Die heiße Novembersonne brannte auf Las Vegas nieder, als wäre der Sommer nie vergangen. Jason schlenderte Hand in Hand mit Nova zwischen den Tausenden Menschen hindurch, die sich um die alten Autos drängten – die Phaetons, Bel Airs, Hornets und Thunderbolts –, die bei der Oldtimer-Schau zu bewundern waren.
Auf dem normalerweise leeren Grundstück an der I-515 herrschte an diesem Tag ein buntes Treiben. Der süßliche Geruch von Zuckerwatte lag in der Luft, auf der Bühne spielte eine Band stimmungsvolle Countrymusik, und die Besucher schlürften ihre großzügigen Margaritas. Nova trug ein rotes Bikini-Top und schwarze Shorts, die ihre gebräunte Haut und ihre athletische Figur zur Geltung brachten. Ihr langes schwarzes Haar umwallte ihre Schultern, ihre dunklen Augen waren hinter der riesigen Sonnenbrille verborgen. Trotz ihrer High Heels war er immer noch einen Kopf größer als sie. Mit einem breiten Lächeln beobachtete sie die Kinder, die um sie herumliefen.
»Ich glaube, ich will auch einmal Kinder«, sagte sie.
Jason war einen Moment lang perplex. Sie hatte noch nie ein Interesse an Kindern gezeigt, doch Nova war eine Frau mit vielen Facetten. Skrupellos, wenn es darum ging, jemanden zu beseitigen, leidenschaftlich im Bett, dann wieder zu Tränen gerührt, wenn sie Musik von Schumann hörte, oder umgänglich, wenn sie mit alten Männern im Park Schach spielte. Genau das liebte er an ihr – dass sie immer für eine Überraschung gut war.
»Irgendwann«, fügte sie hinzu, als sie sein überraschtes Gesicht sah. »Nicht heute, Jason.«
»Da bin ich aber erleichtert«, sagte er lächelnd.
»Ich meine es aber ernst. Denk darüber nach.«
»Das werde ich.«
Sie zog ihn zu einem blitzblanken 1931er Cadillac Roadster und posierte mit dem Besitzer des Autos für ein Foto. Mit ihrem üppigen Körper zog sie die Blicke der Männer auf sich. Der über sechzig Jahre alte Autobesitzer mit der karierten Mütze legte ihr die Hand um die Taille, während Jason das Foto knipste, doch Nova lachte nur. Sie sah glücklich aus. Unbeschwert, frei von Sorgen und Ängsten. Auch Jason war glücklich – ein Zustand, der seinem Reaktionsvermögen nicht förderlich war. Wer glücklich war, wurde unaufmerksam. Machte Fehler.
Während er Nova vor dem Cadillac fotografierte, änderte sich alles, ohne dass er es mitbekam. Es fiel ihm erst auf, als er das Foto später am Abend betrachtete. Zuerst hatte sie ein gelöstes Lächeln im Gesicht gehabt, doch im nächsten Augenblick, als er die Aufnahme machte, war ihr Lächeln plötzlich verschwunden. Sie hatte etwas gesehen, etwas, das sich hinter Bournes Rücken befand. Ihre Lippen waren zusammengekniffen, ihr Körper angespannt.
Als er das Handy wegsteckte, hatte sie schon wieder ein Lächeln aufgesetzt.
»Diese Margaritas sehen richtig lecker aus«, sagte Nova, was ungewöhnlich war, weil sie nur selten zu etwas Alkoholischem griff. »Bist du ein Schatz und holst mir einen?«
»Komm doch mit.«
»Oh, du weißt ja, wie es ist, wenn ich mich irgendwo anstellen muss. Dann werde ich immer ungeduldig und fang an, Leute zu beschimpfen. Bring mir bitte einen großen, mit einem Extra-Schuss Patrón.«
»Okay.«
Als er sich umdrehte, hielt Nova ihn am Handgelenk zurück und schlang die Arme um seine Taille. Ihre Haut glühte vor Hitze. »Ich liebe dich, Jason Bourne«, flüsterte sie.
Es waren die letzten Worte, die er von ihr hörte.
Er schlängelte sich durch die Menschenmenge zu dem Zelt am anderen Ende des Festgeländes, wo Margarita on the rocks ausgeschenkt wurde. Die meisten Leute in der Warteschlange hatten bereits den einen oder anderen Drink intus und waren entsprechend in Stimmung. Als er sich nach Nova umblickte, konnte er sie nirgends sehen. Sie stand nicht mehr bei dem Cadillac, sondern war irgendwo in der Menge verschwunden.
Das hätte ihn beunruhigen müssen, doch dafür war er zu glücklich.
