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Mit den Essstäbchen aus Keramik, die Abbey in Hongkong gekauft hatte, fischte sie die Nudeln aus dem weißen Karton mit dem Menü, das sie sich beim Chinesen geholt hatte. Mit der anderen Hand tunkte sie die Frühlingsrolle in den würzigen Senf und biss ab. Nach ein paar nervösen Bissen stand sie von ihrem Bürostuhl beim Computer auf und trat ans Fenster ihres Apartments – nicht zum ersten Mal, seit sie nach Hause gekommen war. Die Jalousien waren geschlossen, doch sie schob sie zur Seite und spähte auf die Feuerleiter und die schmale Gasse mit dem Namen Rue Saint-Flavien hinaus. Im Licht der Straßenlaterne war nichts Auffälliges zu erkennen – nur ein Fahrrad, das mit einer Kette an einem Abflussrohr befestigt war. Sie sah niemanden, was jedoch nichts an ihrer Paranoia änderte.

Abbey ging auf dem abgenutzten Teppich ihres Apartments im ersten Stock auf und ab. Es war keine große Wohnung. Sie schlief auf einer Matratze auf dem Fußboden. Im winzigen Badezimmer hatten gerade einmal eine Toilette, eine Dusche und ein Waschbecken Platz. Der Esstisch war zugleich ihr Arbeitstisch, auf dem ihr Laptop stand. Der Abfalleimer quoll über vor Fastfood-Verpackungen, was daran lag, dass sie in der Küche nur die Mikrowelle benutzte. Der Kühlschrank war so gut wie leer, ebenso die hellblauen Wände. Sie war mehr unterwegs als zu Hause und hatte kaum Zeit, um einzukaufen oder ihre Wohnung zu dekorieren. Sie war nicht gern lange am selben Ort.

Das Radio war ausgeschaltet, es war still im Raum. Normalerweise hörte sie lauten Jazz, zumindest bis die Nachbarn unter ihr protestierend an die Decke klopften. Doch heute Abend wollte sie sichergehen, dass ihr kein Geräusch entging. Weder Schritte auf dem Flur noch Autos unten in der Gasse. Falls der Killer mit der Goldrandbrille zurückkam, wollte sie ihn hören, bevor er bei ihrer Tür war.

Wenn sie bloß ihren Taser noch hätte.

Abbey checkte ihr Mobiltelefon. Keine Nachrichten. Keine E-Mails. Sie presste einen stillen Fluch hervor, weil sie auch keinen Zugang mehr zu ihren Informationsquellen hatte. Sie hatte dem Anwalt, der ihr die Sache mit dem Datenhack zugespielt hatte, vier Nachrichten hinterlassen, doch er rief nicht zurück. Und die Polizei von Québec gab nicht die kleinste Information über die Schießerei beim Château Frontenac heraus. Ebenso ihre Kontakte in den Nachrichtendiensten. Niemand wollte mit ihr sprechen. Sie hing völlig in der Luft.

Sie wusste, wen sie als Nächstes anrufen musste, auch wenn es ihr widerstrebte.

Michel Marciano. Abbey hatte drei Jahre lang eine stressige Stop-and-go-Beziehung mit ihm geführt, doch letzten Winter hatte sie endgültig Schluss gemacht. Michel war nicht erfreut gewesen, sie zu verlieren. Sie kannten einander seit ihrer Studienzeit an der McGill University, wo sie Journalismus und er Jura studiert hatte. Man konnte sich kaum zwei gegensätzlichere Menschen vorstellen. Er war von seinem Wesen her ein zugeknöpfter Bürokrat, der schon als Student einen Posten in einer Regierungsbehörde angestrebt hatte, während Abbey ein weltoffener Freigeist war, ständig auf der Suche nach spannenden Geschichten. Vermutlich sah jeder im anderen etwas, das er bei sich selbst vermisste.

In ihrer Studienzeit waren sie ein paarmal miteinander ausgegangen, doch es hatte sich nichts daraus entwickelt. Bis sie sich vor drei Jahren in Ottawa wieder begegnet waren. Abbey hatte dort über einen Bestechungsskandal mit Exportlizenzen recherchiert, während Michel als Anwalt im Ministerium für auswärtige Angelegenheiten tätig war. Er hatte ihr keine vertraulichen Informationen gegeben – das würde er nie tun –, doch er hatte ihr die Namen von Leuten genannt, die ihr weiterhelfen konnten. Damit war es ihr gelungen, zu einer aufsehenerregenden Geschichte zu kommen. Wenig später hatte sie ihn als eine Art Dankeschön zum Essen eingeladen. In dieser Nacht hatten sie zum ersten Mal miteinander geschlafen.

