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Die Schreie der Möwen begleiteten Jason auf seiner Wanderung über den steinigen Strand zu den Straßen von Saint-Jean-sur-Mer. Es war ein kühler Apriltag. Er hatte die blaue Wollmütze tief in die Stirn gezogen und trug eine Sonnenbrille, die Monsieur Bernard ihm gegeben hatte. Seine Kleidung war sauber, von den Blutflecken war nichts mehr zu sehen. Er hatte geduscht, sich rasiert und einen frischen Verband angelegt. Er sah aus wie jemand, der ein paar Urlaubstage in dem kleinen Touristenort genoss.

Die Leute besuchten Saint-Jean-sur-Mer vor allem wegen des Sankt-Lorenz-Stroms. Sie kamen zum Segeln oder zum Angeln und aßen Hummerbrötchen in den Strandcafés. Am Highway, der am Wasser entlang verlief, gab es Kunstgalerien und Bäckereien. Die Häuser hatten alle die gleichen spitz zulaufenden Dächer und weißen Fassaden. Ohne die französischsprachigen Schilder wäre er sich vorgekommen wie in Cape Cod. Das Dorf hatte nur ein paar Hundert Einwohner, deren Familien größtenteils seit vielen Generationen hier lebten.

Jason kramte in seiner Tasche, um nachzusehen, wie viel Geld er noch hatte. Nachdem er den Arzt, seine Tochter und Monsieur Bernard für ihre Hilfe bezahlt hatte, blieben ihm nur noch zweihundert kanadische Dollar. Irgendwie musste er für Nachschub sorgen. Er war sich sicher, dass das Konto, das Scott DeRay und Miles Priest für ihn eröffnet hatten, gesperrt war – wahrscheinlich mit der Instruktion, den Mann, der kam, um Geld abzuheben, möglichst lange hinzuhalten.

Sobald er sich zu erkennen gab, würden Killer losgeschickt werden.

Jason spürte noch etwas in der Jackentasche. Als er es herauszog, sah er, dass es die Schlüsselkarte für sein New Yorker Hotelzimmer am Washington Square Park war. Dort hatte der Täter sich mit einem Scharfschützengewehr postiert, während Jason sich unten in der Menge aufgehalten hatte. Aus diesem Zimmer hatte der Killer den tödlichen Schuss auf Sofia Ortiz abgegeben.

Eine Kugel in die Kehle. Eindeutig Cains Handschrift.

Er zerbrach die Schlüsselkarte und warf die Teile in zwei verschiedene Mülleimer vor den Geschäften.

Jetzt erst wurde ihm bewusst, dass er hungrig war. Er hatte seit vierundzwanzig Stunden nichts mehr gegessen. Er entschied sich für eine Brasserie, in der es Fish and Chips und Fischsuppe gab und die eine Aussicht auf die Bucht bot. Das Restaurant bestand aus einem einzigen Raum, die Tische waren mit Plastiktüchern bedeckt, auf denen Gemüse und Blumen dargestellt waren. Die Wände waren mit Stricken, Fischernetzen und Rettungsringen dekoriert. Er setzte sich an einen leeren Tisch in der Ecke, nahe der Tür, durch die man zum Strand gelangte. Er nahm die Sonnenbrille ab, ließ die Mütze aber auf.

» Oui, Monsieur? «, sprach eine mürrische Kellnerin ihn an, als wäre sein Besuch in dem halb leeren Café eine Zumutung für sie.

Er bestellte gebratene Shrimps und Kaffee.

Über dem Tresen war ein kleiner Fernseher angebracht, auf dem die internationale Ausgabe von CNN lief. Nach einer Woche war die Ermordung der Abgeordneten Sofia Ortiz immer noch das beherrschende Thema. Auf dem Bildschirm waren die chaotischen Szenen zu sehen, zu denen es nach dem Attentat gekommen war. Er hätte es sich nicht ansehen müssen – er war selbst dort gewesen und wusste nur zu gut, was sich zugetragen hatte. In den Medien war von allgemeiner Panik die Rede, von Krawallen und Ausschreitungen. Doch diese Bezeichnungen trafen es nicht wirklich. Krawalle waren unvorhersehbare, unkontrollierte Ausbrüche. Die Gewalt in New York hatte sich jedoch nach einem bestimmten Muster ausgebreitet, wie ein kontrolliertes Feuer – so als hätte jemand im Hintergrund die Ereignisse nach einem Drehbuch ablaufen und von Schauspielern in Szene setzen lassen, deren Rollen von vornherein festgelegt waren. Hinter diesen Unruhen hatte ein Plan gestanden, der unter anderem vorsah, dass Abbey Laurent zu den Opfern gehören sollte.

