26

Nachdem sie New York verlassen und vierundzwanzig Stunden gefahren waren, machten Jason und Abbey halt in einem Motel am Interstate Highway 20 bei Amarillo, Texas. Unterwegs hatten sie nur kurz angehalten, um zu tanken und etwas aus einem Schließfach zu holen, das Jason in Washington, D.C., unterhielt. Darin hatte er Bargeld, einen Führerschein und einen Pass auf einen anderen Namen und eine Pistole aufbewahrt. Gegen Mitternacht waren sie immer noch zwölf Autostunden von Las Vegas entfernt, doch sie brauchten dringend etwas Schlaf.

Sie nahmen sich ein Zweibettzimmer nahe der Treppe, damit Bourne es hören konnte, wenn jemand heraufkam. Durch das Fenster kamen mit der warmen Luft auch Moskitos ins Zimmer. Sie machten sich gar nicht erst die Mühe, sich auszuziehen, sondern legten sich einfach aufs Bett und versuchten zu schlafen. Eine Stunde später lag Jason immer noch wach. An Abbeys Atmen erkannte er, dass auch sie nicht schlafen konnte.

Während der Fahrt hatten sie wenig gesprochen. Nach Benoits Tod hatte Abbey schockiert die blutige Gehirnmasse auf dem Boden angestarrt, doch später im Auto hatte sie darauf bestanden, bei Jason zu bleiben und mit ihm die Jagd auf Medusa in Nevada fortzusetzen. Seither hatten sie sich am Steuer abgewechselt und kaum mehr als ein paar Worte gewechselt, obwohl es durchaus einiges zu besprechen gab.

Sie spürten beide, dass da etwas zwischen ihnen war.

Doch sie taten so, als wäre es nicht real.

»Du hinterfragst jetzt wahrscheinlich alles, was du über Nova dachtest«, murmelte Abbey im dunklen Zimmer, gerade laut genug, dass er es hören konnte.

Er schwieg, und sie wartete lange, bis sie etwas hinzufügte.

»Was Benoit dir erzählt hat, ändert nichts, oder? Sie hat dich immer noch geliebt, und du sie auch.«

»Ich hab sie geliebt, das stimmt«, sagte Jason endlich. »Und in gewisser Weise liebe ich sie wahrscheinlich immer noch. Ansonsten weiß ich nicht mehr, was wahr oder falsch ist. Nova war eine erstklassige Agentin. Sie hätte mich leicht täuschen und glauben machen können, dass ihre Gefühle echt sind. Vielleicht hat sie mich auch irgendwie geliebt, aber vertraut hat sie mir nicht. Wie Benoit sagte, für Treadstone war ich ein Verräter.«

»Er hat aber auch gesagt, dass Nova das nicht geglaubt hat.«

»Mag sein, aber wenn sie sich sicher gewesen wäre, dass ich nichts mit Medusa zu tun habe, hätte sie mir anvertraut, was sie vorhat. Ich hätte ihr helfen können, hätte ihr den Rücken freihalten können. So ist sie in eine Falle gelaufen, und ich hatte keine Möglichkeit, es zu verhindern.«

»Es klingt aber so, als wollte sie dich schützen«, meinte Abbey.

»Nein. Sie hat mir verschwiegen, was wirklich läuft, hat mich im Dunkeln gelassen.«

Er lauschte ihrem Atmen. Abbey war nur zwei Meter entfernt, auch wenn er sie bei ausgeschaltetem Licht nicht sehen konnte.

»Jason, warum hast du dein Gedächtnis verloren?«, fragte sie so vorsichtig, als würde sie sich in ein Minenfeld wagen. »Du sagst, du hast keine Vergangenheit und erinnerst dich nicht mehr daran, wie du früher warst. Was heißt das genau?«

Er überlegte einige Augenblicke, wie er antworten sollte. Er hatte damit gerechnet, dass sie das Thema seiner Vergangenheit früher oder später ansprechen würde. Als Journalistin war es ihr Job, Fragen zu stellen und nachzuhaken. Sie wollte die Wahrheit über Menschen wissen, mit denen sie zu tun hatte, um sie einordnen und studieren zu können, wie Insekten in einem Experiment. Vielleicht steckte aber auch etwas anderes dahinter. Vielleicht gab es nicht hinter jeder Handlung ein verborgenes Motiv.

