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Bourne ließ den Audi auf einem leeren Parkplatz hinter dem Musée National des Beaux-Arts in Québec stehen. Das Auto würde wahrscheinlich erst morgen gefunden werden, doch er hatte ohnehin nicht vor, es noch einmal zu benutzen. Wenn es so weit war, würde er einen anderen Weg finden, um aus der Stadt zu kommen. Er ließ alle Mobiltelefone zurück, auch sein eigenes, mit dem er zuvor Miles Priest und Scott DeRay angerufen hatte. Die würden ihn aufspüren, sobald er es einschaltete. Er würde sich unterwegs ein neues Einweghandy besorgen.

Es war kurz vor acht Uhr abends. In der Dunkelheit marschierte er zwischen den alten Bäumen und sanften Hügeln der Parkanlage hindurch, die als »Abraham-Ebene« bekannt war und auf der einst eine Schlacht zwischen französischen und britischen Truppen stattgefunden hatte. Als er die Innenstadt erreichte, suchte er sich als Erstes eine billige Jugendherberge nahe der Rue Dauphine, in der hauptsächlich Studenten wohnten. Er zahlte in bar für ein winziges Zimmer, in dem nicht viel mehr als ein Bett stand. Das Bad befand sich auf dem Gang.

Als er das Haus verließ, kamen ihm zwei junge Leute entgegen, die nach türkischem Kaffee und Marihuana rochen. Er sprach sie an, behauptete, dass sein Handy den Geist aufgegeben habe, und fragte, ob sie eine kurze Google-Suche für ihn machen würden. Neunzig Sekunden und zehn Dollar später wusste er, wo sich die Redaktionsräume des Online-Magazins The Fort befanden.

Der Herausgeber und Chefredakteur war Jacques Varille.

Abbey Laurent war die Chefreporterin des Magazins.

Das Büro lag nur ein paar Blocks entfernt in einem grauen Steingebäude gegenüber dem Esplanade Park. Die gepflasterte Rue d’Auteuil schien völlig verlassen, doch Jason mied die Straße dennoch und näherte sich dem Haus vom Park her, wo die Bäume ihm Deckung boten. Er schaute sich nach irgendwelchen Anzeichen eines Hinterhalts um. Die Fenster waren dunkel, auch die der Büroräume im obersten Stockwerk, in denen The Fort zu Hause war. Auch in den Querstraßen schien sich niemand aufzuhalten, doch Jason ließ etwas Zeit verstreichen, bevor er sich aus der Deckung wagte. In seinem Geschäft überlebte man nur, wenn man geduldig war. Als er sich sicher war, dass niemand das Haus überwachte, sprintete er über die Kreuzung.

Die Haustür war mit Glasfenstern versehen. Mit dem Griff seiner Pistole schlug er ein Fenster ein, langte zwischen den scharfen Glasrändern hindurch und öffnete die Tür. Mit der Pistole in der Hand trat er ein und stieg die Treppe bis ins oberste Stockwerk hinauf. An einer Tür trug ein Schild die Aufschrift The Fort . Ein kräftiger Tritt – und die Tür gab nach.

Er richtete den schwachen Lichtstrahl seiner kleinen Stiftlampe auf den Boden und achtete darauf, nicht in die Nähe des Fensters zu leuchten. Die Redaktion des Online-Magazins war nicht groß – sie bestand aus einem einzigen Raum mit einem halben Dutzend Schreibtischen, einem Wandschrank, einer winzigen Küche und einem Laserdrucker. An den Wänden hingen billige Plakate mit touristischen Motiven, auf denen kanadische Landschaften zu sehen waren. Es roch nach Pizza, was an dem Karton lag, den jemand in einen Abfalleimer gestopft hatte. Bourne ging von einem Schreibtisch zum nächsten, bis er ganz hinten Abbey Laurents Platz fand. Er erkannte ihn an den Fotos, die eine attraktive Frau mit mahagonifarbenen Haaren zeigten. Die Frau, die er in New York vor einem Killer gerettet hatte. Die Frau, die er durch sein Fernglas auf der nächtlichen Dufferin-Terrasse beobachtet hatte.

