»Erzählen Sie mir mehr über Medusa«, bat Abbey.
Ihre Stimme kam aus dem Dunkeln. Sie und Jason saßen im Land Rover, zwischen den dicht stehenden Bäumen der Green Mountains verborgen. Trotz der Kälte hatten sie die Fenster offen. Falls sich ihnen jemand näherte, würde Bourne es hören. Sie hatten die Grenze auf einem Schmuggelpfad im Norden von Vermont überquert. Bourne war sich sicher, dass überall in den nördlichen Bundesstaaten nach ihm gefahndet wurde, deshalb musste er weiter wachsam sein.
Sobald es hell wurde, würden sie nach New York City fahren und ihren Psychokrieg gegen Carson Gattor starten. Sie mussten ihm gehörig Angst machen, damit er mit seinen Vorgesetzten Kontakt aufnahm.
Zuvor brauchten sie jedoch ein wenig Ruhe. Sie waren stundenlang unterwegs gewesen. Schlaf ist eine Waffe, genauso wirkungsvoll wie eine Pistole .
Treadstone.
»Sie sollen jetzt nicht reden«, sagte Jason. »Machen Sie die Augen zu. Morgen müssen Sie hellwach sein.«
»Und Sie?«
»Ich will erst sichergehen, dass uns von der Grenze niemand gefolgt ist. Manchmal werden solche illegalen Grenzübergänge elektronisch überwacht. Falls wir nicht allein sind, werden wir es bald merken. Wenn ich mir sicher bin, dass von daher keine Gefahr droht, werde ich auch schlafen.«
»Bei der Kälte kann ich nicht schlafen«, klagte Abbey. »Ich fühle mich wie ein Eiszapfen.«
Jason lächelte. »Ich schau mal hinten nach. Vielleicht ist da irgendwo eine Decke.«
Er stieg aus und blieb einen Moment stehen, um in den Wald hinein zu lauschen. Dann ging er zum Heck und öffnete die Klappe. In einer Kiste mit Motoröl und Werkzeug fand er eine alte Wolldecke. Abbey schwieg, als er ihr die Decke um die Beine breitete und zu ihren Schultern hochzog.
»Besser?«, fragte er.
»Danke.«
»Tut mir leid wegen der Kälte, aber ich muss hören, was draußen vor sich geht.«
»Schon okay. Wollen Sie ein Stück Decke?«
»Nein, es geht schon«, sagte Jason.
»Klar. Seit wann braucht ein harter Bursche wie Sie eine Decke?«
Er lächelte. »Schlafen Sie ein bisschen.«
»Erzählen Sie mir zuerst von Medusa. Ich will wissen, mit wem wir es zu tun haben.«
»Viel wissen wir nicht«, erwiderte Jason. »Das ist unser größtes Problem.«
»Michel hat gesagt, die Geheimdienste wüssten nicht einmal, wer die Organisation gegründet hat.«
»Das ist richtig. Man weiß nur, dass sie enorme finanzielle Mittel zur Verfügung hat, was die Annahme nahelegt, dass die Regierung eines großen Staates beteiligt sein könnte. Aber keiner weiß, ob es Russland oder China ist, ob sie die Operation selbst leiten oder ob es sich nur um eine Partnerschaft handelt, von der beide Seiten profitieren.«
»Was bezwecken sie überhaupt?«, hakte Abbey nach.