Er wollte ihr die Wahrheit sagen. Diesen Wunsch hatte er schon lange nicht mehr verspürt.

»Es war ein Kopfschuss während einer Mission«, erklärte er ihr. »Die Verletzung hat zu einem Gedächtnisverlust geführt. Ich habe alles verloren, hatte keine Identität mehr, wusste nicht mehr, wer ich war und was ich konnte.«

»Ist die Erinnerung irgendwann zurückgekommen?«, wollte sie wissen.

»Nur in Bruchstücken. In unzusammenhängenden Bildern. Ich fand heraus, wer ich war, und erfuhr von anderen mehr über meine Vergangenheit, aber das ist nicht dasselbe, wie sich daran erinnern zu können. Was ich über meine Vergangenheit weiß, ist ungefähr so, als hätte ich es in einem Geschichtsbuch gelesen. Man kann Einzelheiten erfahren und Bilder anschauen, aber es ist, als würde es um einen anderen Menschen gehen. Ich habe lange versucht, mich mit Gewalt zu erinnern, aber so funktioniert es nicht. Wozu auch? Der Mensch, der ich einmal war, existiert ja nicht mehr. Ich bin Jason Bourne, ein Geschöpf von Treadstone. Die andere Identität, mit der ich geboren bin, ist für mich längst nichts Reales mehr.«

Abbey hörte schweigend zu.

Er hörte im Dunkeln eine Decke rascheln, dann knarrte der Fußboden des alten Motels, als sie von ihrem Bett aufstand. Sie war unsichtbar wie ein Gespenst, doch leise Geräusche verrieten ihm, was sie tat. Er hörte das Rascheln von Kleidung, die ausgezogen wurde, einen Reißverschluss surren. Dann knirschte die Matratze seines Betts, als sie sich neben ihn legte. Sie schmiegte sich an ihn, und er legte instinktiv den Arm um sie. Sie barg das Gesicht an seiner Schulter, und er spürte ihren Atem am Hals. Er ließ die Hand über ihren Körper wandern und spürte nur Haut. Sie war völlig nackt.

»Du hast gesagt, du weißt nicht wirklich, wer ich bin«, flüsterte Abbey.

»Das stimmt.«

»Ist das wahr, oder hast du es nur so gesagt? Ich weiß, dass du genauso wie Nova in der Lage wärst, Gefühle vorzutäuschen.«

»Es ist wahr«, sagte Jason. »Ich würde gern wissen, wer du bist.«

Abbey nahm einen langen Atemzug.

»Okay, mal sehen. Du hast gesagt, ich hätte mich von meinem Vater entfremdet. Da ist was dran. Irgendwie liebe ich ihn, aber respektieren kann ich ihn nicht. Bevor meine Mutter krank wurde, hat er sie ständig betrogen. Sie wusste es. Schon klar, man kann nicht sagen, dass sie deswegen Krebs bekam, aber irgendwie hat es sie gelähmt, ihr den Lebensgeist geraubt. Für sie war er der Mann ihres Lebens, aber seine Liebe war nicht viel wert. Das kann ich ihm einfach nicht verzeihen.«

»Was ist mit Michel?«, fragte Jason. »Warum hat es mit ihm nicht funktioniert? Hat er dich irgendwie an deinen Vater erinnert?«

Sie lachte leise. »Du bist wirklich gut. Ja, das hat vielleicht mitgespielt. Das Leben mit Michel hat mich schon an das Zusammenleben meiner Eltern erinnert. Und wie das ausging, weiß man ja. Das ist wahrscheinlich unfair von mir, aber für mich hat es sich so angefühlt. Außerdem habe ich mir mein Leben immer anders vorgestellt.«

»Wie?«

»Ich sag’s dir, wenn ich es in Worte fassen kann.«

»Wie es aussieht, bist du nicht gerade versessen darauf, eine große Karriere zu machen«, fuhr Jason fort. »Du hast Angebote von renommierten Zeitschriften abgelehnt. Dabei bist du kein Mensch, der Risiken scheut.«

»Das stimmt.«

»Du willst deinen Job nicht aufgeben, obwohl du den Stillstand eigentlich hasst. Du wohnst immer noch in Québec, obwohl du ständig unterwegs bist.«

»Vielleicht bin ich halt ein Rätsel.«

»Du lebst dein Leben, als wär’s ein Fallschirmsprung«, meinte Jason.

