündigen Autofahrt aus der Stadt zu einem Mann, auf dessen Verschwiegenheit und sichere Hand er sich verlassen konnte. Anschließend hatte er der Tochter des Arztes eine stattliche Summe bezahlt, damit sie ihn hierherbrachte, während er auf dem Rücksitz schlief. Er brauchte Ruhe und Erholung, doch er konnte nicht lange hierbleiben. Es gab nicht so viele Ärzte in und um Québec. Es würde nicht lange dauern, bis sie auf einen Chirurgen im Ruhestand namens Valoix und seine Tochter stießen. Sie würden Bournes Spur hierher folgen. Ihn jagen. Ihn töten.
Warum, um Himmels willen ?
Doch im Grunde wusste er, warum. Sie dachten, er wäre wieder zu Cain geworden. Einem Namen aus der Vergangenheit, aus seiner Vergangenheit. Einem Killer.
Aus dem Zimmer hörte er lautes Klingeln, das ihn hochschrecken ließ. Seine Hand zuckte, er öffnete und schloss die Faust. In solchen Momenten der Unsicherheit war sein erster Impuls, zur Waffe zu greifen, doch die hatte er bei der Auseinandersetzung auf der Promenade verloren. Er schaute zum Nachttisch und sah das Hoteltelefon. Humpelnd durchquerte er das Zimmer und nahm den Hörer ab, ohne etwas zu sagen. Er wollte erst wissen, wer dran war.
» Bonjour, Monsieur «, meldete sich die Stimme eines alten Mannes. » Comment ça va ce matin ?«
Er verstand die Sprache, wartete jedoch einen Moment lang, bis er mit heiserer Stimme fragte: »Wer spricht?«
» C’est moi, Monsieur Bernard, bien sûr. Avez-vous faim? Voulez-vous le petit déjeuner ?«
»Ich esse später.«
»D’accord. Avez-vous besoin de quelque chose ?«
Er dachte: Es gibt wirklich etwas Dringendes. Ich muss wissen, was in New York passiert ist. Muss wissen, wer mir diesen Mord in die Schuhe schieben will .
»Nein, alles bestens«, antwortete Jason. »Wie spät ist es?«
»Kurz vor elf«, sagte der Hotelbesitzer in akzentbehaftetem Englisch. »Sie haben mir gesagt, ich soll Sie früher wecken, aber die junge Frau, die Sie hergebracht hat, meinte, le médecin hätte darauf bestanden, Sie schlafen zu lassen. Ich hoffe, das ist in Ordnung.«
»Ja. Danke.«
»Ihre Kleidung ist sauber – soll ich sie Ihnen bringen?«
»Bitte.«
»Wenn Sie mir die Frage gestatten – wird Ihre reizende Frau Sie auf dieser Reise begleiten?«, fragte der Mann.
»Meine Frau …«, murmelte Bourne.
Der Hotelbesitzer hörte sein Zögern. »Oh, ich habe doch hoffentlich nichts Falsches gesagt. Dieses entzückende Geschöpf mit den schwarzen Haaren und diesen lebhaften Augen. Sie können sich glücklich schätzen. Selbst einem alten Mann wie mir schlägt das Herz höher, wenn er eine solche Frau sieht.«
Dieses entzückende Geschöpf.
Nova.
Nein, sie waren nicht verheiratet. Es hatte nur zu ihrer Tarnung gehört, sich als Ehepaar auszugeben, als sie das erste Mal hier gewesen waren. Doch irgendwann hatten sie festgestellt, dass sie sich wirklich zueinander hingezogen fühlten. Sie waren ein seltsames Paar – die britische Geheimagentin mit griechischen Wurzeln und der Treadstone-Agent ohne Vergangenheit. Zwei Jahre hatte diese Beziehung gehalten, in der sie sich überall auf der Welt getroffen hatten, um das andere Leben wenigstens für ein paar Stunden hinter sich zu lassen. Sie hatten sogar schon von einer möglichen Zukunft zu zweit geträumt, obwohl es für Leute wie sie im Grunde dumm war, solche Pläne zu schmieden.
»Nein, diesmal bin ich allein unterwegs«, sagte Bourne.
»Ah. Quel dommage .«
»Hat jemand nach mir gefragt?«, wollte Jason wissen. »Weiß irgendjemand, dass ich hier bin?«
»Natürlich nicht. Ihre Anwesenheit ist wie immer streng vertraulich. Auf meine Diskretion können Sie sich hundertprozentig verlassen.«
»Das weiß ich zu schätzen.«
»Sie sind immer sehr großzügig gewesen, Monsieur. Wir sehen uns bald.«
Bourne legte den Hörer auf.