Die Band auf der Bühne spielte einen Song von Brad Paisley. Ein dünner, dunkelhäutiger Mann etwa Mitte zwanzig mit Cowboyhut sprach mit einem alten Mann im Overall über seinen 1950er Studebaker Land Cruiser. Drei Kinder von höchstens zehn Jahren spielten Fangen zwischen den Leuten in der Warteschlange. Zwei junge Mädchen tanzten zur Musik. Feiner Rauchgeruch lag in der Luft; irgendwo gönnte sich jemand eine Zigarette. Auf der anderen Straßenseite glitzerte das Sonnenlicht auf den Fenstern des Hotels Lucky Nickel.
Den ersten Schuss schien noch niemand mitzubekommen. Nur Bourne hörte ihn.
Es war ein Geräusch wie von einem Knallkörper, doch Bourne erkannte es augenblicklich. Er schaute sich nach dem Schützen um, doch das Echo des Knalls machte es unmöglich, zu erkennen, woher der Schuss gekommen war. Er wusste nur, dass der Schütze hoch oben postiert war und wahrscheinlich ein Scharfschützengewehr benutzte.
Wahrscheinlich im Hotel. Er suchte die Fenster nach der Waffe ab.
Sekunden später feuerte der Täter erneut.
Der junge Schwarze mit dem Cowboyhut sackte zu Boden. Es ging so schnell – niemand bekam mit, dass man ihm in den Kopf geschossen hatte. Er fiel einfach um, der Hut bedeckte sein Gesicht. Schon kam der nächste gedämpfte Knall, kaum zu hören im allgemeinen Trubel.
»Da schießt jemand!«, rief Bourne. »Geht in Deckung!«
Die Leute schauten sich um. In ihren Gesichtern war keine Angst, nur Unsicherheit und Verwirrung. Niemand begriff, was vor sich ging. Niemand dachte an eine reale Gefahr. Dann fasste sich eine Frau an die Brust, und als die Leute Blut spritzen sahen, fingen sie an zu schreien. Eltern fassten ihre Kinder an den Händen und rannten. Einige stürzten, andere trampelten über sie hinweg. Das Gelände war eingezäunt, sodass eine schnelle Flucht unmöglich war. In immer kürzeren Abständen prasselten die Kugeln herab und trafen offenbar wahllos Leute. Mit metallischem Krachen schlugen die Geschosse in die alten Fords und LaSalles ein.
Bourne hatte nur einen Gedanken.
Nova.
Er hetzte durch die panische Menge. Links und rechts pfiffen Kugeln vorbei, immer mehr Menschen wurden niedergestreckt. Schau nach jemandem, der nicht in Panik ist. Sie rennt nicht weg, sondern kümmert sich bestimmt um andere, zieht Kinder hinter Autos, hilft den Verwundeten.
Wo ist sie?
Schon hörte man Sirenengeheul – die ersten Streifenwagen erschienen am Tatort. Nur wenige Minuten waren vergangen, seit das Massaker begonnen hatte, doch alle paar Sekunden wurde jemand getroffen, verwundet, getötet. Jason blieb stehen und spähte zum Hotelturm des Lucky Nickel. Er sah nun, wo der Schütze postiert war, sah die Lichtreflexion in einem der oberen Stockwerke, sah Mündungsfeuer aufblitzen. Er winkte mit den Armen, um die Aufmerksamkeit des Schützen auf sich zu lenken. Schieß auf mich, nicht auf die anderen.
Nicht auf Nova.
Doch die Kugeln nahmen einen anderen Weg. Jason rief Novas Namen, doch es war aussichtslos in dem lauten Tumult. Er fand den Cadillac, bei dem sie zuvor gestanden hatte, doch sie war nicht mehr da. Ein Dutzend Menschen lagen auf dem heißen Beton hinter dem Wagen, versuchten, ihre Kinder zu schützen und den tödlichen Geschossen zu entgehen.
Der Besitzer lag neben seinem schönen Oldtimer. Tot. Eine Kugel im Hals.
»Nova!«, rief Jason in alle Richtungen.
Als die Menge sich für einen Moment teilte, sah er sie. Und seine Welt verdunkelte sich. Jemand trug sie auf der Schulter weg, ihre langen Haare baumelten hin und her. Er konnte nur einen Teil ihres Gesichts erkennen, doch es war blutverschmiert. Ihre Arme hingen leblos herab. Die Sonnenbrille hatte sie verloren, ihre Augen waren geschlossen.
Noch einmal presste Jason ihren Namen hervor. »Nova!«
Der Mann, der sie trug, drehte sich um. Ihre Blicke trafen sich. Jasons Schmerz verwandelte sich in Wut, sein Herzschlag raste. Er kannte den Mann. Hatte viele Einsätze in allen Teilen der Welt mit ihm bestritten. Er war ein Agent wie Jason selbst. Ein Killer.
Benoit.
Treadstone war hier.
Treadstone nahm ihm die Frau, die er liebte. Sie war tot, und Benoits Auftrag war es, ihren Leichnam verschwinden zu lassen. Mehr noch – Jason wusste instinktiv, dass Treadstone sie umgebracht hatte.