»Wie kommst du darauf?«

»Du springst gern ins Unbekannte, liebst das Gefühl des freien Falls, die Herausforderung, den Tod zu überlisten. Für dich gibt es nichts Langweiligeres als ein Leben auf sicherem Boden. Wenn du etwas Neues anfängst, ist der erste Schritt für dich voller Verheißung, das Versprechen einer einmaligen Erfahrung. Aber …«

»Was aber?«

»Der erste Schritt macht auch Angst.«

Abbey drehte sich zu ihm und fand seinen Mund in der Dunkelheit. Während sie sich küssten, machten sich ihre Hände an seiner Kleidung zu schaffen. Er half ihr, sein Hemd auszuziehen, und streifte seine Hose ab. Sie strich über seine Brust, erkundete mit den Fingerspitzen die alten Narben. Er spürte ihre Lippen auf seinem Gesicht, seinen Schultern, seinem Hals. Als er nackt war wie sie, nahm sie seine Hand und zog ihn über sich.

»Der erste Schritt ist immer der schwerste«, flüsterte sie.

Nash Rollins öffnete die hintere Tür der Stretchlimousine vor dem New Yorker Apartmenthaus, in dem er Benoits Leiche vorgefunden hatte. Er schaute links und rechts die Straße hinunter, dann stieg er ein und setzte sich auf die Rückbank. Unter Schmerzen verlagerte er sein Gewicht so, dass er einigermaßen bequem saß, und klappte seinen Gehstock zusammen. Durch die getönten Scheiben sah er die Blinklichter der Streifenwagen.

»Guten Abend, Nash«, sagte Miles Priest.

»Hallo, Miles.«

Das Pferdegesicht des Managers wirkte noch mürrischer als sonst. »Mein Beileid wegen Benoit. Er war ein guter Mann.«

»Das war er allerdings.«

»Wissen Sie schon, wie es passiert ist?«

»Bourne hat ihn erschossen. Ich hätte es wissen müssen. Er hat damit gerechnet, dass wir die Videobilder aus dem sicheren Haus sehen und einen Mann auf ihn ansetzen würden. Also hat er sich in einem Apartment gegenüber postiert und auf Benoit gewartet. Er hat durchs Fenster geschossen und ihn mit einem Schuss getötet. Damit hat er uns den Krieg erklärt, im Namen von Medusa.«

Rollins spie die Worte voller Bitterkeit heraus. Er hatte in seiner Einschätzung von Bourne geschwankt, hatte sich gefragt, ob er ihn nicht vielleicht zu Unrecht verdächtigte. Diese Zweifel hatte Cain nun mit einem Schlag beseitigt. Rollins’ Zorn glühte wie Feuer, doch er musste seine Emotionen im Zaum halten. Er musste jetzt eiskalt bleiben, um das Richtige zu tun.

»Nur, damit es da keine Zweifel gibt – können wir wirklich sicher sein, dass es Bourne war?«, fragte Priest.

»Auf dem Scharfschützengewehr war sein Fingerabdruck.«

»Ziemlich unprofessionell von ihm.«

»Nicht unprofessionell«, geiferte Rollins. »Das war Absicht. Er wollte mir und Shaw eine Botschaft schicken. Wir sollen wissen, dass er es war, der Benoit erschossen hat. Genauso wie zuvor die Abgeordnete Ortiz.«

»Er hat uns alle an der Nase herumgeführt, Nash. Scott hat mich davon überzeugt, dass Bourne der richtige Mann für diese Aufgabe wäre. Wir haben einen Fehler gemacht.«

Rollins schüttelte den Kopf. »Der Direktor und ich haben Scott nahegelegt, jemand anders dafür zu finden. Ich hab ihm gesagt, dass Bourne nicht mehr derselbe ist. Aber seine gemeinsame Vergangenheit mit dem Mann hat ihn blind gemacht.«

»Haben Sie eine Ahnung, wo Bourne hinwill?«, fragte Priest.

