13

Nash Rollins wartete in der Dunkelheit beim Terminal am nördlichen Ende des Flughafens Québec. Ein CSIS -Agent mit Menjoubärtchen stand neben ihm und führte ein Telefonat auf Französisch. Rollins stand auf seinen Stock gestützt und suchte den Nachthimmel nach dem Treadstone-Hubschrauber ab. Er konnte es kaum erwarten, Kanada hinter sich zu lassen.

Der Agent des kanadischen Geheimdienstes, ein gewisser Fontaine, beendete das Gespräch. »Die Grenzübergänge sind in Alarmbereitschaft. Die werden diesen Mann stoppen, den Sie suchen. Diesen Cain

Rollins zuckte mit den Schultern. »Sie werden ihn nicht finden.«

»Seien Sie sich da nicht so sicher. Wir haben den gestohlenen Renault und das Kennzeichen mit einer Straßenkamera aufgespürt. Die Polizei ist schon auf der Suche nach dem Wagen.«

»Er wird sich bald ein anderes Fahrzeug suchen, wenn er’s nicht schon getan hat. Ich würde sagen, der ist Ihnen durch die Lappen gegangen.«

»Wollen Sie damit sagen, wir wüssten nicht, wie wir unsere Arbeit zu machen haben, Mr. Rollins?«

In der Tat hatte Rollins genau das gemeint, doch es war nicht nötig, den Mann zu beleidigen. »Ich will damit sagen, dass Cain ein ausgekochter Profi ist, der genau weiß, wie man sich einer Verfolgung entzieht. Er weiß auch, wo er unbemerkt die Grenze überqueren kann.«

»Und warum sind Sie sich so sicher, dass er das Land verlassen will?«

»Weil er die Frau gefunden hat. Er hat, was er wollte. Hier ist er fertig.«

Der CSIS -Agent hatte die nervige Angewohnheit, sich mit dem Finger über den Schnurrbart zu streichen. »Wenn wir ihn finden, bevor er die Grenze überquert, gehört er uns. Er steht im Verdacht, einen Angehörigen einer kanadischen Regierungsbehörde ermordet zu haben, bevor er die Reporterin entführt hat. Dafür wird er sich verantworten müssen, genauso wie für die anderen Verbrechen, die er auf kanadischem Boden begangen hat.«

»Was ist mit dem Toten beim Schifffahrtsmuseum?«, fragte Rollins. »Haben Sie ihn schon identifiziert?«

»Noch nicht. Der Mann hatte keine Papiere bei sich. Aber er entspricht der Beschreibung, die die Frau uns von dem Mann gegeben hat, der im Artilleriepark versucht haben soll, sie zu töten. Die Frage ist, warum Cain ihn erschossen hat.«

»Wahrscheinlich, weil der Mann sein Gesicht gesehen hat.«

»Er ist ein äußerst gefährlicher Mann, Ihr Cain.«

»Das ist er.«

»Was, glauben Sie, wird er mit der Frau machen?«

»Er wird sie genauso töten«, sagte Rollins.

»Quel dommage . Sie ist ein hübsches Ding und so temperamentvoll. Eine Katze, die einem den Rücken zerkratzt mit ihren scharfen Krallen.« Der Agent strich über sein Bärtchen und grinste über seine Bemerkung.

Rollins schwieg. Er sah die Lichter des herannahenden Hubschraubers und hörte das Stakkato der Rotoren. Schwarz und ungekennzeichnet schwebte er zum Landeplatz herab, und Rollins musste seinen Hut festhalten. Als der Hubschrauber aufsetzte, machte Rollins dem Piloten ein Zeichen, indem er sich mit dem Finger quer über den Hals fuhr. Das Triebwerk verstummte, die Rotoren wurden langsamer.