Der Scharfschütze dort oben war von Treadstone.
Bourne rannte hinterher, doch zwei Männer stießen gegen ihn. Alle drei stürzten, andere trampelten über sie hinweg. Jason prallte mit dem Kopf auf den harten Beton, rappelte sich benommen auf, doch als er sich umschaute, war von Benoit nichts mehr zu sehen. Nova war fort.
Er rannte zur Straße. Sie mussten einen Wagen hier haben, um den Leichnam wegzubringen. Jason kämpfte sich durch die Menge auf den Zaun zu, der das Gelände begrenzte. Durch das offene Tor strömten die Leute nach draußen und rannten in allen Richtungen davon. Dann sah er ein Auto aus der Tiefgarage des Hotels kommen.
Benoit eilte auf das Auto zu. Mit Nova auf der Schulter.
Die hintere Wagentür wurde aufgerissen. Benoit schob Novas leblosen Körper auf den Rücksitz und stieg ein. Jason rannte am Zaun entlang und versuchte das Auto im Blick zu behalten, das sich durch die Menge der Flüchtenden vorwärts schob. Die Limousine kam nur langsam voran. Jason erreichte das Tor, war höchstens fünfzig Meter vom Auto entfernt. Er sprintete hinterher, rief Novas Namen, doch dann öffnete sich eine Schneise in der Menge, und die Limousine beschleunigte. Bourne war ganz nah dran, griff nach der Wagentür, doch das Fahrzeug schoss vorwärts und verschwand in Richtung Autobahn. Er stand da und musste ohnmächtig zusehen, wie ihm das Liebste genommen wurde.
Bourne spähte zum Lucky Nickel hoch. Es war vorbei. Hinter dem zerbrochenen Hotelfenster, aus dem der Schütze gefeuert hatte, war es still. Bourne wusste, dass nun alles unternommen wurde, um die Spuren zu verwischen. Er musste so schnell wie möglich hinein, musste wissen, wer das getan hatte.
Ob er den Täter kannte?
Jason rannte zum Hotel. Er sprang über einen Zaun, überquerte Eisenbahnschienen und lief zur Rückseite des Gebäudes. Polizisten hatten das Gelände bereits abgeriegelt. Auf dem Parkplatz kauerten verängstigte Hotelgäste, aus den Türen strömten immer mehr Leute ins Freie. Sein Blick schweifte von einem Gesicht zum anderen, prägte sich jedes einzelne ein.
Ein instinktiver Vorgang.
Dann sah er einen Mann, den er kannte. Auf dem Parkplatz wurde ein Autofenster heruntergelassen, am Lenkrad saß Nash Rollins.
Treadstone.
Nash sah ihn ebenfalls. Mit einem Gesicht so hart wie Granit starrte er Bourne einen Moment lang an.
Dann wurde das Wagenfenster geschlossen, und das Auto jagte davon .
Jason stand zusammen mit Abbey auf dem leeren Gelände. Sie waren allein. Auf dem Weg zur Stadt hatten sie am Schauplatz des Massakers haltgemacht, der jetzt eine Gedenkstätte für die Opfer war. Immer wieder hielten Leute an und legten Blumen ab. Von hier aus konnte er das Fenster im vierzehnten Stock des Hotels Lucky Nickel sehen, aus dem Charles Hackman die tödlichen Schüsse abgegeben hatte. Erinnerungen an die dramatischen Momente flammten wie Blitze in ihm auf. Wenn er die Augen schloss, sah er die vielen Gesichter vor sich. Die der Überlebenden und die der Toten.
Abbey folgte seinem Blick. »Sechsundsechzig Menschen. Unvorstellbar.«
Jason schüttelte den Kopf. »Siebenundsechzig. Nova haben sie nicht mitgezählt. Sie ist in keiner Bilanz aufgeschienen.«
»Glaubst du Benoit?«, fragte sie. »Dass Nova undercover versucht hat, sich in diese Organisation einzuschleusen?«
»Ja.«
»Wurde sie deswegen getötet?«
Bourne nickte. »Es muss so sein. Sie ist in die Organisation reingekommen, aber irgendwie müssen sie ihr auf die Schliche gekommen sein. Also hat Medusa sie exekutiert. Jetzt können wir nur noch hoffen, dass Nova irgendeinen Hinweis hinterlassen hat. Irgendwas, das uns in die richtige Richtung weist.«
»Aber Treadstone wird doch sicher schon alles abgesucht haben, oder?«, fragte Abbey.
»Sicher sogar.«
»Trotzdem glaubst du, du findest noch etwas?«
»Die Leute könnten etwas übersehen haben«, meinte Jason. Er wandte sich vom Hotel ab und schaute nach Süden zum Stratosphere Tower und zu den funkelnden Hotels des Las Vegas Strip. »Wir sind so nahe wie noch nie am Zentrum der Verschwörung dran. Las Vegas. Wenn wir an Medusa herankommen, dann hier.«