Ein paar Monate später hatte er ihr einen Heiratsantrag gemacht. Sie hatte durchaus mit dem Gedanken gespielt, Ja zu sagen. Michel war ein guter Kerl, intelligent und erfolgreich. Er kaufte ihr schöne Dinge, besuchte mit ihr schöne Orte und wusste immer, welchen Wein man zu welchen Gerichten trank. Eine Ehe mit ihm hätte eine angenehme Stabilität in ihr etwas chaotisches Leben gebracht. Sie hätten stabile, angenehme Freundschaften gepflegt und ein stabiles, angenehmes Familienleben mit braven Kindern geführt. Abbey hätte in einem großen Haus mit Blick auf den Ottawa River gewohnt, mit Swimmingpool und einer Hausangestellten. In ihrer Küche hätte man jedenfalls keine Fastfood-Verpackungen herumliegen sehen.

Dennoch sagte sie Nein. Für ein solches Leben war sie nicht gemacht. Sie mochte das Essen vom Chinesen an der Ecke und begnügte sich gern mit einer Matratze auf dem Fußboden. Ihre Beziehung hätte damit eigentlich beendet sein sollen, doch so schnell gab Michel nicht auf. Er bemühte sich weiter um sie, und Abbey hielt ihre Beziehung zwei weitere Jahre in der Schwebe. Es war ganz angenehm, ihn in ihrem Leben zu haben. Ihrem Vater konnte sie sagen, dass sie einen festen Freund hatte, und gelegentlicher angenehmer Sex mit einem vertrauten Partner war auch nicht zu verachten. Doch kurz vor Weihnachten war sie zu der Erkenntnis gelangt, dass dieser Zustand für sie beide nicht gut war, und sie sagte Michel, dass es aus war.

Sie wusste, was passieren würde, wenn sie ihn jetzt anrief. Er würde es wieder versuchen.

Aber Michel hatte nun einmal Kontakte in den kanadischen und amerikanischen Regierungsbehörden und konnte ihr vielleicht zu Antworten auf ihre Fragen verhelfen. Wenn sie zu lange wartete, würde sie sich nicht mehr dazu durchringen können, das wusste sie, also gab sie sich einen Ruck, griff zum Telefon und wählte seine Nummer. Er meldete sich nach dem ersten Klingeln, und sie stellte sich vor, wie sein Herz klopfte, als er ihren Namen auf dem Display las.

»Abbey«, sagte er atemlos. »Es ist so schön, von dir zu hören.«

»Hallo, Michel.«

»Wo bist du? In Ottawa?«

»Nein. Zu Hause in Québec.«

»Ich hab dich vermisst.«

Sie schwieg einen Moment lang. Seine Stimme klang wie immer. Er sprach mit diesem an guten Privatschulen kultivierten Akzent, der darauf trainiert war, immer das Richtige zu sagen, als würde er es aus einem Buch ablesen. Sie stellte sich Michel vor, mit seiner wohlgeordneten Frisur, dem ebenmäßigen, ausdrucksarmen Gesicht und der makellos geknüpften Seidenkrawatte.

»Ich … ich rufe nicht wegen uns an, Michel«, murmelte sie.

»Okay. Können wir nicht trotzdem über uns reden? Ich meine es ernst. Ich habe dich vermisst.«

»Ich weiß. Irgendwie vermisse ich dich auch. Aber wir haben uns entschieden …«

»Du hast entschieden«, unterbrach er sie. »Du, nicht ich.«

»Du hast recht. Es war meine Entscheidung.«

»An meinen Gefühlen hat sich nichts geändert«, fuhr Michel fort. »Sie sind höchstens noch stärker geworden, nachdem ich dich seit Monaten nicht mehr gesehen habe. Ich habe verfolgt, was du gemacht hast, deine Geschichten aus New York. Ich kann dir gar nicht sagen, welche Sorgen ich mir gemacht habe, als ich von diesen Krawallen hörte. Und du mittendrin. Ich war so erleichtert, dass dir nichts passiert ist. Vielleicht hat es deine Einstellung zu ein paar Dingen ja geändert und …«

»Michel, bitte, fangen wir nicht damit an. Nicht jetzt.«

Sie hörte ihn seufzen. »Okay. In Ordnung. Was kann ich für dich tun, Abbey?«

»Ich brauche Informationen.«

»Worüber?«

»Hier in der Stadt gehen merkwürdige Dinge vor sich«, sagte sie. »Letzte Nacht gab es eine Schießerei beim Château Frontenac. Polizei und Behörden schweigen sich aus. Die Amerikaner haben irgendwie damit zu tun. Hast du irgendwas gehört?«