Der CSIS -Agent hielt ihm die Hand hin. »Gute Jagd, Mr. Rollins.«

»Danke.«

»Ich würde ja gern sagen: Schade, dass Sie schon wieder abreisen, aber ehrlich gesagt werden die meisten hier nicht unglücklich darüber sein. Sie bringen uns Probleme, auf die wir gern verzichten können. Und diesem Cain weinen wir auch keine Träne nach. Wir haben es nicht so gern, wenn es bei uns plötzlich zugeht wie bei euch im Wilden Westen.«

Rollins schnaubte verächtlich. »Au revoir , Fontaine.«

Der kanadische Agent lächelte gequält, strich noch einmal über sein dünnes Bärtchen und ging dann zurück zum Terminal. Als er außer Hörweite war, holte Rollins sein Mobiltelefon heraus und rief Treadstone in New York an.

»Ich bin’s«, sagte er. »Bin auf dem Weg nach Hause.«

»Es klingt so, als wären Sie wieder gescheitert.«

Rollins kochte innerlich. »Bourne hat die Stadt verlassen. Er hat die Journalistin entführt und ist spurlos verschwunden. Vermutlich wird er in die Staaten zurückkehren.«

»Was ist sein nächstes Ziel?«

»Unbekannt.«

»Direktor Shaw wird nicht erfreut sein. Der Kongress macht ihm gehörig Druck. Eine Abgeordnete wurde ermordet – und der Täter ist einer von uns . Cain muss eliminiert werden. Schnell.«

Rollins brauchte keine Belehrungen aus dem Hauptquartier. Er wusste selbst, was zu tun war.

»Aktivieren Sie unsere gesamten verfügbaren Kräfte in den USA «, teilte er ihr mit. »Sie sollen vor allem unsere sicheren Häuser im Auge behalten. Cain kennt sie alle. Er braucht einen Unterschlupf. Geben Sie die Anweisung aus, ihn auf der Stelle zu töten. Außerdem sollen alle, die ihn kennen, gewarnt werden. Jason Bourne gehört nicht mehr zu Treadstone. Der Mann ist ein Medusa-Killer.«

Im Licht seiner Stiftlampe bewegte sich Bourne zwischen den Bäumen hindurch. Alle paar Schritte blieb er stehen und lauschte. Die Pistole des Medusa-Killers hielt er in der Hand. Selbst hier draußen lauerten Gefahren. Er konnte nicht wissen, was Abbey Laurent tun würde, sobald sie ihre Freiheit wiederhatte. Vielleicht fuhr sie zurück nach Québec, wie er es ihr geraten hatte. Oder sie hielt in der nächsten Ortschaft und alarmierte die Polizei.

Genauso konnte es sein, dass seine Kontaktperson in Montreal sich gegen ihn gestellt hatte. Jason und Nova hatten oft auf die Hilfe des Mannes zurückgegriffen, doch wenn das Geld stimmte, vergaßen viele ihre Loyalität. Jason unterhielt Kontakte in den meisten Städten, doch nun war er ein Gejagter – da konnte es leicht passieren, dass ein bislang zuverlässiger Informant die Chance witterte, sein Konto aufzubessern, indem er ihn den Wölfen zum Fraß vorwarf. Jason musste auch mit der Möglichkeit rechnen, dass ihn ein Empfangskomitee erwartete, wenn er zu dem Wagen kam.

Als er sich der Straße näherte, schaltete er die Taschenlampe aus. Am Ende des Weges standen fast zwei Dutzend Autos auf einem kleinen Parkplatz, den vor allem Leute benutzten, die zum Wandern in die Berge gingen. Jason erblickte den alten jagdgrünen Land Rover, der für ihn abgestellt worden war. Statt direkt zum Auto zu gehen, hielt er sich am Waldrand, umkreiste den Parkplatz und näherte sich dem Land Rover von hinten. Lautlos schob er sich näher heran, die Pistole im Anschlag.

Es war niemand da.

Sie hatten ihn noch nicht gefunden.