»Bisher geht es ihnen vor allem darum, Chaos zu verbreiten. Seit Jahren schon schürt Medusa soziale Unruhen in Nordamerika und Europa, und das leider ziemlich erfolgreich. Politisch sind sie schwer einzuordnen. Sie hetzen Leute auf beiden Seiten des politischen Spektrums auf, indem sie Verschwörungstheorien verbreiten und Hass säen. Dazu ist ihnen jedes Thema recht – ob Wahlbetrug, Abtreibung, Klimawandel oder Einwanderung. Sie wollen eine aufgeladene Atmosphäre schaffen, die sich jederzeit in Gewalt entladen kann. In New York haben Sie es ja selbst erlebt, aber es geht schon eine ganze Weile so und wird immer schlimmer. Die Unruhen und Proteste, die Sie überall verfolgen können, kommen nicht allein aus der Unzufriedenheit bestimmter Gruppen. Sehr oft steckt Medusa dahinter. Die Leute haben keine Ahnung, dass sie manipuliert werden.«
»Aber was wollen sie damit erreichen?«
»Schwer zu sagen. Mit ihren wahren Absichten halten sie sich bedeckt. Vielleicht sind Chaos und Anarchie der Endzweck, oder sie wollen die westlichen Demokratien schwächen, um eine autoritäre Herrschaft zu etablieren. Wie die aussehen könnte, ist offen. Jedenfalls wissen wir im Moment nicht, wem wir trauen können – das betrifft auch die Repräsentanten des Staates. Medusa hat seine Spione überall, sicher auch in den amerikanischen Regierungsbehörden. Wir waren uns auch bei der Abgeordneten Ortiz nicht sicher. Es bestand der Verdacht, dass sie für Medusa arbeitet.«
»Sie haben auch mich verdächtigt«, sagte Abbey leise. »Oder?«
»Ich habe an diese Möglichkeit gedacht.«
»Jason, wie sind Sie in die Sache hineingeraten? Was haben Sie mit alldem zu tun?«
Bourne saß eine Weile schweigend da und überlegte, was er sagen sollte. Er schloss die Augen, denn die Dunkelheit war schon immer sein Freund gewesen. Die Dunkelheit bot ihm Schutz. Er hasste Fragen über sein Leben, weil es keine einfachen Antworten darauf gab. Vor langer Zeit war er David Webb gewesen, doch diese Person existierte nicht mehr. David Webb war gestorben. Vergessen. Heute war er Jason Bourne. Und Cain.
»Ich habe für eine Regierungsbehörde gearbeitet«, sagte er schließlich. »Ihren Namen werden Sie nicht kennen, und das ist auch besser so. Allein den Namen zu kennen, kann einen schon zur Zielscheibe machen. Diese Leute haben mich rekrutiert, ausgebildet und zu dem gemacht, der ich bin. Der Agent, dem Sie begegnet sind – Nash Rollins –, gehört auch dazu.«
»Ihre eigene Behörde will Sie töten ? «
»Die halten mich für einen Verräter. Sie denken, ich hätte mich Medusa angeschlossen, nachdem ich bei ihnen ausgestiegen bin.«
»Warum sind Sie ausgestiegen?«
»Das ist nicht wichtig.«
»Irgendwie habe ich das Gefühl, dass es sogar sehr wichtig ist. Was ist passiert?«
Er zuckte mit den Schultern. »Ich habe jemanden verloren.«
»Jemand Besonderen?«
Jason wollte nicht weiterreden. Es war zu schmerzhaft. Nova .
»Ich war mit einer unserer Agentinnen in Großbritannien im Einsatz«, begann er, als würde ihn irgendein innerer Antrieb zum Reden bringen. »Mein Deckname war Cain. Ihrer war Nova. Wir haben einige Einsätze gemeinsam durchgeführt. Europa, Asien, auch in Kanada. Ich habe nie einen besseren Agenten gesehen als sie. Aber wir haben einen Fehler gemacht.«
»Sie haben sich in sie verliebt«, murmelte Abbey. »So war es doch, oder? Ich sehe es Ihnen an.«
Er drehte sich zu ihr, und sie schaute ihm in die Augen. »Ja. In meinem Geschäft ist das nicht klug. Persönliche Gefühle hindern einen daran, den Job professionell auszuüben, also hat man sie zu unterdrücken. Nova und ich konnten das nicht. Wir hielten unsere Beziehung geheim, aber wir waren verliebt. So etwas habe ich vorher nur einmal erlebt. Beide Male ist die Frau gestorben.«
»Das tut mir leid. Was ist passiert?«
