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Abbey erkannte Holly d’Angelo sofort von dem Foto, das der IT -Spezialist von Carillon ihr aufs Handy geschickt hatte. Peter Restaks Freundin sah aus wie ein richtiges italienisches Temperamentbündel. Klein, aber explosiv. Ihre Füße fegten über das Laufband, als wäre es ein Hundert-Meter-Sprint. Ihr Gesicht glänzte vom Schweiß, der über ihre gekrümmte Nase herablief. Ihre Augenbrauen waren schwarz und buschig, die langen schwarzen Haare zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden. Sie trug ein rotes Tanktop und enge Sportshorts.

Es war laut in dem Fitnessraum, doch Holly schien das metallische Geklapper der Sportgeräte nicht mitzubekommen. Zu tief war sie in ihr eigenes schweißtreibendes Workout versunken. Als Abbey auf das Laufband neben ihr stieg, drehte Holly nicht einmal den Kopf zu ihr. Abbey schaltete die Maschine ein und lief in einem deutlich entspannteren Rhythmus. Alle zwei Minuten schaute sie zu ihrer Nachbarin und lächelte, doch Holly nahm keine Notiz davon.

Eine halbe Stunde später machte Holly immer noch keine Anstalten, ihr Lauftempo zu drosseln oder gar aufzuhören. Abbey schaltete die Geschwindigkeit des Bandes auf Schritttempo herunter. Zehn Minuten später ließ endlich auch Holly ihr Training im Marschtempo ausklingen. Abbey stieg vom Laufband und machte Dehnungsübungen, während sie darauf wartete, dass die Frau neben ihr ihre Einheit beendete. Als Holly das Gerät abschaltete, war ihr rotes Top schweißnass und ihr Gesicht knallrot. Als sie noch ein paar Kniebeugen machte, beschloss Abbey, sie anzusprechen.

»Entschuldigen Sie.«

Holly schaute zu ihr auf. »Was wollen Sie?«, fragte sie mit dem näselnden Akzent von New Jersey.

»Entschuldigen Sie, dass ich störe, aber Sie kommen mir so bekannt vor. Es ist mir sofort aufgefallen, als ich Sie auf dem Laufband sah. Ich bin mir sicher, dass wir uns schon mal begegnet sind.«

»Das glaube ich nicht«, versetzte Holly. »Falls das eine Anmache sein soll, müssen Sie noch dran arbeiten.«

Abbey lachte. »Nein. Im Ernst, ich kenne Sie. Holly, richtig?«

Die Frau schaute sie überrascht an. »Stimmt. Wer sind Sie?«

»Britney Jenks«, log Abbey.

»Ich kann mich jedenfalls nicht an Sie erinnern«, sagte Holly.

»Oh, das wundert mich gar nicht. Es muss letztes Jahr auf einer Party gewesen sein. Vielleicht in Tribeca. Diese Lofts sehen alle gleich aus. Sie waren mit Ihrem Freund dort – ich kenne ihn zufällig von einer Gruppe auf Prescix. Pete Restak.«

»Sie haben einen Prescix-Account?«

»Haben doch fast alle heute, oder?«

»Sie kennen Peter, sagen Sie?«

»Klar. Ein IT -Freak, richtig? Einer von diesen superschlauen Typen, die alles hacken können. Dunkelblond, Männerknoten.«

»Das ist er, ja«, stimmte Holly zu.

»Sind Sie beide nicht mehr zusammen?«

»Warum fragen Sie? Wollen Sie sich mit ihm treffen?«

»Ich? Nein, ich hab einen Freund. Mir ist nur aufgefallen, dass Pete sich nicht mehr in der Prescix-Gruppe blicken lässt. Er hat mir öfter geholfen, wenn ich irgendein Computerproblem hatte. Ich bin ein ziemlich hoffnungsloser Fall, was das betrifft. Ich wollte mich bei ihm melden, dann bin ich draufgekommen, dass ich keine E-Mail-Adresse und keine Telefonnummer habe.«

Holly schwieg einen langen Moment, schlang sich ein Handtuch um den Hals und hielt die Enden mit beiden Händen fest. »Peter und ich haben uns vor ein paar Monaten getrennt. Ich hab Schluss gemacht.«

»Das tut mir leid. Echt schade. Das ist mir ein bisschen peinlich, aber Sie haben nicht zufällig noch irgendwelche Kontaktdaten von ihm? Mein Laptop spinnt mal wieder, und ich hab im Moment nicht das Geld für einen neuen. Ich hab mir gedacht, Pete könnte das Ding wieder auf Vordermann bringen.«

Abbey lächelte. Holly nicht. Ihr knallrotes Gesicht zeigte keine Regung. »Ja, wahrscheinlich hab ich seine Telefonnummer noch irgendwo. Mein Handy ist in der Umkleide. Kommen Sie mit, dann geb ich Ihnen die Nummer.«

