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Jason stand an der Rue du Sault-au-Matelot unter einer rauen Felswand, die sich wie ein zerklüftetes Gesicht über ihm erhob. Er hatte wenig Hoffnung, Abbey in diesem Labyrinth aus Straßen und Gassen zu finden. Er sah auf seinem neuen Mobiltelefon nach, doch sie hatte auf seine Nachrichten nicht geantwortet. War es nicht verständlich? Für sie war er Cain, der Killer. Er konnte sich ihr Gesicht lebhaft vorstellen, erinnerte sich nur zu gut an ihren entsetzten Blick, als sie ihn in der Seilbahn gesehen hatte. Diesen Blick hatte er in seinem Leben oft genug gesehen.

Wenn er sie nicht schnell fand, würde sie nicht lebend aus der Basse-Ville herauskommen, dessen war er sich sicher. Medusa hatte diese Killerin auf sie angesetzt – doch die operierte bestimmt nicht allein.

Du musst sie retten! Sie hat Informationen, die du brauchst !

Doch in Wahrheit war es mehr als das. Das erste Mal hatte er ihr Gesicht nur durchs Fernglas gesehen. Dann, im Seilbahnwagen, war er nur wenige Zentimeter von ihr entfernt gewesen und hatte den sanften Schwung ihrer Gesichtszüge bewundert, das kurz geschnittene rote Haar, das leise Lächeln, das ihre Lippen umspielte, als würde sie an etwas Lustiges denken. Sie hatte etwas ungemein Interessantes an sich.

So darfst du nicht denken! Abbey Laurent ist eine Informantin, nicht mehr. Sie ist dein Zugang zu Medusa. Deshalb musst du sie finden !

Bourne blendete seine Emotionen aus. Er hatte ein Problem zu lösen und nicht viel Zeit dafür. Er wählte eine Nummer auf seinem Mobiltelefon – Augenblicke später meldete sich eine männliche Stimme. » The Fort .«

»Ich möchte bitte Abbey Laurent sprechen«, sagte Jason mit ausgeprägtem Brooklyn-Akzent.

»Tut mir leid, Abbey macht gerade Mittagspause. Kann ich ihr etwas ausrichten?«

»Spreche ich mit Jacques? Jacques Varille?«

»Ja.«

»Jacques, hier spricht Matt Schneider. Abs hat mir Ihren Namen gegeben und gesagt, falls ich sie nicht erreiche, soll ich mit Ihnen sprechen.«

Er hörte das Zögern in der Stimme des Chefredakteurs. »Worum geht’s?«

»Sehen Sie, ich arbeite als freiberuflicher Fotograf in New York. Ich habe Abs voriges Jahr kennengelernt – sie war da mit Michel auf einer UNO -Konferenz. Letzte Woche sind wir uns wieder über den Weg gelaufen – ich hab bei der Veranstaltung von Sofia Ortiz fotografiert. So schlimm das war – für einen Fotografen ist es fast wie ein Lotto-Jackpot.«

»Mag sein.«

»Na ja, ich hab mich davor mit Abbey unterhalten und nebenbei erwähnt, dass ich heute in Québec bin – ich mach da Fotos für eine Hilton-Broschüre. Wir wollten uns treffen, haben aber nichts Fixes vereinbart. Sie war sich gar nicht sicher, ob sie heute überhaupt in der Stadt sein würde. Aber dann hat sie mich vor ein paar Tagen angerufen und gefragt, ob ich die Fotos von New York mitbringen kann. Ich glaube, sie muss für eine Geschichte irgendjemanden finden. Wir wollten uns zum Lunch treffen, aber ich erreiche sie einfach nicht. Haben Sie eine Ahnung, wo sie sein könnte? Ich muss leider um drei schon wieder am Flughafen sein – und sie hat so geklungen, als wollte sie meine Fotos wirklich gern sehen.«

»Sind Sie sicher, dass Sie sich für heute mit ihr verabredet haben, Matt?«, fragte Jacques. »Sie hat mir nämlich vorhin gesagt, dass Michel heute in die Stadt kommt und sie sich um eins mit ihm trifft.«

»Also, es wäre zwar nicht das erste Mal, dass ich ein Datum verwechsle, aber ich war mir ziemlich sicher, dass wir von heute geredet haben. Aber klar, wenn Michel kommt, dann hat sie es vielleicht einfach vergessen. Wissen Sie zufällig, wo sie sich zum Lunch treffen? Dann könnte ich schnell vorbeischauen und ihr die Fotos zeigen, falls sie noch Interesse hat.«

»Das hat sie nicht gesagt, aber normalerweise treffen sie sich immer im Les Vingt Chats . Das ist ein Restaurant unten am Hafen.«

»Zwanzig Katzen. Alles klar. Vielen Dank, Jacques.«

Bourne trennte die Verbindung. Er rief auf seinem Smartphone einen Stadtplan auf und suchte das Restaurant – es war nicht weit von seiner aktuellen Position entfernt. Er eilte durch das neuere Geschäftsviertel, wo von dem Charme der Alten Welt nicht mehr viel übrig war und Québec wie irgendeine andere Stadt aussah. Als er sich dem Fluss näherte, schlug ihm ein kalter Wind entgegen. Kurz vor der Eingangstür des Restaurants zögerte er einen Moment lang. Wenn Abbey Laurent nicht allein war, machte das die Sache komplizierter – und wenn sie ihn kommen sah, würde sie bestimmt panisch reagieren. Er musste verhindern, dass sie weglief.