Michel schwieg einige Augenblicke. »Nein.«

»Kannst du der Sache nachgehen? Vielleicht findest du irgendwas heraus.«

»Vielleicht«, sagte er widerwillig. »Weißt du sonst noch etwas darüber?«

»Es könnte irgendwie mit dem Attentat in New York zu tun haben.«

»Abbey, du bewegst dich da auf sehr dünnem Eis.«

»Erzähl mir was, das ich noch nicht weiß«, erwiderte sie. »Kannst du mir helfen, Michel?«

»Ich kann ein paar Leute anrufen, aber die Amerikaner halten die Sache unter Verschluss. Es gefällt mir nicht, dass du dich auf so etwas einlässt. Das ist gefährlich.«

»Mir passiert schon nichts«, entgegnete Abbey, doch sie hörte selbst die Angst, die in ihrer Stimme mitschwang. Michel kannte sie gut genug, um zu wissen, dass sie ihm etwas verheimlichte.

»Abbey?«, hakte er nach. »Ist alles in Ordnung? Was ist passiert?«

»Nichts Besonderes.«

Er glaubte ihr nicht. »Wenn du meine Hilfe willst, musst du ehrlich zu mir sein. Bist du in Schwierigkeiten?«

»Na ja, gestern Nacht hat ein Mann versucht, mich umzubringen.«

»Was? Mein Gott!«

»Ich bin davongekommen. Im Moment bin ich in Sicherheit. Aber die Polizei tut nichts. Das hat alles irgendwie miteinander zu tun, darum brauche ich Informationen.«

»Besser wär’s, du lässt die Finger von Dingen, die dich das Leben kosten können!«, erwiderte Michel in scharfem Ton.

»Ich höre nicht einfach mittendrin auf, dafür ist die Sache zu wichtig. Außerdem ist es dafür sowieso zu spät.«

Wieder seufzte er tief. »Na gut, ich werde mich umhören.«

»Danke, Michel. Kannst du mich morgen anrufen?«

»Nein. Ich fliege gleich morgen früh nach Québec. Wir treffen uns zum Mittagessen. Da reden wir weiter.«

»Das musst du nicht tun«, sagte sie.

»Keine Diskussion! Ein Uhr im Les Vingt Chats

Sie verzichtete auf weitere Einwände – sie wusste, er würde nicht nachgeben. »Na schön. Dann sehen wir uns dort.«

»Sei vorsichtig.«

Michel legte auf. Wie sie so in ihrem Apartment saß, spürte sie plötzlich seine Abwesenheit. Es hatte gutgetan, seine Stimme zu hören. Es hatte etwas Tröstliches, ungefähr so, wie einen alten, vertrauten Pulli anzuziehen. Wenn sie ehrlich war, gefiel ihr der Gedanke, dass er kam, um sie zu retten. Unwillkürlich fragte sie sich, ob der Lunch ein gemeinsames Dinner zur Folge haben würde, und das Dinner eine gemeinsame Nacht in seinem Hotelzimmer.

Abbey griff nach dem halb leeren Karton mit dem chinesischen Gericht.

Es klopfte an ihrer Wohnungstür. Sie ließ den Karton fallen – Nudeln und Sauce ergossen sich über den Fußboden. Eine raue Stimme rief ihren Namen. » Abbey Laurent! Polizei! «

Sie unterdrückte einen Schrei. Als sie zum rückwärtigen Fenster lief und auf die Gasse hinausschaute, sah sie zwei Polizeiwagen mit eingeschalteten Blinklichtern beim Haus parken.

» Ms. Laurent !«, rief die Stimme mit hörbarer Ungeduld, und wieder klopfte es an der Tür.

Abbey lugte durch den Spion. Es waren drei uniformierte Polizisten, doch sie waren nicht allein. Hinter ihnen stand ein Mann im dunklen Regenmantel und Filzhut. Sie öffnete die Tür, worauf die Polizisten zur Seite traten und den anderen vortreten ließen. Der hinkte, auf einen Stock gestützt, zur Tür.

Es war der Mann vom amerikanischen Geheimdienst, den Abbey beim Hotel gesehen hatte.