»Nova war an einer Operation beteiligt, die schiefging. Unschuldige kamen ums Leben. Es war nicht ihre Schuld, aber die Behörde hat sie zum Sündenbock gestempelt. Ihr Ruf im Geheimdienstgeschäft war ruiniert. Niemand wollte sie mehr engagieren. Es war schlimm für sie, aber für uns persönlich haben wir es auch als Chance gesehen. Da sie nicht mehr aktiv war, mussten wir unsere Beziehung nicht mehr geheim halten. Wir wollten uns in Las Vegas treffen und ein bisschen Zeit miteinander verbringen. Ich kam am dritten November 2018 hin.«
»Der dritte November.« Sie brauchte einen Moment, um die Bedeutung des Datums zu erkennen. »Mein Gott. Das Massaker. War sie auch dort? Hat Charles Hackman sie umgebracht?«
»Die Agency hat sie umgebracht«, stellte Bourne klar. »Ich weiß nicht, wie es genau passiert ist, aber sie war das siebenundsechzigste Opfer. Ohne dass die Medien es mitbekamen. Ein Mann von unserer Behörde hat ihre Leiche weggebracht. Ich habe ihn gesehen. Es ist jemand, den ich kenne. Ich rannte zum Hotel, um an den Täter heranzukommen, weil mir klar war, dass sie die Wahrheit vertuschen würden. Aber es war zu spät. Das Gebäude war bereits abgeriegelt, und Nash Rollins war dort. Er hat Nova umbringen lassen.«
»Aber warum?«
»Für die war Nova ein Unsicherheitsfaktor. Sie wollten nicht riskieren, dass sie vielleicht für die Regierung eines feindlichen Landes arbeitet.«
»Daraufhin sind Sie ausgestiegen?«
Bourne nickte. »Ich habe die Vergangenheit hinter mir gelassen. Nicht zum ersten Mal.«
Abbey schaute ihn verständnislos an. »Was meinen Sie damit?«
»Nichts. Vergessen Sie’s.«
Sie zog die Stirn in Falten. »Was ist mit Medusa? Wie sind Sie dazu gekommen, die Organisation zu bekämpfen?«
»Ein alter Freund hat sich an mich gewandt. Er arbeitet für einen großen Technologiekonzern. Medusa bekämpft dieses und andere IT -Unternehmen, indem es deren Daten stiehlt und versucht, die Aktivitäten und die Software dieser Firmen zu kontrollieren. Deshalb haben sich die betroffenen Unternehmen zusammengetan, weil die Regierung ihrer Meinung nach zu wenig gegen Medusa unternimmt. Dafür haben sie mich angeheuert. Die Operation in New York – Sofia Ortiz –, das sollte mir die Möglichkeit geben, an Medusa heranzukommen. Stattdessen hat Medusa mir eine Falle gestellt. Ein geschicktes Manöver. Ein abtrünniger Agent will sich für den Tod seiner Geliebten rächen. Ein Killer. Cain . Jetzt sind alle hinter mir her – und das wird sich nicht ändern, bis ich tot bin.«
Abbey vermied es, ihn anzusehen, doch sie streckte die Hand unter der Decke hervor und griff nach seiner. Ihre Haut war warm und weich. Es war ein eigenartiges Gefühl, nach so langer Zeit wieder einen Menschen zu spüren. Einer Frau nahe zu sein.
»Danke, dass Sie es mir erzählt haben«, sagte sie.
»Danken Sie mir lieber nicht. Dass Sie mit mir hier zusammen sind, bringt Sie selbst in große Gefahr. Sie sollten wegrennen, solange Sie noch können. Noch ist es nicht zu spät, aber wenn Sie morgen Carson Gattor anrufen, gibt es kein Zurück mehr.«
»Ich weiß.« Sie stockte einen Moment. »Es tut mir leid, was mit Nova passiert ist.«
»Und mir tut es leid wegen Michel. Wir haben beide jemanden verloren.«
»Bei Ihnen war es wenigstens Liebe. Michel und ich – ich weiß nicht, wie man es nennen soll, aber Liebe war es nicht. Er hat mich vielleicht geliebt, aber ich wollte mich nicht wirklich auf ihn einlassen. Ich weiß nicht, ob ich je so weit gehen könnte.«
»Das Gleiche hätte ich auch gesagt«, entgegnete Jason, »aber dann hab ich’s doch getan.«
»Warum wollen Sie mir nicht sagen, wer Sie wirklich sind? Woher Sie kommen. Ist die Bourne-Identität irgendwie geheim?«
»Ich kann Ihnen nichts erzählen, an das ich mich nicht mehr erinnere«, sagte Jason.