Jason war ihr durch die panische Menge gefolgt. Doch er war nicht der Einzige. Ein Vermummter hatte die Frau beschattet, aber nicht einer, dem es bloß um sinnlose Gewalt ging. Dieser Mann hatte Abbey Laurent nicht aus den Augen gelassen. Als Jason sah, wie er eine Pistole auf sie richtete, hatte er einen scheinbar zufälligen Zusammenstoß inszeniert, um sie zu retten. Danach hatte er den Bewaffneten überwältigt.

Der Mann hatte keinen Ausweis bei sich gehabt – nichts, was seine Anwesenheit hätte erklären können. Er war nur eine Schachfigur in dem Spiel.

Ein Söldner von Medusa.

Die Kellnerin brachte ihm das Essen. Bourne verschlang die Shrimps wie ein Verhungernder. Er konnte nicht wissen, wann er wieder Gelegenheit haben würde, etwas zu essen. Auch der Kaffee tat ihm gut. Durch das Fenster beobachtete er ein paar Kinder unten am Fluss, die Steine ins Wasser warfen. In der Ferne sah er ein Schiff Richtung Osten fahren, auf die Mündung zum Atlantik hinaus. Wenn er die Verschwörung nicht stoppen konnte, würde ihm nur noch diese Möglichkeit bleiben: im Frachtraum eines solchen Schiffes zu entkommen.

Auf der anderen Seite des Cafés wurde die Tür geöffnet und wieder geschlossen.

Bourne schaute zum Eingang und presste einen stillen Fluch hervor. Ein Polizist. Olivgrüne Polizeijacke, schwarz geränderte Mütze und eine Pistole im Holster. Er war ein großer, dünner Kerl, noch keine fünfundzwanzig Jahre alt, und kannte offenbar jeden im Café. Selbst die mürrische Kellnerin blühte auf und flirtete heftig mit ihm. Der Koch kam heraus und machte Scherze.

Es mochte Zufall sein, dass der Cop gerade jetzt gekommen war, doch Bourne wollte es nicht recht glauben. Bestimmt wussten alle Behörden Bescheid. Die Polizei suchte ihn. Bourne beobachtete den Mann aus dem Augenwinkel. Der Cop schaute sich im Restaurant um, während er mit der Kellnerin schwatzte. Er sah Bourne an dem Ecktisch und fixierte ihn einen Herzschlag länger als die anderen Gäste. Das war’s. Der Cop schaute schnell zur Seite. Zu schnell.

Jason wusste, dass er aufgeflogen war.

Er zog zwei Scheine aus der Tasche und legte sie auf den Tisch. Ohne Hast trank er seinen Kaffee aus und schob sich den letzten gebratenen Shrimp in den Mund. Dann setzte er die Sonnenbrille auf, stand auf und verließ das Café durch die Hintertür. Ein paar Holzstufen führten zum Strand hinunter, wo die Kinder spielten. Er trat zu ihnen ans Wasser, warf selbst ein paar Steine und schaute zwischendurch kurz über die Schulter zurück.

Der Polizist beobachtete ihn von der Terrasse aus. Er hatte ein Funkgerät in der Hand, um Verstärkung zu rufen.

Jason schlenderte in Richtung Osten. Nicht weit entfernt begann ein Uferabschnitt mit dicht stehenden Bäumen, aus denen vereinzelte Hausdächer herausragten. Als er sich bückte, um seinen Schuh zu binden, schaute er erneut zurück und sah, dass der Polizist ihm folgte. Der junge Cop hielt etwa fünfzig Meter Abstand und hatte die rechte Hand am Holster. Er versuchte gar nicht, seine Absicht zu verbergen, doch Jason sah ihm an seinen ruckartigen Bewegungen an, dass er nervös war.