»Ms. Laurent? Mein Name ist Nash Rollins. Ich bin im Auftrag der amerikanischen Regierung hier. Ich würde gern mit Ihnen sprechen.«

Abbey musterte die ausdruckslosen Gesichter der Polizeibeamten, die den Amerikaner begleiteten. »Wenn ich mich weigere – nehmen Sie mich dann fest?«

»Natürlich nicht«, antwortete Rollins. »Die Polizisten habe ich nur mitgenommen, damit Sie sich sicher fühlen. Ich habe von dem Mordanschlag auf Sie gehört, deshalb war ich mir nicht sicher, ob Sie einem Fremden aufmachen würden.«

»Sie haben recht.«

»Darf ich kurz reinkommen?«, fragte er.

Abbey zögerte, dann forderte sie ihn mit einer Geste auf, einzutreten. Der Mann hinkte durch die Tür und schaute sich einen Moment lang in der unaufgeräumten Wohnung um. Er sah aus wie jemand, dem kaum etwas entging. Abbey bot ihm keinen Stuhl an.

»Was wollen Sie?«

»Würde es Ihnen etwas ausmachen, die Tür zu schließen?«

Sie schaute zu den Polizisten draußen vor dem Apartment, dann schloss sie leise die Tür. Als sie ihren Laptop auf dem Tisch sah, ging sie hin und klappte ihn zu.

Rollins’ stämmiger Körper wirkte gespannt wie eine Feder. Den Gehstock hielt er so fest umklammert, dass die Fingerknöchel weiß hervortraten, der Oberkörper war gekrümmt wie ein Fragezeichen. Mit der anderen Hand nahm er den Hut ab, sodass seine zerzausten grauen Haare zum Vorschein kamen. Er hatte buschige, helle Augenbrauen und kniff seine blauen Augen zusammen, als schlüge ihm ein kalter Wind entgegen. Sein Gesicht war von zahllosen Fältchen durchzogen.

»Ich komme gleich zur Sache, Ms. Laurent. Ich weiß, wer Sie sind und was Sie tun. Ich weiß auch, dass Sie sich gestern Abend mit einem Mann auf der Promenade treffen wollten. Ich wüsste gern von Ihnen, ob er seither Kontakt mit Ihnen aufgenommen hat.«

»Wenn Sie so genau wissen, was ich tue, dann ist Ihnen ja sicher bekannt, dass ich Journalistin bin«, hielt Abbey dagegen. »Darum gebe ich grundsätzlich keine Informationen an Regierungsbehörden weiter. Schon gar nicht jemandem, der nicht einmal einer Behörde meines Landes angehört.«

»Dieser Mann ist gefährlich, Ms. Laurent. Sie haben keine Ahnung, mit wem Sie es da zu tun haben.«

»Ich weiß vor allem jetzt nicht, mit wem ich es zu tun habe, Mr. Rollins. Sie sagen, Sie sind von einer amerikanischen Regierungsbehörde, haben mir aber keinen Ausweis gezeigt. Ich nehme an, Sie sind ein Spion – also für wen arbeiten Sie? CIA

Rollins musterte sie mit widerwilligem Respekt, machte aber keine Anstalten, sich auszuweisen. Er tippte mit seinem Stock auf den Boden. »Sie trauen mir nicht. Gut. Aber ihm sollten Sie noch weniger trauen.«

»Nicht?«

»Nein. Ich möchte Sie etwas fragen. Sie nehmen vermutlich an, dass dieser Mann gestern Abend nicht zu Ihrem Treffen gekommen ist. Sehe ich das richtig?«

Abbey runzelte die Stirn. »Ja.«

»Falsch«, knurrte Rollins. »Er war da. Und hat vier meiner Agenten getötet. Mir hat er ins Bein geschossen. Er ist Ihnen gefolgt, als wir ihn aufhielten, Ms. Laurent. Muss ich Ihnen sagen, was geschehen wäre, wenn er Sie eingeholt hätte? Sie wären jetzt tot. Mit einer Kugel in der Kehle.«

Die Information traf Abbey wie ein Schlag in die Magengrube. Kreidebleich ließ sie sich auf einen Stuhl sinken. »Ist das wahr?«

»Und ob.«

»Später hat tatsächlich jemand versucht, mich umzubringen – aber das war nicht er.«

»Glauben Sie, er operiert allein? Nein, er gehört einem gefährlichen Netzwerk an. Solange wir ihn nicht gefasst haben, sind Sie in ernsthafter Gefahr. Auch wenn Sie es mir vielleicht nicht glauben, Ms. Laurent, ich versuche Ihnen zu helfen. Darum sollten Sie meine Frage beantworten. Hat er seit letzter Nacht versucht, mit Ihnen Kontakt aufzunehmen?«