»Das verstehe ich nicht.«
Bourne schwieg. Es gab Dinge, mit denen er sich nicht mehr beschäftigen wollte. Und Dinge, die ihm verschlossen waren. »Ich rede schon die ganze Zeit. Erzählen Sie mir doch von sich.«
Ihre Stimme klang ein wenig kühl, als sie antwortete: »Ist das wirklich nötig?«
»Wie meinen Sie das?«
»Sie wissen doch sicher schon alles über mich. Wahrscheinlich haben Sie eine Akte mit allen persönlichen Informationen. Ist es nicht so? Als Agent haben Sie bestimmt über mich recherchiert, bevor Sie Kontakt mit mir aufgenommen haben.«
Einmal mehr wurde ihm bewusst, wie klug Abbey war. Beeindruckend.
»Das stimmt«, gab er zu. »Ich kenne eine Menge Fakten über Sie. Aber Fakten sind blutleer. Menschen sind viel mehr als bloße Fakten.«
»Was wissen Sie über mich?«
»Dass Sie in New York geboren sind. Sie haben einen frankokanadischen Vater und eine amerikanische Mutter. Nachdem Ihre Mutter starb, sind Sie mit Ihrem Vater nach Ottawa gegangen. Sie haben die McGill University besucht und sich danach in der Stadt Québec niedergelassen, um einen Job bei einem aufstrebenden Online-Magazin anzunehmen. The Fort .«
Abbey zuckte mit den Schultern. »Sehen Sie? Sie wissen alles über mich.«
»Das glaube ich nicht«, erwiderte Jason. »Ich weiß zum Beispiel nicht, warum Sie kaum noch Kontakt zu Ihrem Vater haben. Oder warum Sie immer noch für ein kleines Magazin wie The Fort arbeiten, obwohl Sie Angebote von The Atlantic und Vanity Fair hatten. Und ich kann mir auch nicht erklären, warum eine kluge, witzige, attraktive zweiunddreißigjährige Frau so absolut nichts von einer ernsthaften Bindung hält.«
»Wollten Sie jetzt noch schnell ein Kompliment unterbringen, damit ich Ihnen alles anvertraue?«
»Nein.«
»Was wollen Sie dann damit sagen? Dass ich hübsch bin, aber ziemlich verkorkst?«
»Ich will nur wissen, wer Sie wirklich sind.«
»Ich bin Journalistin und arbeite an einer brisanten Sache«, sagte Abbey. »Das ist alles. Das ist mein Leben.«
»Das erklärt aber nicht unbedingt, warum Sie mir helfen.«
Sie zuckte mit den Schultern. »Vielleicht weiß ich das selbst nicht so genau. Haben Sie an diese Möglichkeit schon gedacht? Vielleicht bin ich so, dass ich mich manchmal auf Dinge einlasse und selbst nicht genau weiß, warum.«
Er lächelte ihr zu. »Das halte ich für möglich.«
»Ich bringe Sie zu Carson Gattor. Das ist jetzt das einzig Wichtige, richtig?«
»Sie haben recht.«
»Okay. Dann schlafe ich jetzt eine Runde. Ihr Vorschlag.«
Abbey schloss die Augen und drehte den Kopf von ihm weg. Sie wirkte plötzlich angespannt und unruhig, und er hörte sie schwer atmen. Ihr war anscheinend warm geworden, denn sie streifte die Decke ab. Jason blieb wach und wartete darauf, dass ihre Atmung langsam und gleichmäßig wurde – doch es dauerte lange, bis sie einschlief.
Dann schloss auch er die Augen. Seine Hand hatte sie nicht losgelassen.