Abbey wusste, dass der Polizist ihr nicht glaubte. Im Artilleriepark waren alle Spuren ihrer Auseinandersetzung mit dem Mann mit der Goldrandbrille beseitigt. Er war fort. Ihr Taser ebenso. Zeugen gab es keine.
Der Polizeibeamte sah aus wie ein Butler in einem königlichen Palast. Er war Mitte dreißig, strahlte jedoch eine wichtigtuerische Arroganz aus, für die die meisten Männer mindestens fünfzig Jahre alt werden müssen. Er war groß und schlank, hatte braune, in der Mitte gescheitelte Haare und ein Menjoubärtchen, über das er nachdenklich mit dem Finger strich.
»Sie haben diesen Mann nicht gekannt?«, fragte der Cop skeptisch. »Haben ihn noch nie gesehen?«
»Nein, aber er hat mich gekannt. Er hat vor dem Pub auf mich gewartet und mich mit meinem Namen angesprochen.«
»Könnte er Sie gesehen haben, als Sie drin waren?«
»Das kann gut sein. Ich habe ihn nicht bemerkt, aber möglich wäre es.«
»Haben Sie gestern Nacht viel getrunken?«, fragte der Polizist und beäugte sie von oben herab.
»Ein Bier. Was hat das damit zu tun?«
»Hmm«, machte der Cop und mahlte mit dem Kiefer, als würde er an etwas Ungenießbarem kauen. »Und Sie sagen, der Mann hat Sie mit einer Pistole bedroht?«
»So ist es. Er wollte mich umbringen.«
»Wie können Sie das wissen?«
»Na ja, die Pistole könnte so was vermuten lassen, oder?«, versetzte Abbey.
Sie trat ungeduldig von einem Fuß auf den anderen und schaute sich im Park nach eventuellen Beobachtern um. Vielleicht wurde sie tatsächlich verfolgt, und zwar nicht erst seit letzter Nacht. Möglicherweise war man bereits in New York hinter ihr her gewesen. Sie war müde, zornig und paranoid. Die Nacht hatte sich zu einem Desaster entwickelt. Nach allem, was passiert war, hatte sie nicht in ihre Wohnung zurückkehren wollen. Deshalb hatte sie bei einer Freundin auf der Couch geschlafen. Abbey hatte ihr erzählt, sie wolle einem ehemaligen Freund aus dem Weg gehen. Sie hatte kaum ein Auge zugetan. Am Morgen hatte sie hin und her überlegt, ob sie den Vorfall der Polizei melden sollte. Ihr Chefredakteur Jacques hatte ihr dazu geraten, doch nun bereute sie ihre Entscheidung.
»Hat dieser Mann etwas von Ihnen gewollt?«, fragte der Polizeibeamte weiter. »Geld vielleicht? Oder glauben Sie, dass er Sie sexuell attackieren wollte?«
»Nein. Ich glaube, dass er mich erschießen wollte.«
»Hatten Sie Streit? War er wütend?«
»Nein, er war nicht wütend, sondern ganz ruhig. Das war ein eiskalter Killer. Er hat auf mich gewartet, um mich umzubringen. Hätte ich meinen Taser nicht dabeigehabt, wäre ich jetzt tot.«
»Ah ja, der Taser«, murmelte der Cop in zurechtweisendem Ton. »Gut, dass Sie darauf zurückkommen. Ist Ihnen klar, Ms. Laurent, dass es in Kanada nicht erlaubt ist, einen Taser bei sich zu tragen? Es ist eine Straftat, eine solche Waffe zu importieren und zu besitzen. Wenn er verschwunden ist, wie Sie behaupten, können wir es diesmal dabei bewenden lassen, aber ich rate Ihnen dringend, sich keinen neuen anzuschaffen.«
Abbey strich sich ein paar mahagonifarbene Strähnen aus den Augen. »Echt jetzt, Sie machen sich Sorgen wegen meines Tasers? Ist das das Einzige, was Sie stört? Ein Mann hat versucht, mich umzubringen. Genau hier. Ein bezahlter Killer.«
»Also, das klingt ziemlich dramatisch, aber vielleicht sollten wir keine voreiligen Schlüsse ziehen«, belehrte er sie mit spöttischem Unterton. »Ich weiß schon, ihr Journalisten fühlt euch alle wie Figuren in einem Tarantino-Film, aber wenn es wirklich so war, wie Sie sagen, war dieser Mann höchstwahrscheinlich ein Stalker.«