»Nein. Wir verfolgen die Polizeidatenbanken, aber Bourne weiß, dass wir hinter ihm her sind. Darum habe ich Sie angerufen, Miles. Ihre Leute sollen sich an der Suche beteiligen. Setzen Sie Ihre verdammten Computernetzwerke ein, um mir zu helfen.«

»Ich glaube, dafür ist Bourne zu schlau. So werden wir ihn nicht finden können«, meinte Priest.

»Mag sein, aber er ist nicht allein. Wir gehen davon aus, dass diese Kanadierin noch bei ihm ist. Abbey Laurent.«

Priest zog die Stirn in Falten. »Das ist interessant. Ist sie seine Geisel?«

»Es sieht nicht so aus. Sie scheint sich ihm freiwillig angeschlossen zu haben. Sie ist das leichtere Ziel. Wenn wir sie finden, haben wir ihn.«

»Ich tu, was ich kann«, versprach Priest.

»Gut. Wenn Sie die zwei aufgespürt haben, sagen Sie mir Bescheid. Um den Rest kümmern wir uns selbst.«

Priest rückte den Knoten seiner Krawatte zurecht und verschränkte die Arme vor der Brust. »Bis jetzt waren Sie damit nicht besonders erfolgreich, oder, Nash?«

»Was wollen Sie damit sagen?«

»Ich erinnere Sie nur daran, dass Ihre bisherigen Versuche fehlgeschlagen sind. So langsam sollten Sie sich fragen, woran das gelegen hat. Ich glaube, wir denken beide dasselbe: Medusa hat einen Spion in Treadstone.«

»Oder in Ihrer Firma, Miles.«

»Was soll das heißen?«

»Bei Treadstone wusste niemand von Novas Operation in Las Vegas – nur Benoit und ich. Aber Sie wussten davon, Miles. Als wir uns unterhielten, weil ich Ihre technologische Unterstützung zur Überwachung brauchte, habe ich Ihnen von meinem Plan erzählt. Jemand hat Nova verraten, aber nicht ich.«

Priests Gesicht verfinsterte sich noch mehr, als wäre das eine Möglichkeit, die er noch nicht bedacht hatte. »Wie auch immer, es ändert nichts an unserer Situation. Cain muss weg. Also setzen Sie ein Team ein, das der Aufgabe gewachsen ist.«

»Das tu ich. Verdammt, ich erschieße ihn persönlich, wenn es sein muss.«

»Sie? Sie sind ein alter Mann, Nash. Und das sage ich, obwohl ich selbst noch älter bin. Das letzte Mal, als Sie mit ihm zusammentrafen, hatte er Mitleid mit Ihnen und hat Sie nur verletzt, statt Sie zu töten.«

Rollins’ Zorn änderte nichts daran, dass Miles recht hatte. »Glauben Sie mir, ich werde Medusa zu Fall bringen. Und Bourne genauso.«

»Hoffentlich haben Sie recht.«

»Falls Sie herausfinden, wo die zwei sich aufhalten, rufen Sie mich an.«

»Mach ich.«

Rollins legte die Hand auf den Türgriff der Limousine, doch dann drehte er sich noch einmal um. »Eine kleine Warnung möchte ich Ihnen noch mitgeben, Miles.«

»Wovor?«

»Ich habe gehört, dass der Deal zwischen Carillon und Prescix ins Wasser gefallen ist. Und dass Kevin Drake ermordet wurde. Medusa macht jetzt ernst. Sie müssen damit rechnen, dass die es auch auf Sie abgesehen haben. Sie sind der König in Ihrem Big-Tech-Imperium, aber Sie könnten noch ein paar nützliche Dinge von Ihren schottischen Vorfahren lernen.«

Ein leises Lächeln umspielte Priests Mundwinkel. »Zum Beispiel?«

»Dass schon so mancher König einen Kopf kürzer gemacht wurde.«