Einen Moment lang stand er wie gelähmt in der Dunkelheit des Hotelzimmers. Seine Gedanken waren immer noch bei Nova – ein Luxus, den er sich eigentlich nicht leisten konnte. Nova war fort. Sie war tot.
Treadstone hatte sie in Las Vegas eliminiert.
Jason arbeitete zurzeit für jemand anderen. Dort fragte man sich bestimmt schon, wo er steckte und was schiefgelaufen war. Er musste möglichst bald Kontakt aufnehmen. Er ging zu dem kleinen Tisch beim Fenster, von dem man auf die Bucht hinausblickte. Sein Mobiltelefon war da, ein nicht registriertes Handy, das er in Albany gekauft und bar bezahlt hatte, als er New York in Richtung Norden verlassen hatte. Er legte den Akku ein, den er herausgenommen hatte, um sicherzustellen, dass das Telefon nicht aufgespürt werden konnte. Er schaltete es ein und wartete, bis das Handy ein Netz fand.
Über die Kontaktnummer sollte er mit einer Frau namens Nelly Lessard verbunden werden. Sie würde sich mit folgenden Worten melden: »Carillon Technology. Mit wem darf ich Sie verbinden?« Bourne würde nach einer Nebenstelle verlangen, die eine der folgenden Nachrichten weitergab: Rufen Sie mich zurück. Ich werde verfolgt. Ein Treffen ist notwendig. Alles in Ordnung .
Eine Nummer war wie ein Notruf. Die des Personalbüros im sechsten Stock.
Es bedeutete: Notfall, muss die Operation abbrechen .
Er wählte die Nummer und wartete auf Nelly Lessards Stimme. Es kam jedoch nur ein seltsames Pfeifen, dann eine Automatenstimme: » Die Nummer, die Sie gewählt haben, ist nicht erreichbar .«
Jason spürte ein Dröhnen im Kopf. Die Wunde in der Schulter fing an zu pulsieren.
Hatte er sich verwählt? Nein.
Er versuchte es erneut – mit demselben Ergebnis. Und wieder. Und wieder. Nelly sollte rund um die Uhr erreichbar sein. Doch anscheinend war die Nummer nicht mehr gültig. Sie hatten sie ihm entzogen. Er wusste, was das bedeutete.
Die Operation war abgebrochen worden. Er wurde nicht mehr gebraucht.
Einen Weg gab es noch, mit Carillon in Kontakt zu treten. Eine Person, die er erreichen konnte. Scott DeRay hatte ihm eine private Handynummer gegeben, über die er Tag und Nacht erreichbar war. Jason hatte sie noch nie in Anspruch genommen, doch nun wählte er sie.
Eine männliche Stimme meldete sich beim ersten Klingeln, aber nicht die, die er erwartet hatte. Es war nicht die Stimme eines Freundes, sondern eines Fremden.
»Wer spricht da?«, fragte der Mann.
Damit hatte Jason nicht gerechnet. Warum hatte plötzlich ein anderer diese Nummer?
»Ich muss Scott sprechen«, sagte Jason.
»Sie haben sich verwählt.«
»Unmöglich! Ich weiß, dass die Nummer richtig ist«, beharrte Bourne. »Ich weiß, dass Sie ihn erreichen können. Das ist sein Telefon. Ich muss ihn dringend sprechen.«
»Ich kann Ihnen nicht helfen. Sie müssen die falsche Nummer gewählt haben.«
Lügner !, wollte Jason ins Telefon schreien. Er schloss die Augen und überlegte, wie viel er sagen sollte. »Hören Sie, ich muss Scott sofort sprechen. Oder Miles Priest. Sagen Sie ihnen, es … es geht um Medusa .«
Eine Weile herrschte Schweigen.
Dann sagte die Stimme: »Rufen Sie nicht mehr an.«
Als es wieder still wurde, wusste Jason, dass der Mann die Verbindung getrennt hatte.
Die Falle, die man ihm in New York gestellt hatte, war endgültig zugeschnappt. Sie hatten nichts übersehen. Jason war ein Gejagter und nun auch noch von jeder Hilfe abgeschnitten. Sogar der Freund, den er seit seiner Kindheit kannte, hatte sich von ihm abgewandt.
Bourne war allein.