»Nennen Sie ihn, wie Sie wollen. Die Frage ist, was Sie unternehmen, um ihn zu finden.«
»So gern wir Ihnen helfen würden, Ms. Laurent, aber wir haben leider sehr wenig in der Hand. Ehrlich gesagt haben Sie wahrscheinlich größere Chancen, den Mann zu identifizieren, als wir. Wenn Sie wissen, um wen es sich handelt, oder er Ihnen noch einmal über den Weg läuft, melden Sie sich bei uns.«
»Haben Sie denn nicht Kameras überall in der Stadt?«, hakte Abbey nach. »Ich habe Ihnen den Mann beschrieben und genau angegeben, wann es passiert ist. Wie schwer kann es denn sein, die Kameras in der Umgebung des Pubs zu prüfen? Vielleicht ist er mit dem Auto gekommen, dann hätten Sie das Kennzeichen. Vielleicht wohnt er sogar in einem Hotel hier in der Stadt.«
Der Polizist sah sie gequält an, als wünschte er sich nur, dass sie ihn nicht weiter damit behelligte. »Normalerweise wäre das eine Option, aber leider gab es gestern Nacht ein technisches Problem in der Stadt. Die meisten Überwachungskameras waren außer Betrieb.«
»Außer Betrieb?«, fragte Abbey ungläubig. »Passiert so was oft?«
»Nein, sogar sehr selten.«
»Wann ist das Problem aufgetreten? Wann genau sind die Kameras ausgefallen?«
»Irgendwann kurz vor zehn Uhr. Das Problem konnte erst ein paar Stunden später behoben werden.«
»Seltsamer Zufall, finden Sie nicht?«, sagte Abbey. »Um zehn Uhr war ich beim Château Frontenac, das habe ich Ihnen ja schon erzählt. Und jetzt gibt es keine Möglichkeit mehr, zu bestätigen, was ich Ihnen gesagt habe. Hören Sie, was ist dort überhaupt passiert?«
»Es gab einen Vorfall, aber im Moment können wir dazu keine Angaben machen.«
»Aus welchem Grund? Warum diese Geheimniskrämerei? Was wird da vertuscht? Ich wollte mich auf der Promenade mit jemandem treffen, der aber nicht gekommen ist. Später höre ich, dass es dort zu einer tödlichen Schießerei kam. Dann gibt sich jemand als die Person aus, mit der ich mich treffen wollte, und versucht mich umzubringen. Und Sie wollen mir weismachen, dass das alles reiner Zufall ist?«
»Falls Sie Fragen zu dem Vorfall beim Château Frontenac haben oder etwas mitzuteilen haben, melden Sie sich bei der Pressestelle. Dort wird man Sie an die zuständigen Behörden weiterleiten.«
»Die zuständigen Behörden? Heißt das, die Polizei von Québec ist gar nicht mit den Ermittlungen befasst?«
Der Polizeibeamte schwieg und widmete sich wieder der Pflege seines Schnurrbarts.
»Was soll ich jetzt tun?«, fuhr Abbey fort. »Nach Hause gehen? Was ist, wenn der Kerl mir auflauert?«
»Falls Sie sich um Ihre Sicherheit sorgen, sollten Sie sich natürlich sofort an uns wenden«, sagte der Beamte mit einem herablassenden Lächeln. Dann nahm er ein Mobiltelefon von seinem Gürtel und schaute sie mit einem Blick an, der ihr zu verstehen gab, dass er Wichtigeres zu tun habe. »Wenn Sie keine weiteren Informationen haben, sind wir, glaube ich, hier fertig.«
Abbey zog die Stirn in Falten. »Danke für Ihre Hilfe.«
»Und vergessen Sie bitte nicht, was ich Ihnen über den Taser gesagt habe, Ms. Laurent.«
»Alles klar.«
Abbey stapfte frustriert davon. Als sie noch einmal kurz zurückblickte, schaute der Polizist ihr nach, wie um sicherzugehen, dass sie auch wirklich ging. Abbey schaute sich nicht noch einmal um, ihre Sohlen knirschten auf dem Kiesweg. Bei der Touristeninformation bog sie ab und ging ein paar Schritte die Steinmauer beim Eingangstor entlang.