Die Frau, deretwegen er in eine Falle getappt war.

Hatte sie gewusst, was passieren würde? Gehörte sie zu Medusa? Oder hatte die Organisation sie nur für ihre Zwecke benutzt, ohne dass sie etwas ahnte?

Er nahm eine gerahmte Fotografie von ihrem Schreibtisch, die Abbey mit einem großen, schlanken Mann im grauen Anzug zeigte, der einige Jahre älter als sie war. Der Mann hatte besitzergreifend den Arm um ihre Taille gelegt und hielt in der anderen eine lederne Aktentasche. Um den Hals trug er einen Ausweis, der ihn als Teilnehmer einer UNO -Konferenz zu erkennen gab. Bourne erkannte den Hintergrund, vor dem das Foto aufgenommen worden war: Die zwei standen in der Halle der Grand Central Station. An den unteren Bildrand hatte jemand in sauberer Handschrift geschrieben: Abbey et Michel, New York . Dazu ein Datum aus dem letzten Jahr.

Jason konnte sich die beiden nur schwer als Paar vorstellen. Der Mann auf dem Foto hatte das reservierte, humorlose Lächeln eines Diplomaten. Abbey hingegen lächelte in die Kamera wie jemand, der das Leben als eine einzige wilde Achterbahnfahrt nahm. Sie trug ein kurzes schwarzes Kleid mit tiefem Ausschnitt und Rüschenärmeln. Abbey hatte etwas an sich, das ihn an Nova erinnerte, auch wenn die beiden Frauen einander nicht ähnlich sahen.

Bourne begutachtete ihren unaufgeräumten Schreibtisch, auf dem kaum ein Quadratzentimeter frei war. Überall lagen dicht beschriebene Zettel, auf denen sie ihre Einfälle festgehalten hatte. An den Rändern ihres Computerbildschirms klebten gelbe Haftnotizen. Alles deutete auf einen wachen, kreativen, wenn auch leicht chaotischen Menschen hin.

Er öffnete die oberste Schublade. Darin lagen ein Dutzend Uni-ball-Stifte, zwei Dosen Pfefferminzbonbons und Gutscheine für so gut wie jedes Fastfood-Restaurant in der Stadt. Dazwischen ein digitales Aufnahmegerät.

Jason nahm das Gerät heraus und drückte die Rücklauftaste.

Die aufgenommene Stimme hallte laut in dem dunklen, leeren Raum. Schnell drehte er die Lautstärke herunter und hielt sich das Gerät ans Ohr.

» Frau Abgeordnete, manche meinen, dass Privatsphäre und Datenschutz im Zeitalter der sozialen Medien etwas Veraltetes sind. Ich nehme an, Sie sehen das anders .«

Er hatte noch nie Abbey Laurents Stimme gehört, doch er war sich sicher, dass sie es war. Die schnelle, atemlose Sprechweise passte zu ihrem Gesicht. Sie klang, als habe ihr Mund Mühe, mit dem Flug ihrer Gedanken mitzuhalten. Augenblicke später hörte Bourne eine Stimme, die er aus dem Fernsehen kannte.

Die Kongressabgeordnete Sofia Ortiz.

» Sie haben recht, ich sehe das anders. Wenn Sie mich fragen, ob es uns einen Nutzen bringt, dass sich heute so viel online erledigen lässt, und ob all diese Apps unsere Lebensqualität erhöhen, dann sage ich: ja, absolut. Aber die Frage ist, wer die Kontrolle über die ungeheuren Mengen an Daten hat. Nehmen wir zum Beispiel unsere persönlichen Daten – die sollten jedem von uns selbst gehören. Ohne Wenn und Aber. Aber ich fürchte, dass die Big-Tech-Konzerne diese simple Tatsache vergessen haben. Diese Firmen haben sich eine Monopolposition gesichert, die ihnen zu viel Geld, Macht und Einfluss verschafft und ihnen jede Möglichkeit gibt, die Daten zu missbrauchen. Deshalb muss man ihnen klare Grenzen setzen .«