Wenn ein Verfolger nervös ist, mach ihn noch nervöser. Tue etwas Unerwartetes. Etwas, mit dem er absolut nicht rechnet .

Treadstone.

An der Stelle, wo die Bäume dem Fluss am nächsten waren, sah Bourne eine Treppe, die zu einem Haus führte. Als er sich der Treppe näherte, sprintete er los und verschwand zwischen den Bäumen. Die jähe Bewegung jagte ihm einen stechenden Schmerz durch die Schulter, und in seinem Kopf begann es sich zu drehen. Er kämpfte gegen das Schwindelgefühl an, sprang die Treppe zum Haus hinauf und blieb kurz stehen, um sich zu sammeln. Es war eine Art Sommerhaus, mit großer Veranda und Panoramafenstern zum Fluss. Vorsichtig schlich er zur Rückseite und schaute durch ein Fenster. Drinnen standen Terrassenmöbel, mit einer Plastikplane abgedeckt. Es war niemand zu Hause.

Jason schaute zu den Bäumen zurück. Der Polizist folgte ihm langsam, sichtlich verunsichert. Ein schlauer Cop würde einfach nur aufpassen, dass er nicht entwischte, und auf Verstärkung warten. Ein nervöser Cop neigte dazu, den Helden zu spielen. Bourne duckte sich und wartete darauf, dass der Mann näher kam. Er sah nun, dass der Cop seine Waffe gezogen hatte.

Tue etwas, mit dem er nicht rechnet .

Bourne trat ein paar Schritte vor, die Hände hinter dem Kopf. »Ich ergebe mich! Ich ergebe mich, ich brauche Ihre Hilfe!«

Der Cop richtete die Pistole auf Bourne. »Keine Bewegung!«

Jason bewegte sich trotzdem. Mit erhobenen Händen kam er von der Terrasse herunter. Hinkend ging er auf den Cop zu, schaute ihm in die Augen und spürte die Angst des Mannes. »Ich bin nicht bewaffnet. Ich brauche Ihre Hilfe. Die wollen mich umbringen!«

»Stehen bleiben, hab ich gesagt. Bleiben Sie, wo Sie sind!«

»Sie dürfen nicht zulassen, dass die mich schnappen. Sie müssen mich festnehmen. Wenn die Amerikaner mich erwischen, bin ich tot.«

»Einen Schritt weiter – und ich schieße!«, drohte der Cop.

Jason blieb stehen. Sie standen drei Meter auseinander auf einem schlammigen Weg. »Klar, kein Problem. Ich sag ja, ich bin unbewaffnet. Hören Sie, ich mach keine Schwierigkeiten. Ich dreh mich um, geh auf die Knie, dann können Sie mir Handschellen anlegen. Ich will keinen Ärger. Ich will, dass alle davon erfahren. Will einfach nur überleben, verstehen Sie? Am besten rufen Sie die Reporter her. Die bringen Ihr Bild in der Zeitung.«

»Klappe ! Machen Sie es so, wie Sie gesagt haben. Umdrehen und auf die Knie. Los!«

»Klar. Mach ich. Danke. Sie retten mir das Leben!«

Bourne drehte sich um und ließ sich auf die Knie nieder. Die Hände verschränkte er hinter dem Kopf. Er schloss die Augen, hielt den Atem an und konzentrierte sich mit allen Sinnen auf die Bewegungen des Mannes hinter ihm. Er hörte das schmatzende Geräusch seiner Schuhe im Schlamm, das schwere, nervöse Atmen. Der Cop kam näher. Er war nun direkt hinter ihm, bückte sich, war nur noch Zentimeter entfernt. Dann hörte Jason das Geräusch, auf das er gewartet hatte: das leise Scharren von Metall auf Leder, als der Cop die Pistole ins Holster schob, um zu den Handschellen zu greifen.