Jason ging zum Auto, überprüfte den Unterboden auf eine Bombe oder einen Tracker, konnte jedoch nichts Verdächtiges finden. Dann sah er den Schlüssel in einem Metallbehälter unter der vorderen Stoßstange und stieg in den Wagen. Der penetrante Geruch eines Duftbäumchens erfüllte das Innere. Er sah unter dem Handschuhfach nach und fand einen dicken Umschlag mit fünfundzwanzigtausend Dollar, die verabredungsgemäß von einem seiner Privatkonten abgehoben und im Wagen deponiert worden waren.

Es war höchste Zeit, zu verschwinden.

Er drehte den Schlüssel im Zündschloss und schaltete die Scheinwerfer ein. Im nächsten Moment griff er zur Pistole.

Abbey Laurent stand vor dem Wagen.

Jason riss die Autotür auf, sprang hinaus und richtete die Waffe auf ihre Brust. Sie hob die Arme, die Finger gespreizt.

»Verdammt, was machen Sie hier?«, fragte er.

Abbey schwieg. Bourne ging auf sie zu und drückte ihr den Schalldämpfer auf die Stirn. »Ich hab gefragt, was Sie hier machen.«

»Ganz ehrlich, ich weiß es nicht.«

»Was soll das heißen? Sie arbeiten mit denen zusammen, oder? Sie gehören zu Medusa.«

»Nein«, erwiderte sie ganz ruhig. »Das tu ich nicht. Ich schwör’s. Ich bin genau das, was Sie von mir denken.«

»Warum sind Sie dann zurückgekommen? Ich habe Ihnen doch gesagt, Sie können zurück in die Stadt.«

»Ich würde Sie lieber begleiten«, sagte Abbey.

» Was? «

Jason sah die Entschlossenheit in ihren Augen. »Hören Sie, es ist nicht so, dass ich Ihnen vertraue – aber allen anderen traue ich noch viel weniger. Außerdem bin ich Journalistin – und diese Geschichte ist noch nicht vorbei. Sie sagen, Sie wollen die Verschwörung aufdecken? Okay, ich auch. Diese Leute haben Michel ermordet, und sie wollen auch mich umbringen. Ich will ans Licht bringen, wer dahintersteckt.«

»Sie müssen verrückt sein.«

»Mag sein.«

»Sie würden mich nur behindern. Und am Ende wird es Sie das Leben kosten.«

»Das Risiko ist mir bewusst. Es ist meine Entscheidung. Falls ich Sie behindere, machen Sie eben allein weiter. Aber vielleicht kann ich Ihnen ja helfen. Ein Mann, der allein unterwegs ist, fällt mehr auf als ein Mann und eine Frau zusammen. Ich könnte Ihnen eine Art Tarnung verschaffen.«

Jason runzelte die Stirn, doch ihr Argument hatte etwas für sich.

»Sehen Sie?«, fuhr Abbey fort. »Sie wissen, dass ich recht habe. Nehmen Sie mich mit nach New York. Dort finden Sie Carson Gattor. Sie haben selbst gesagt, er ist das erste Glied in der Kette, die zu Medusa führt. Sie wissen genauso, dass es nicht leicht wird, an ihn heranzukommen. Der Mann ist clever. Vielleicht rechnet er sogar damit, dass Sie hinter ihm her sind, und trifft gewisse Sicherheitsvorkehrungen. Außerdem kennt er mich. Ich kann Ihnen helfen, ihn aus der Reserve zu locken, Mr. Cain.«

Jason schüttelte ungläubig den Kopf angesichts des tollkühnen Muts dieser Frau. Jemand wie sie war ihm schon lange nicht mehr begegnet.

Nicht seit Nova.

Er ließ die Pistole sinken.

»Ich heiße nicht Cain«, sagte er. »Nicht mehr. Cain ist Vergangenheit. Mein Name ist Jason Bourne.«