Der Chef von Medusa verschwand mit seinem schwarzen Trolley in einer Herrentoilette am Dulles International Airport. Er war allein hier drin. Der Eingang war mit Absperrband verriegelt, und ein Mann im dunklen Anzug mit einem Knopf im Ohr achtete darauf, dass niemand sonst durchkam.
In Washington wurden solche Dinge nicht hinterfragt – es würde schon seine Gründe haben.
Während er beim Urinal stand, klingelte sein Handy in der Tasche. Er wusste, wer anrief. Diese Nummer hatten nur wenige. Er tippte auf den Knopf im linken Ohr, um den Anruf anzunehmen.
»Ja?«
»Es gibt leider schlechte Neuigkeiten.«
»Das bin ich gar nicht von dir gewohnt, Shirl.«
Er war der einzige Mann auf dem Planeten, der sie anders als mit »Miss Shirley« ansprechen konnte, ohne eine Bestrafung fürchten zu müssen.
»Es tut mir leid.«
»Warum ist es schiefgegangen?«
»Treadstone ist mir in die Quere gekommen. Ein Agent hat Bourne in dem Apartment besucht. Ich habe gehofft, er würde uns die Arbeit abnehmen und beide beseitigen, aber aus irgendeinem Grund hat er es nicht getan. Noch schlimmer war, dass er mir in die Schusslinie gelaufen ist, als ich Bourne ausschalten wollte. Ich fürchte, Bourne und die Frau sind entkommen.«
»Das ist sehr ärgerlich.«
»Ja. Wir suchen nach Spuren, die uns verraten könnten, wo sie hingehen. Ich glaube aber nicht, dass sie irgendwelche Informationen haben, die uns gefährlich werden könnten.«
»Bei Bourne kann man nie wissen.«
»Mag sein. Ich habe aber dafür gesorgt, dass alles auf ihn als Täter hindeutet. Treadstone wird weiterhin annehmen, dass er für uns arbeitet.«
»Gibt es sonst noch etwas, Shirl?«
»Ich habe plangemäß Peter Restak aus New York abgezogen.«
Er hörte ihr an, dass das nicht alles war. »Ja, und?«
»Es war knapp. Restak hat sein Apartment abgefackelt, um alle Spuren zu vernichten, aber Bourne war dort und hätte ihn beinahe erwischt. Restak konnte entkommen und ist bereits auf dem Weg nach Las Vegas.«
»Vielleicht war meine Entscheidung falsch«, sinnierte der Chef von Medusa. »Vielleicht hätten wir Restak eliminieren sollen.«
»Mit seinen Fähigkeiten ist er uns überaus nützlich«, rief Miss Shirley ihm in Erinnerung. »Sobald wir die Prescix-Software vollständig unter Kontrolle haben, kann Restak unser IT -Team leiten. Wir brauchen ihn.«
»Wenn das so ist, war es unverantwortlich, ihn in eine so gefährliche Situation zu bringen. Du hättest ihn früher aus der Schusslinie nehmen müssen, Shirl.«
»Das ist mir jetzt auch klar.«
»Wird das jetzt zur Gewohnheit?«
»Nein, das verspreche ich dir. Ich habe Restak in der Stadt gelassen, damit er mir hilft, an Bourne heranzukommen. Ich sehe ein, es war ein Fehler. Ich hätte ihn früher wegschicken müssen.«
»Steckt da vielleicht noch etwas anderes dahinter? Hast du ihn dabehalten, um ihn noch kurz zu vernaschen?«
Miss Shirley zögerte einen Moment, ehe sie antwortete. »Ich gebe zu, es stimmt.«
»Du kannst deine Vorlieben ausleben, wie du willst, Shirl, aber wenn die Arbeit darunter leidet, haben wir ein Problem.«
»Es wird nicht wieder vorkommen.«
»Sicher? Hast du Bourne vielleicht laufen lassen, weil du ihn für dich haben willst? Hast du deshalb danebengeschossen?«
»Nein, das hatte damit nichts zu tun. Obwohl ich zugeben muss, dass es mir ein persönliches Anliegen wäre, das kleine Miststück zu beseitigen, mit dem er zusammen ist.«
Der Chef von Medusa schüttelte den Kopf. »Du musst dich auf das Wesentliche konzentrieren, Shirl. Wir nähern uns dem Höhepunkt unserer Operation. Es fehlt nicht mehr viel, dann gehört Prescix uns, und wir können gezielt gegen das Big-Tech-Imperium vorgehen. Du bist für die Umsetzung verantwortlich. Das hat für uns oberste Priorität.«
»Verstanden.«
»Enttäusche mich nicht noch einmal.«
»Sicher nicht.«
Er trennte die Verbindung.