Als sie wusste, dass er sie nicht mehr sehen konnte, kehrte sie um und schlich zur Ecke zurück, um zu lauschen.
Der Polizist telefonierte nun, doch sie brauchte einen Moment, um ihn wiederzuerkennen, denn seine Stimme klang völlig verändert. Nicht mehr wie ein gelangweilter, überlasteter Cop, der sich mit dem Anliegen einer Bürgerin herumschlagen musste, sondern wie jemand, der es gewohnt war, Befehle zu geben. Wie ein Cop klang er jedenfalls nicht.
Eher wie ein Spion.
Die zuständigen Behörden .
»Ich habe gerade mit dieser Laurent gesprochen«, hörte sie den Mann in gepflegtem Französisch sagen. »O ja, die waren hinter ihr her, das ist sicher. Sie hat den Mann beschrieben, der es auf sie abgesehen hatte. Groß, kräftig, blond, Mitte vierzig, Goldrandbrille. Nein, das war bestimmt nicht Cain, sagen Sie das den Amerikanern. Das war ihre Operation und ihr Schlamassel. Sollen die sich darum kümmern.«
Abbey hatte genug gehört. Sie stieß sich von der Wand ab und rannte zum Tor, damit der Mann nicht bemerkte, dass sie ihn belauscht hatte. Er hatte den Namen ausgesprochen, der ihr seit einer Woche Albträume verursachte.
Cain .
Die Promenade war im Bereich des Château Frontenac immer noch mit einem Absperrband versehen und von Polizisten bewacht, um unbefugten Zutritt zu verhindern. Abbey versuchte möglichst harmlos zu wirken, als sie sich auf die Stufen der Champlain-Statue beim Zugang zur Seilbahn setzte, die die Touristen hinunter in die Unterstadt brachte. Um ihr Gesicht zu verbergen, trug sie eine Sonnenbrille. Sie trank den Kaffee, den sie sich im Hotel geholt hatte, und schaute immer wieder auf die Uhr, als wartete sie auf jemanden.
Die Bewachung des Tatorts durch die städtische Polizei war nur ein Ablenkungsmanöver. Die eigentliche Ermittlung ging jenseits des Absperrbands vor sich, und die zuständigen Personen waren sicher keine Polizisten. Sie trugen Anzüge und Ohrhörer, die mit Funkgeräten verbunden waren, und waren eindeutig bewaffnet. Abbey hatte schon mit allen möglichen Behörden zu tun gehabt und wusste, dass es sich um ein Team von Agenten handelte. Amerikanische Agenten. Die fielen auch dann auf, wenn sie versuchten, möglichst unauffällig zu wirken. In einer solchen Operation musste es sich mit ziemlicher Sicherheit um Leute von der CIA handeln.
Der Chef des Teams war nicht schwer zu erkennen. Er blaffte allen anderen Befehle zu. Er war ein kleiner, hart aussehender Mann in den Fünfzigern, mit einem Gesicht, das längst verlernt hatte, zu lächeln. Obwohl heute die Sonne schien, trug er einen grauen Regenmantel über dem Anzug und seinen Filzhut tief in die Stirn gezogen. Der Mann hatte offensichtlich Schmerzen. Er ging umständlich auf einen Stock gestützt und verzog bei jedem Schritt das Gesicht. Abbey holte ihr Mobiltelefon hervor und tat so, als würde sie eine Nachricht tippen, während sie in Wahrheit auf das Gesicht des Mannes zoomte und mehrere Fotos schoss.