» Apropos Missbrauch «, sagte Abbey. » Laut einer meiner Quellen behaupten Sie, dass die Big-Tech-Firmen einen groß angelegten Datenhack vertuschen. Einen Datenraub, der die meisten Online-User betrifft. Was können Sie dazu sagen

» Dazu möchte ich mich nicht äußern «, sagte Sofia Ortiz. Als sie fortfuhr, konnte Jason ein Lächeln in ihrer Stimme hören. » Jedenfalls nicht offiziell .«

» Und inoffiziell

» Inoffiziell möchte ich nur so viel sagen: Die Leute werden schockiert sein vom Umfang der gestohlenen Daten .«

» Wissen Sie, wer dahintersteckt

» Nein. Wie soll man einen Täter ermitteln, wenn die Technologieriesen behaupten, es sei gar nichts passiert? Wie immer in solchen Fällen denkt man als Erstes an die üblichen Verdächtigen im Ausland. Russland, China, Iran .«

» Wie schätzen Sie die Gefahr ein, dass diese Daten in die falschen Hände geraten

» Ehrlich gesagt, immens. Es ist heute schon üblich, dass Firmen, die online für ihre Produkte werben, Daten dafür nutzen, unser Kaufverhalten zu beeinflussen. Stellen Sie sich vor, Ihre persönlichen Daten gelangen in die falschen Hände, und jemand setzt sie für andere Zwecke ein. Um Ihr Denken zu beeinflussen, Ihre Überzeugungen, Ihr Wahlverhalten. Das ist die Situation, mit der wir heute konfrontiert sind .«

» Es gibt ja bereits eine neue Software, die angeblich weiß, was wir wollen, bevor es uns selbst bewusst ist«, sagte Abbey. »Prescix behauptet, unser Verhalten vorhersehen zu können. Wenn Sie sich nicht entscheiden können, was Sie essen wollen, sagt die App es Ihnen. Ich hab’s ausprobiert – es ist schon unheimlich, wie gut dieses Programm über unsere Bedürfnisse Bescheid weiß .«

» Prescix « , sagte Ortiz nachdenklich. » Ja, ich kenne die Software, aber ihr eigentlicher Zweck liegt nicht darin, vorherzusehen, was Sie tun werden, oder Ihnen bewusst zu machen, was Sie wollen. Die App ist nicht so harmlos, wie sie präsentiert wird. Die eigentliche Absicht dahinter ist vielmehr, Ihnen zu sagen, was Sie tun sollen. Es ist ein Werkzeug, um Sie zu manipulieren, damit Sie genau das tun, was gewisse Leute wollen .«

Jason schaltete das Aufnahmegerät aus.

Das Interview bestätigte, was Miles Priest und Scott DeRay gesagt hatten – dass Abbey durch eine unbekannte Quelle von dem Datenklau erfahren hatte. Die Frage war, ob diese Person ihm helfen konnte, an Medusa heranzukommen.

Er brauchte einen Namen.

Bourne sah die Mappen und Notizbücher auf Abbeys Schreibtisch durch. Sie war enorm aktiv und hatte eine ganze Reihe von Projekten in Arbeit, doch er fand keine Notizen, die in irgendeiner Weise mit Sofia Ortiz zu tun hatten. Nichts, was ihm hätte verraten können, wer die geheimnisvolle Quelle war. Falls sie noch mehr Material über Ortiz und die Big-Tech-Konzerne besaß, so bewahrte sie es wohl nicht in ihrem Büro auf. Er musste die Frau finden und mit ihr sprechen.

Jason schaute auf die Uhr. Er hielt sich schon mehr als zehn Minuten in der Redaktion von The Fort auf – länger zu bleiben, konnte gefährlich werden. Doch es gab noch etwas, das ihn interessierte: Abbeys Computer. Der PC stand unter ihrem Schreibtisch. Er schaltete ihn ein, und der Bildschirm erwachte zum Leben. Ein Passwort wurde verlangt, doch er hatte nicht die Zeit, um es zu knacken. Interessant fand er jedoch das Foto, das den Desktop zierte.