Als er nach rechts schaute, stand erwartungsgemäß ein Mann am Urinal nebenan. Er war in den Sechzigern, groß und fett, hatte einen weißen Haarkranz, eine dicke Knollennase und ein ausgeprägtes Doppelkinn. Trotz seiner Leibesfülle wirkte sein brauner Anzug weit und schlabbrig. Als er sprach, klang seine akzentgefärbte Stimme, als hätte er den Mund voll Haferbrei.
»Miss Shirley?«, fragte er.
»Ja.«
Der Mann lachte. »Was für eine interessante Frau! Ich gebe zu, ich wüsste gern, wie die im Bett ist.«
»Die Frau würde Sie umbringen, Fjodor.«
»Aber was für ein schöner Tod das wäre. Außerdem sollten Sie mein Standvermögen nicht unterschätzen.«
»Das tu ich nicht.«
Fjodor schüttelte seine Hüften und urinierte, dass es rauschte wie die Niagarafälle. Russische Männer waren aus irgendeinem Grund stolz darauf, kräftig pinkeln zu können. Fjodor Michailow war die Nummer zwei in der russischen Botschaft und von daher befugt, die ganze Welt zu bereisen. Seine wahre Aufgabe bestand jedoch in der Leitung der russischen Aktivitäten gegen die Vereinigten Staaten und Europa.
Er war außerdem ein widerwärtiger Mensch, primitiv und grausam. Der Chef von Medusa konnte ihn nicht ausstehen, doch im Moment waren Fjodor und die Russen für ihn nützliche Partner.
»Also, wie ist die Lage, mein Freund?«, fragte Fjodor. »Kriegen wir endlich etwas für unsere beträchtlichen Investitionen in Ihre Operation?«
»Alles läuft planmäßig. Prescix wird bald uns gehören. Auch die Regierung trägt ihren Teil dazu bei. Die gesetzlichen Regelungen, die die Abgeordnete Ortiz noch vorgeschlagen hat, spielen uns in die Hände.«
»Und die Technologiekonzerne?«
»Die werden wir uns schon sehr bald vorknöpfen. Dann haben wir alles, was wir brauchen. Psycho-Profiling, manipulierte Nachrichten, Fake-Videos, Online-Bots, passgenau auf den Einzelnen zugeschnitten. Hackman hat gezeigt, was möglich ist. Bald werden wir Leute in Massen manipulieren und radikalisieren können. Wir werden unsere Ziele durch soziale Unruhen, Gesetze in unserem Sinn und letztlich auch durch Wahlergebnisse erreichen.«
Fjodor beendete sein Geschäft am Urinal und zog den Reißverschluss hoch. »Die werden so beschäftigt damit sein, übereinander herzufallen, dass sie gar nicht mitkriegen, wie wir uns die verlorenen Gebiete zurückholen.«
»Richtig.«
»Chaos ist erst der Anfang, mein Freund. Es reicht nicht, die Bestie zu verwunden. Das macht sie sogar noch gefährlicher, wenn sie sich vom ersten Schock erholt hat. Nein, wir müssen den Feind vernichten und aus den Trümmern etwas Neues entstehen lassen. Sie dürfen unser Ziel nicht vergessen, mein Freund. Hass und Gewalt müssen zum Bürgerkrieg führen. Das ist der eigentliche Zweck unserer Bemühungen.«
»Wir sind auf einem guten Weg.«
Ein breites Grinsen ließ Fjodors Gesicht erstrahlen. »Sie machen gute Arbeit. Das wusste ich gleich, als wir uns vor Jahren begegnet sind. Ich werde das in Moskau gebührend erwähnen.«
»Danke, Fjodor. Das ist mir eine Ehre.«
Ich kann’s gar nicht erwarten, dich von Miss Shirley massakrieren zu lassen, du alter Narr , dachte der Chef von Medusa. Das Einzige, was aus den Trümmern entstehen wird, ist eine Welt, die wir lenken. Keine Regierungen oder internationale Organisationen. Nur Technologie. Die Zukunft gehört nicht Russland, Fjodor. Die Zukunft ist Medusa .
Die beiden Männer drehten sich um und traten zu den Waschbecken. Fjodor wartete amüsiert, während der Chef von Medusa seine Hände sorgfältig einseifte und wusch. Als er fertig war, streckte der Russe ihm die Hand hin. Es war ein kleiner Hinweis darauf, wer der Boss war.
»Was ist eigentlich mit Jason Bourne?«, fragte Fjodor, während sie einander die Hände schüttelten. »Mir ist zu Ohren gekommen, dass es Ihnen noch immer nicht gelungen ist, ihn aus dem Weg zu räumen. Müssen wir uns Sorgen machen?«
»Wegen Bourne sicher nicht«, erwiderte der Chef von Medusa. »Es ist nur eine Frage der Zeit, bis wir ihn erwischen. Er kann uns nicht aufhalten.«