Sie hatte jede Menge Kontakte in den amerikanischen und kanadischen Regierungsbehörden. Irgendjemand würde ihr bestimmt sagen können, wer der Mann war.
Abbey stieg die Stufen hinunter und schlenderte zum Absperrband. Sie knipste ein Selfie mit dem Château Frontenac im Hintergrund und ging auf einen jungen, gut aussehenden Cop zu. »Wow«, sagte sie mit ihrem gewinnendsten Lächeln, »was ist denn hier los? So viele Cops hab ich hier noch nie gesehen.«
»Sie müssen sich keine Sorgen machen, Miss«, versicherte der junge Polizeibeamte.
»Hoffentlich. Manche sagen aber, dass hier Leute erschossen wurden! Das ist unglaublich. Haben Sie den Täter erwischt?«
»Es besteht keine Gefahr für die Bevölkerung.«
»Oh, gut. Da bin ich erleichtert.« Abbey fuhr sich mit den Fingern durch die Haare und neigte neckisch den Kopf zur Seite – eine kleine Geste, von der sie wusste, dass sie ihr einen besonderen Reiz verlieh. »Wie viele Leute wurden denn getötet?«
»Wir können im Moment keine Informationen herausgeben. Wenn Sie heute Abend die Nachrichten einschalten, werden Sie vielleicht schon mehr erfahren.«
»Klar. Das verstehe ich. Aber stimmt es, dass jemand erschossen wurde?«
»Es tut mir leid, wir können wirklich nicht …«
»Jaja, ich weiß schon, Sie können keine Informationen herausgeben. Es ist nur so – ich schreibe Artikel für The Fort , das Online-Magazin. Kennen Sie es? Sollten Sie mal lesen. Wir suchen immer nach richtigen Knüllern. Also, wenn ich meinem Chefredakteur eine solche Geschichte liefern könnte, wäre ich die Heldin des Tages. Und Sie in Ihrer Position wissen doch sicher mehr als die meisten, oder? Können Sie mir nicht ein paar inoffizielle Informationen geben? Total anonym natürlich. Wenn Sie mir einen kleinen Tipp geben, lade ich Sie am Wochenende auf einen Drink ein.«
Der junge Cop war in der Zwickmühle. Er schaute links und rechts, um sich zu vergewissern, dass niemand in der Nähe war. »Man hat uns nichts gesagt. Die halten alles unter Verschluss.«
»Klar, das verstehe ich. Sie sind übrigens echt süß. Vielleicht können wir uns trotzdem mal auf einen Drink treffen. Hey, wissen Sie vielleicht, wer hier das Sagen hat? Dieser Typ, der ein bisschen hinkt, wissen Sie, wer der ist?«
»Jemand hat ihn Rollins genannt. Mehr weiß ich auch nicht.«
»Rollins. Er ist Amerikaner, stimmt’s?«
»Das sind alle hier.«
Abbey beugte sich so nahe zu ihm, dass er ihr Parfüm schnuppern konnte. »Hat irgendjemand etwas über die Sache in New York gesagt? Angeblich soll es da einen Zusammenhang mit dem Mord an der Kongressabgeordneten geben.«
»Davon weiß ich nichts.«
»Und der Name Cain ? Hat den vielleicht jemand erwähnt?«
Der Cop machte ein unbehagliches Gesicht, als wäre ihm bewusst geworden, dass er nichts hätte sagen dürfen. »Es tut mir leid, Miss, aber Sie gehen jetzt besser. Wenn uns jemand hier reden sieht, kann ich Ärger kriegen. Wir dürfen nicht mit Reportern sprechen.«
»Klar, das verstehe ich schon. Danke für Ihre Hilfe.«
Abbey ging weiter. Als sie im Gehen noch einmal kurz zurückschaute, erstarrte sie.
Der amerikanische Agent namens Rollins stand auf seinen Gehstock gestützt und schaute direkt zu ihr.
Als wüsste er genau, wer sie war.