Du musst sie finden und aus ihr rauskriegen, was sie weiß !

Von einem Moment auf den anderen wurde sein Plan über den Haufen geworfen.

Trotz des Schalldämpfers konnte er den Schuss hören, den der Wind vom Fluss her zu ihm trug.

Medusa .

Bourne sprang über einen Zaun beim Alten Hafen und gelangte in ein Amphitheater, in dem im Sommer Konzerte veranstaltet wurden. Er rannte übers Gras zum tiefer gelegenen Bühnenbereich und sprang die Betonstufen zum höchsten Punkt des Theaters hinauf, von wo er den Pier überblickte. Er sah den Fluss und eine Reihe von weißen Silogebäuden im Hafen. Direkt vor ihm erstreckte sich ein langes, niedriges Gebäude, in dem das Schifffahrtsmuseum untergebracht war, das heute geschlossen und leer war.

Er hörte einen erstickten Schrei. Bourne übersprang den nächsten Zaun und duckte sich ins Gestrüpp. Zwei Leute kamen vom Fluss her in seine Richtung. Einer war der Killer mit der Goldrandbrille, den er letzte Nacht bei der Redaktion von The Fort gesehen hatte. Die andere war Abbey Laurent. Ihr Gesicht war blutverschmiert, sie wand sich im Griff des Mannes. Ihre Hände waren auf dem Rücken gefesselt. Der Medusa-Killer hielt die Frau um die Taille fest und zog sie mit sich. Seine Waffe war nicht zu sehen, doch Bourne wusste, dass er sie damit bedrohte.

Zwanzig Meter entfernt sah er einen blauen Renault zwischen Ahornbäumen beim Museum geparkt. Der Killer strebte mit Abbey auf das Auto zu. Bourne zog seine Pistole, doch Abbey war zwischen ihm und dem Killer. Würde er von hier aus schießen, riskierte er, sie zu treffen. Parallel zu den beiden kroch er durchs Gras und wartete auf eine Gelegenheit, den Mann von Medusa in die Schusslinie zu bekommen.

»Wenn Sie mich erschießen, kann ich Ihnen gar nichts mehr sagen!«, zischte Abbey und versuchte sich loszureißen.

Der Killer lachte nur. »Sie nehmen sich ein bisschen zu wichtig, Ms. Laurent. Alles, was Sie wissen, haben Sie von uns . Sie haben gar nichts, was wir brauchen. Sie sind einfach nur ein Risikofaktor, der beseitigt werden muss.«

»Worauf warten Sie dann noch?«, knurrte sie.

»Patience , bitte. Ich habe die Anweisung, Sie zu töten, aber wie ich das mache, ist mir überlassen. Da Sie eine Schwäche für Elektroschocks haben, wird es Ihnen bestimmt einen Kick geben, fünfzigtausend Volt zwischen den Beinen zu spüren.«

Abbey atmete ein und spuckte ihm ins Gesicht. Der Killer zuckte zusammen und holte aus, um ihr den Lauf der Pistole über den Schädel zu ziehen. In diesem Moment lockerte er seinen Griff, und Abbey riss sich los. Bourne drückte ab. Er schoss daneben. Die Kugel fetzte dem Mann das halbe Ohr weg und schlug in eine Fensterscheibe des Museums ein.

Der Schuss ließ Abbey für einen kurzen Moment erstarren. Bevor sie wegrennen konnte, packte der Killer sie wieder. Er schlang einen Arm um ihren Hals und benutzte ihren Körper als Schild, während er die Pistole zum Gestrüpp richtete, aus dem der Schuss gekommen war.

»Kommen Sie heraus!«, blaffte er. »Sofort!«

Bourne richtete sich auf, die Pistole im Anschlag, den Finger am Abzug. So standen sie einander gegenüber. Langsam ging Jason durchs hohe Gras den Hang hinunter, bis er Beton unter sich spürte. Als er stehen blieb, waren sie nur noch wenige Meter auseinander.

»Cain«, murmelte der Killer.

»Das ist ein Name aus meiner Vergangenheit«, sagte Jason.

»Ich hab gedacht, Sie hätten keine Vergangenheit mehr.«

Die Brillengläser des Killers funkelten im Sonnenlicht, seine Lippen kräuselten sich zu einem Grinsen. Blut troff von seinem Ohr. Er packte Abbey fester um den Hals und riss sie hoch. Verzweifelt trat sie mit den Beinen um sich, Panik in den Augen, als sie keine Luft mehr bekam.