»Toll, danke. Das ist wirklich nett von Ihnen.«

Holly ging voraus. Die Frau schritt so zügig aus, wie sie zuvor gelaufen war. Abbey hatte Mühe, mit ihr Schritt zu halten. Durch eine Tür gelangten sie in einen Umkleideraum mit stählernen Schließfächern. Außer ihnen waren noch zwei oder drei Frauen anwesend. Abbey folgte Holly eine lange Reihe von Holzbänken entlang ans andere Ende des Raumes. Holly öffnete das Schließfach, in dem sie ihre Sachen aufbewahrt hatte: Straßenkleidung, eine Sport- und eine Handtasche.

»Ich hab mein Handy da drin«, sagte Holly.

Sie kramte in ihrer Handtasche, dann wirbelte sie mit der Schnelligkeit einer Klapperschlange herum, packte Abbey an den Schultern und warf sie gegen die Schließfächer. Abbey krachte mit dem Kopf gegen den harten Stahl. Holly drückte ihr den Unterarm gegen den Hals und hielt ihr die Spitze eines kleinen Schweizer Taschenmessers ans Auge. Hollys Gesicht war wutverzerrt, ihr Atem warm und säuerlich.

»Okay, wer zum Teufel sind Sie?«

»Das …«, krächzte Abbey, »hab ich Ihnen doch gesagt.«

»Das war eine Lüge . Wer Peter Restak kennt, weiß, dass ihn niemand ›Pete‹ nennt. Niemand. Und Peter hatte auch nie einen Prescix-Account auf seinen Namen. Ganz sicher nicht. Er hat mir geraten, mich von solchen Gruppen fernzuhalten. Besonders von Prescix. Die manipulieren Leute, hat er gesagt.«

»Dann … dann hab ich mich wohl geirrt.«

»Geirrt? Das glaub ich nicht. Wer sind Sie, und was wollen Sie? Und woher, verdammt noch mal, kennen Sie meinen Namen?«

»Ich hab’s Ihnen ja gesagt … von einer Party.«

Holly schüttelte den Kopf. »Ich und Peter auf einer Loft-Party? Nie und nimmer.«

»Hey, Holly«, rief eine Frau aus der Dusche herüber. »Alles in Ordnung bei dir? Soll ich 911 anrufen?«

Holly drückte ihren Unterarm noch fester gegen Abbeys Kehle. Die Klinge des kleinen Messers verharrte vor Abbeys Augapfel. »Was meinen Sie? Soll ich sie die Polizei rufen lassen? Ich glaube, Sie hätten ein echtes Problem, den Cops zu erklären, was Sie von mir wollen. Ich geb Ihnen fünf Sekunden. Entweder Sie sagen die Wahrheit, oder wir rufen die Polizei – dann können Sie sich mit denen über Peter unterhalten.«

Abbey versuchte zu nicken. »Okay. Okay. Ich sag Ihnen die Wahrheit.«

Holly schaute über die Schulter zurück und rief der Frau zu. »Alles klar, Steph. Ich hab’s unter Kontrolle.«

Sie ließ Abbey los, fasste sie am Handgelenk und drückte sie grob auf die Holzbank. Abbey rieb sich den Hals und atmete erst einmal durch. Holly klappte das Taschenmesser zusammen und steckte es in ihre Handtasche, dann setzte sie sich neben sie. Ihr Schweißgeruch stieg Abbey in die Nase.

»Sie gehören zu denen , richtig?«, begann Holly.

»Zu wem?«

»Peters Gruppe. Die Leute, über die er nicht reden wollte.«

»Sie meinen Medusa ? «

»Nennen sie sich so? Peter wollte es mir nicht sagen. Darüber hat er nicht geredet. Diese Leute sind in üble Sachen verwickelt.«

»Mit denen hab ich nichts zu tun, Holly«, versicherte Abbey. »Das schwöre ich.«

»Wer sind Sie dann?«

Abbey seufzte. Bei Jason sah es so leicht aus, sich zu verstellen und in eine Rolle zu schlüpfen. Schwierig wurde es, wenn es darum ging, jemandem ins Gesicht zu lügen. »Mein Name ist Abbey Laurent. Ich bin Journalistin und versuche diese Gruppe auffliegen zu lassen. Peter Restak ist die einzige Verbindung zu Medusa, die ich habe. Darum muss ich ihn finden.«