Bourne wirbelte herum und rammte dem Mann den Ellbogen in die Nieren. Mit der anderen Hand zog er ihm die Waffe aus dem Holster. Dann ließ er den Ellbogen nach oben schnellen und traf den anderen am Kinn. Blitzschnell setzte Bourne nach und verpasste ihm einen Schlag mit dem Handrücken gegen das Ohr. Der Cop taumelte zur Seite, und Jason hämmerte ihm die schwere Pistole gegen die Stirn. Der junge Polizist war benommen, hielt sich aber auf den Beinen. Erst als Bourne noch einmal zuschlug, sackte er zu Boden und blieb bewusstlos liegen.

Jason rappelte sich auf. Er spürte etwas Feuchtes auf der Haut und sah, dass das Hemd über der Schulter von Blut durchtränkt war. Die Naht war aufgeplatzt. Er stolperte die Stufen zum Fluss hinunter, doch dann blieb er abrupt stehen. Sie waren ihm auf den Fersen – aber nicht die Polizei. Er hörte keine Sirenen, sondern ein scharfes Knattern aus der Luft.

Ein Hubschrauber.

Jason schaute nach oben und sah den schwarzen Helikopter, der sich zum Strand herabsenkte wie ein riesiges Insekt. Noch bevor die Kufen aufgesetzt hatten, sprangen mindestens fünf Bewaffnete in Kampfanzügen aus der offenen Tür und landeten im seichten Wasser, keine hundert Meter von den Bäumen entfernt. Jeder hatte ein Automatik-Gewehr in der Hand. Sie konnten ihn zwar noch nicht sehen, doch der Funkspruch des nervösen Cops hatte sie zu ihm geführt. Sie wussten, wo er war. Das halbe Einsatzkommando eilte über den Strand auf die Bäume zu, die übrigen rannten zur Straße, um ihm den Weg abzuschneiden.

Bevor Bourne reagieren konnte, hörte er einen zweiten Hubschrauber, der Sekunden später über den Bäumen auftauchte und sich dem anderen Ende des Strands näherte. Sie nahmen ihn in die Zange.

Jason eilte die Treppe hinauf und rannte zum Haus. Er ignorierte die Schmerzen und die Benommenheit, die ihn umfing. Der junge Cop lag immer noch bewusstlos im Schlamm, und Jason sprang über ihn hinweg zur Straße. Er musste weg hier, und zwar schnell! In weniger als einer Minute würden schwer bewaffnete Männer die Straße in beiden Richtungen abriegeln. Er hetzte am Haus vorbei zur Route 132 und sprang wild gestikulierend auf die Fahrbahn, um einen Audi anzuhalten, der Richtung Süden unterwegs war.

Mit kreischenden Bremsen kam der Wagen zum Stehen. Vorn saßen zwei Leute, ein Mann und eine Frau. Der Fahrer schimpfte aufgebracht.

Bourne lief zur hinteren Tür, riss sie auf und richtete die Pistole des Polizisten auf den Kopf des Mannes.

»Fahren Sie.«

Der Fahrer war ein bärtiger Geschäftsmann in den Fünfzigern in weißem Hemd und marineblauem Sportjackett. Die blonde Frau neben ihm war gerade einmal halb so alt. Der Zorn im Gesicht des Mannes erlosch, als er die Waffe sah, und er riss erschrocken die Augen auf. »Scheiße, nehmen Sie das Auto. Nehmen Sie das Auto!«

» Fahren Sie «, befahl Bourne, zog die Tür zu und legte sich auf den Boden vor der Rückbank. »Meine Pistole zielt genau auf Ihre Wirbelsäule. Falls Sie stehen bleiben, schieße ich, und Sie sind für immer gelähmt. Verstanden? Und jetzt fahren Sie endlich.«

»Jaja, alles klar.«

Jason hörte die Reifen quietschen, als der Wagen beschleunigte.

» Nicht zu schnell !«, warnte er. »Fahren Sie unauffällig. Es kann sein, dass Männer mit Gewehren vom Fluss heraufkommen. Wenn Sie denen irgendein Signal geben, sind Sie beide tot.«

»Okay! Ich fahre! Tun Sie uns nichts! Wohin wollen Sie?«

»Erst mal Richtung Süden.« Bourne schloss die Augen und drückte eine Hand auf die Wunde in der Schulter. »Sobald wir weit genug weg sind, sage ich Ihnen, wohin ich will.«