»Lassen Sie sie los«, sagte Bourne.

»Gern, wenn Sie die Waffe weglegen.«

»Geben Sie mir das Mädchen, dann lasse ich Sie gehen.«

»Ich schätze, wir haben eine Pattsituation.«

Abbey wand sich in seinem Griff, doch der Killer hielt sie unbeirrt fest. Er hob sie höher. Ihr Gesicht verfärbte sich bläulich.

» Aufhören !«, rief Bourne.

»Die Waffe weg, dann lasse ich sie los.«

»Wenn sie stirbt, sterben Sie mit ihr.«

»Sie wird sterben«, erwiderte der Killer.

Jason schaute zu Abbey – ihre Blicke trafen sich. Etwas änderte sich in ihrem Ausdruck, ihr Mund öffnete sich, als wollte sie etwas sagen. Dann verstand Bourne. Abbeys Hände waren am Rücken gefesselt, doch er sah ihre Finger wie Krallen gekrümmt, die Nägel lang und scharf. Sie wand sich erneut, und als ihr Körper gegen den Killer stieß, schlossen sich ihre Finger um seine Weichteile, und sie drückte mit aller Kraft zu.

Der Mann heulte auf vor Schmerz, versuchte sie abzuschütteln, doch sie ließ nicht locker. Er hielt Abbey immer noch am Hals fest und zog ihr die Pistole über den Schädel. In diesem Moment ging Jason auf ihn los. Der Killer versuchte die Pistole auf ihn zu richten, doch Bourne hatte ihn bereits am Handgelenk gepackt und riss ihn zu Boden.

Abbey sank in sich zusammen und blieb bewusstlos liegen.

Jason war obenauf und schlug das Handgelenk des Killers auf den Boden, bis dieser die Pistole losließ. Der Mann hielt seinerseits Bournes Waffe fest, doch Bourne versetzte ihm einen Kopfstoß mitten ins Gesicht. Trotz der zertrümmerten Nase gab der Killer nicht nach. Der Renault stand direkt neben ihnen; Bourne rollte sich zur Seite, zog den Mann mit sich und knallte ihn mit dem Kopf gegen den Stahlrahmen des Autos.

Benommen ließ der Mann Jasons Pistole los. Jason setzte ihm den Lauf an die Schläfe und drückte ab. Der Schuss hallte wie Kanonendonner in seinen Ohren. Knochensplitter, Blut und Gehirnmasse spritzten hoch. Der Killer sackte zusammen und kam auf ihm zu liegen. Jason schob ihn von sich weg und rang nach Luft.

Dann drehte er den Kopf zur Seite.

Abbey Laurent war verschwunden.

Schnell! Lass sie nicht entkommen !

Bourne rappelte sich auf. Gleich hinter dem Renault sah er Abbey im Zickzack davonhumpeln, zu benommen, um geradeaus zu gehen. Ihre Hände waren immer noch gefesselt. Er ging ihr nach. Als Abbey zurückschaute, versuchte sie zu rennen. Doch sie konnte nicht. Sie taumelte und fiel, Tränen in den Augen, als sie ihn auf sich herabschauen sah. Sie trat nach ihm, aber zu schwach, um etwas auszurichten. Jason fasste sie unter den Achseln und hob sie auf die Beine. Er trug sie zum Renault, öffnete die hintere Tür und legte sie auf den Rücksitz.

Mit weit aufgerissenen Augen starrte sie ihn an, hatte aber sichtlich Mühe, zu fokussieren.

»Wollen Sie weglaufen?«, fragte er. »An Ihrer Stelle würde ich es auch versuchen.«

Sie schwieg.

»Sicherheitshalber muss ich Ihre Beine fesseln«, sagte er. »Tut mir leid, aber ich kann Sie jetzt nicht gehen lassen. Wir müssen reden, und das können wir hier nicht. Wir müssen raus aus der Stadt.«

Er nahm seinen Gürtel aus der Hose und wickelte ihn um ihre Fußknöchel. Sie wehrte sich nicht, als er sie fesselte.

»Hat er Sie sonst noch irgendwie verletzt? Haben Sie eine Wunde, die versorgt werden muss?«

Abbey starrte ihn ausdruckslos an. Ihr Gesicht war seltsam ruhig.

»Ich habe nicht vor, Sie zu töten«, fügte er hinzu.

Sie schwieg immer noch. Ihr Gesicht war sehr blass. Rote Haarsträhnen hingen ihr wirr in die Stirn. Ihre Augen folgten jeder seiner Bewegungen, als wolle sie herausfinden, was in ihm vorging.

»Ich hole nur noch den Autoschlüssel«, sagte Jason. »Dann fahren wir.«

Er wollte die Autotür schließen, da sprach Abbey zum ersten Mal.

»Hey.«

Jason sah sie fragend an.

»Was mögen Sie am meisten in Québec?«, fragte sie.

Er lachte kurz auf.

»Diese wunderbaren kleinen Ahornbonbons.«