Abbey schüttelte den Kopf. »Nein.«

»Okay, aber seien Sie vorsichtig. Er wird nicht so schnell aufgeben.«

Abbey riss ihre dunklen Augen weit auf. »Was?«

»Er ist uns gestern Abend entwischt und hat in einem kleinen Dorf im Norden Zuflucht gesucht. Wir glauben aber, dass er auf dem Weg zurück in die Stadt ist. Vielleicht ist er sogar schon hier. Ich kann mir nur einen Grund vorstellen, warum er ein solches Risiko eingeht. Er hat es auf Sie abgesehen. Deshalb muss ich Sie fragen – was wissen Sie, durch das Sie eine Bedrohung für ihn darstellen?«

»Ich weiß gar nichts.«

»Ich glaube, dass Sie mir nicht die Wahrheit sagen.«

»Mir ist egal, was Sie glauben. Ich weiß wirklich nichts.«

»Warum wollten Sie sich mit diesem Mann treffen? Was wollte er?«

»Dazu habe ich nichts zu sagen.«

»Ich versuche Sie zu schützen, Ms. Laurent.«

»Nein, das tun Sie nicht. Ihnen ist egal, was mit mir passiert. Sie wollen ihn

Rollins trat von einem Fuß auf den anderen und verzog das Gesicht. Er griff in die Innentasche seines Mantels, zog eine kleine weiße Karte heraus und gab sie ihr. Sie schaute auf die Karte: kein Name, keine Behörde, nur zehn Ziffern. Eine Telefonnummer.

»Falls er Kontakt mit Ihnen aufnimmt, rufen Sie diese Nummer an«, sagte Rollins. »Egal ob tagsüber oder nachts.«

»Warum? Damit Sie uns beide umbringen können?«

Rollins seufzte. »Glauben Sie ja nicht, Sie können es allein mit diesem Mann aufnehmen. Er ist gewalttätig und unberechenbar. Ich kenne ihn seit vielen Jahren. Der Mann ist auf eine Weise beschädigt, die keiner von uns nachvollziehen kann. Er ist ein Mann ohne Vergangenheit.«

Was zum Teufel soll das heißen?«

Rollins ignorierte ihre Frage. Er hinkte zur Tür, griff nach dem Knauf, drehte sich aber noch einmal um. »Wenn Sie von ihm hören, rufen Sie diese Nummer an, Ms. Laurent.«

»Warten Sie!«, sagte Abbey. »Wer ist er? Ist er Cain? Wie ist sein richtiger Name?«

»Namen sind unwichtig«, erwiderte Rollins. »Er tritt unter vielen Namen auf. Cain ist nur einer davon. Sie sollten vor allem eines wissen: Dieser Mann ist ein Killer.«

Jason stand im Dunkeln am anderen Ende der Rue Saint-Flavien. Er verbarg sich in einem mit Graffiti übersäten Türeingang, wo er von draußen nicht gesehen werden konnte. Polizeiwagen mit eingeschalteten Blinklichtern blockierten die Gasse zu beiden Seiten des Apartmenthauses, in dem Abbey Laurent wohnte. Er hörte die Stimmen aus ihren Funkgeräten. Etwas abseits parkte eine dunkle Limousine. Bourne beobachtete, wie die Haustür aufging und mehrere Polizeibeamte herauskamen. Danach ein Mann, den er gut kannte. Er hinkte aufgrund einer Verletzung, die Jason ihm letzte Nacht zugefügt hatte.

Nash Rollins.

Treadstone war immer noch da. Sie waren immer noch hinter ihm her.

Die Polizisten stiegen in ihre Autos und fuhren in entgegengesetzten Richtungen davon. Bourne zog sich noch tiefer in den Eingang zurück, als die Autos vorbeirollten. Nash Rollins und die Limousine waren noch da. Rollins gestikulierte heftig, und das Auto setzte sich in Bewegung und hielt vor ihm. Die hintere Tür wurde geöffnet, Rollins stieg ein. Zugleich stieg jedoch ein Treadstone-Agent aus dem Fahrzeug aus.

Die Limousine wendete und beschleunigte. Der Agent blieb bei Abbey Laurents Haus zurück. Die Hände hatte er in den Manteltaschen vergraben, zweifellos, um schnell zur Waffe greifen zu können. Bourne wusste, was der Mann zu tun hatte: das Haus im Auge behalten – wenn es sein musste, die ganze Nacht.

Jason schlug den Kragen hoch, kam lautlos aus dem Türeingang und verschmolz mit der Dunkelheit. Er hatte einen Plan.

Morgen würde er selbst die Initiative ergreifen.

Morgen würde er einen Weg finden, an Abbey Laurent heranzukommen.