Es zeigte den Red Rock Canyon bei Las Vegas.

Das Bild jagte ihm einen kalten Schauer über den Rücken. Las Vegas .

Es konnte natürlich Zufall sein. Millionen Menschen besuchten die Stadt als Touristen. Dass Abbey Laurent auch schon dort gewesen war, hatte vielleicht überhaupt nichts zu bedeuten. Doch es war auch die Stadt, in der Nova ermordet worden war.

Er loggte sich als Gast in den Computer ein. Er hatte zwar keinen Zugang zu Abbeys Dateien, konnte aber wenigstens eine Web-Suche durchführen. Er tippte ein: Abbey Laurent Las Vegas . Der erste Eintrag raubte ihm den Atem:

DER MÖRDER VON NEBENAN

Das unauffällige Leben von Amerikas schlimmstem Massenmörder

Abbey hatte ein Porträt von Charles Hackman verfasst.

Sie hatte über den Mann geschrieben, der Nova ermordet hatte, zusammen mit sechsundsechzig weiteren Männern, Frauen und Kindern.

Bournes Atem ging schneller, als ihn ein Flashback überkam. In seinem Kopf hörte er die Schüsse, die Schreie. Er sah Menschen in Panik. Doch es gab keinen Ausweg, kein Entkommen. Sie waren leichte Ziele für den Mann am Hotelfenster.

Dann sah er Nova, tot inmitten des allgemeinen Chaos. Ein Mann, den er kannte, trug ihre Leiche fort.

Ein Treadstone-Agent.

Jason hatte keine Zeit, um weiterzulesen. Jetzt erst sah er die Webcam, die am Monitor befestigt war. Das grüne Licht leuchtete. Die Kamera war eingeschaltet.

Jemand beobachtete ihn.

Er riss die Kamera herunter und trennte sie vom Computer. Viel Zeit blieb ihm nicht, höchstens Sekunden. Er rannte zur Tür und die Treppe hinunter. Statt das Haus durch den Vordereingang zu verlassen, folgte er einem staubigen Korridor zur Rückseite des Gebäudes und fand einen Ausgang, der in eine Nebenstraße führte. Er öffnete die Tür einen Spaltbreit und lugte hinaus. Es war niemand zu sehen. Er rannte über die Straße zu einem Eisenzaun auf einer Steinmauer. Dahinter lag ein Wohnhaus der gehobenen Kategorie. Bourne sprang am Zaun hoch, stützte sich mit einem Fuß auf eine Querstange und schwang sich auf die andere Seite. Er warf sich auf den feuchten grünen Rasen und wartete.

Lange brauchte er nicht zu warten.

In der Rue d’Auteuil flammten Scheinwerfer auf. Ein SUV hielt vor dem Haus, in dem die Redaktion von The Fort untergebracht war. Drei Männer sprangen aus dem Wagen, alle in beigefarbenen Trenchcoats. Einer lief zu der Seitenstraße mit dem Ausgang, durch den Jason das Haus verlassen hatte, ein anderer rannte zur Vordertür mit dem eingeschlagenen Fenster.

Der Dritte, der offenbar das Sagen hatte, wartete ab. Sein unbeteiligter Ausdruck täuschte – aus langjähriger Erfahrung sah Bourne ihm an, dass er ein Killer war. Der Mann nahm seine Goldrandbrille ab und putzte sie, während er beim Haus wartete. Dann schaute er sich mit den Augen eines Habichts um, als könnte er Jasons Anwesenheit spüren. Hinter dem Zaun duckte Jason sich noch tiefer ins Gras, um nicht gesehen zu werden, obwohl es stockdunkel war.

Fast eine Minute verging, bis der Mann mit der Goldrandbrille seinen Kollegen in das leere Gebäude folgte. Die Straße war wieder verlassen.

Bourne sprang auf und rannte.