»Peter wird Ihnen sicher nichts sagen. Er steckt zu tief mit drin.«

»Wissen Sie etwas darüber, was er für diese Leute macht?«

Holly zuckte mit den Schultern. »Sie haben es ja selbst gesagt – Peter ist ein Hacker. Manchmal hat er die halbe Nacht an seinem Computer gesessen – und am nächsten Tag ist dann meistens irgendwas Schlimmes passiert. Er hat die Nachrichten geschaut – von irgendwelchen Demonstrationen, die plötzlich gewalttätig wurden. Solche Sachen. Es war so, als wüsste er schon vorher, was kommen würde. Ich hab ihn danach gefragt – er sagte bloß, das System wäre total korrupt und müsste zerstört werden. Das war manchmal echt unheimlich.«

»Haben Sie sich deswegen von ihm getrennt?«

»Deswegen, und weil er mich mit irgendeiner Schlampe aus seiner Gruppe betrogen hat.«

»Wissen Sie, wer das war? Haben Sie einen Namen? Oder haben Sie ihn mal mit ihr gesehen?«

»Nein. Ich weiß nur, dass sie ziemlich durchgeknallt sein muss. Wenn er mit ihr zusammen war, hatte er Bisswunden und blaue Flecken überall. Er ist mir mit irgendeiner lahmen Ausrede gekommen, aber ich bin ja nicht blöd. Ich hab ihm gesagt, wenn es das ist, was er im Bett will, dann wird er’s von mir nicht kriegen. Also hab ich ihm den Laufpass gegeben.«

»Wann haben Sie ihn zum letzten Mal gesehen?«, fragte Abbey.

»Vor einem halben Jahr. Wir haben uns getrennt, aber damit war die Sache nicht erledigt. Ungefähr eine Woche später hatte ich das mulmige Gefühl, dass mich jemand verfolgt. Ich war mir ziemlich sicher, dass jemand in meiner Wohnung war. Ehrlich gesagt glaube ich, dass die irgendwo in meinem Apartment Kameras installiert haben. Manchmal fühle ich mich beobachtet. Als Sie mich dann nach Peter gefragt haben, bin ich ausgeflippt.«

»Das kann ich verstehen.«

»Wenn Sie hinter diesen Leuten her sind, sollten Sie verdammt vorsichtig sein.«

»Das ist mir bewusst, glauben Sie mir. Trotzdem muss ich ihn finden. Haben Sie eine Ahnung, wo er wohnt?«

»Er bleibt nie lange an einem Ort«, sagte Holly. »Und er hinterlässt auch nie seine neue Adresse. Das hätte mir schon viel früher zu denken geben müssen. Nachdem ich Schluss gemacht hatte, ist er schon zwei Wochen später umgezogen. So als wollte er nicht, dass ich ihn finden könnte. Aber mir war nicht wohl dabei, dass ich nicht wusste, wo er steckt. Irgendwie hab ich gespürt, dass einmal der Tag kommen wird, an dem jemand ihn sucht. Also hab ich einmal in dem Park abgewartet, wo er sich gern aufgehalten hat, um was zu programmieren. Er kam tatsächlich, und als er wegging, folgte ich ihm. Er hatte ein neues Apartment an der Tenth Street, in der Alphabet City. Ich weiß aber nicht, ob er noch dort wohnt.«

»Danke, Holly.«

»Ich muss duschen und meinen Zug erwischen. Ich gebe Ihnen die Adresse.«

Holly scrollte durch die Kontaktliste auf ihrem Mobiltelefon, bis sie die Adresse von Peter Restaks Apartment fand. Abbey tippte sie in ihr Handy ein, während Holly ihre Turnschuhe abstreifte und das Top auszog. Abbeys Blick schweifte beiläufig über den nackten Oberkörper der Frau und blieb an einer runden Narbe im Schulterbereich hängen, oberhalb der linken Brust.

»Entschuldigen Sie, ich will nicht neugierig sein«, sagte Abbey, »aber ist das eine Schusswunde?«

Holly schaute auf ihre Brust hinunter. »Das war eine Kugel, ja. Ich sag Ihnen, wenn die Jungs in der Kneipe mit ihren Narben angeben, gewinne ich immer. Das kränkt ihren Stolz.«

»Wie ist es passiert?«

»Ich war zur falschesten Zeit am falschesten Ort. Peter ist ein Autonarr und wollte unbedingt so eine Oldtimer-Schau sehen. Die war auf einem leeren Parkplatz gegenüber dem Hotel Lucky Nickel in Las Vegas. Am 3. November 2018. Sagt Ihnen das was?«

Abbey spürte eine Welle der Übelkeit in sich aufsteigen und musste sich auf die Bank setzen. »Sie waren dort, als Charles Hackman die vielen Menschen erschossen hat?«

Holly rieb sich die Narbe, als wäre sie ein Amulett. »Ja. Ich war dort. Glauben Sie mir, ich würd’s gern vergessen, aber es hat sich mir ins Hirn tätowiert. Wenn diese Kugel mich ein paar Zentimeter tiefer erwischt hätte, würde ich jetzt nicht hier stehen.«