Novas Haus befand sich auf einem staubigen Grundstück südlich des Flughafens McCarran International. Es war ein kleines einstöckiges Haus mit rotem Ziegeldach. In der Nähe waren anstelle der ursprünglichen Behausungen Luxusanwesen errichtet worden, doch dieses Haus stammte noch aus der Vergangenheit der Stadt. Die Fenster waren vernagelt und mit Betreten-verboten-Schildern versehen. Auf dem steinigen, von Mesquite-Büschen und vertrockneten Palmen bewachsenen Grundstück lag Abfall verstreut.
Jason fuhr am Haus vorbei und parkte den Land Rover zwei Blocks weiter, wo er nicht auffallen würde. Von dort gingen sie zu Fuß die verlassene Straße zurück. Er schaute sich nach eventuellen Beobachtern um, konnte jedoch nichts Verdächtiges erkennen. Dafür entdeckte er Reifenspuren in der Erde. Sie waren nicht die Ersten, die sich hier umschauten.
»Glaubst du, dass Nova von hier aus operiert hat?«, fragte Abbey.
Bourne fand eine Lücke im Maschendrahtzaun, durch die sie sich zwängen konnten. »Benoit hat gesagt, sie hätte ein Haus beim Flughafen gekauft. Und dieses Haus hier hat vier Monate vor Novas Tod den Besitzer gewechselt, laut den Grundsteuerunterlagen wurde es von einer Felicity Brand erworben. Den Namen hat sie schon einmal in einem Einsatz benutzt.«
»Aber du hast nichts von dem Haus gewusst?«
Er schüttelte den Kopf. »Nein.«
Jason ging zur Haustür, die schief in den Angeln hing. Eine Eidechse huschte über seinen staubigen Stiefel. Drinnen war es stickig, muffig und aufgrund der vernagelten Fenster stockdunkel. Möbel waren keine mehr da – entweder hatte Tread-stone sie mitgenommen, oder Einbrecher hatten das Haus ausgeräumt. Es war jedenfalls nichts mehr da, was ihn an Nova erinnerte. Nur ein paar alte Decken, ein Einkaufswagen und leere Plastiktüten – wahrscheinlich von Obdachlosen zurückgelassen, die sich für eine Weile eingenistet hatten.
Er schaltete eine Taschenlampe ein, was einige Eidechsen aufscheuchte. Auf den nackten Wänden saßen Wespen. Er ließ den Lichtstrahl über den Hartholzboden schweifen. Die Dielen waren rissig von der Hitze.
»Was suchst du?«, fragte Abbey.
»Irgendein Versteck.«
Jason ging langsam auf und ab, tippte mit der Schuhspitze auf den Fußboden, auf der Suche nach einer Diele, die hohl klang, was auf ein mögliches Versteck hindeuten würde. Er fand nichts. Nach dem Wohnzimmer wandte er sich dem Esszimmer und anschließend den Schlafzimmern zu. Auch hier ohne Erfolg. In der Küche schob er den alten Kühlschrank beiseite, wodurch er einen Skorpion aufschreckte. Danach überprüfte er die Spülkästen der Toiletten, in denen sich jedoch nur abgestandenes braunes Wasser befand. Nirgends ein Geheimversteck.
Doch er kannte Nova gut genug, um zu wissen, dass sie ihre gesammelten Informationen irgendwo aufbewahrte.
»Schauen wir in der Garage nach«, sagte er.
Durch einen schmalen Durchgang gelangten sie zu der kleinen Garage, in der es ebenfalls muffig roch. An den Wänden waren Regale angebracht, die zum Teil unter dem Gewicht von Farbdosen zusammengebrochen waren. Als er den Lichtstrahl auf den Boden richtete, sah er, dass er mit Fliesen bedeckt war. Eine auffällige Investition in dem ansonsten ziemlich heruntergekommenen Haus. In der feinen Staubschicht zeichneten sich Fußspuren ab.
Jason ging auf alle Viere und drückte mit den Fingern auf die Fliesen. Abbey kniete sich neben ihn und begann ebenfalls den Boden abzutasten. Zusammen überprüften sie jede einzelne Fliese. Als sie die Mitte der Garage erreichten, wo normalerweise ein Auto gestanden hätte, murmelte Abbey: »Jason, schau mal.«
Er leuchtete mit der Lampe auf die Stelle, auf die sie hinwies. Zwei Fliesen waren locker, als wären sie des Öfteren entfernt und wieder eingesetzt worden. Er gab ihr die Taschenlampe, nahm die Fliesen ab und sah einen Metalldeckel im Betonboden, mit Scharnieren auf einer Seite und einem Ring auf der anderen, an dem sich die Abdeckung hochziehen ließ.
Abbey beleuchtete die Stelle, während er einen Finger in den Ring schob und den Metalldeckel anhob.
»Das ist seltsam«, murmelte Abbey.
»Was?«
»Da unten ist gerade ein rotes Licht angegangen.« Sie stockte einen Moment, ehe sie hinzufügte: »Jason, das ist eine Kamera .«
Jason ließ den Deckel zuklappen, sprang auf und zog Abbey mit sich. »Wir müssen schnell weg hier. Sie werden kommen.«
Statt durch die Haustür eilte er mit Abbey durch die Hintertür hinaus. Sie rannten über das steinige Gelände, auf dem Holzpfosten, altes Werkzeug, eine rostige Radkappe und vertrocknete Palmwedel herumlagen. Als sie zum Zaun gelangten, zog Jason den Maschendraht auseinander, schob Abbey hindurch und folgte ihr. Dann half er ihr über eine niedrige Steinmauer, die das Nachbargrundstück begrenzte, und kletterte hinterher. Auf der anderen Seite warteten sie ab.
»Wer wird kommen?«, flüsterte sie.
»Entweder Treadstone oder Medusa. Das war eine Kamera mit Bewegungssensor. Irgendwer wurde gerade alarmiert und weiß, dass jemand im Haus war.«
»Heißt das, die wissen jetzt, dass wir in Las Vegas sind?«
»Wir können nur hoffen, dass das Licht der Taschenlampe unsere Gesichter unkenntlich gemacht hat.«
Nicht weit entfernt hörten sie das Motorengeräusch eines schnellen Autos. Wer immer das Haus überwachte, verlor keine Zeit. Bourne spähte über die Steinmauer und sah hundert Meter entfernt einen braunen SUV mit quietschenden Bremsen auf der verlassenen Straße halten. Zwei Männer stiegen aus, einer hochgewachsen, der andere kleiner, beide mit den gelben Overalls von Wartungsarbeitern. Eine nette Verkleidung. Jason war überzeugt, dass die zwei bewaffnet waren. Die Männer zwängten sich durch eine Lücke im Zaun und eilten zum Haus.
»Treadstone?«, fragte Abbey.
Jason schüttelte den Kopf. »Nein. Das sind angeheuerte Killer, aber keine Profis. Das deutet eher auf Medusa hin. Wenn wir noch drin wären, würden sie uns entweder erschießen oder irgendwohin in die Wüste bringen, wo man uns erst foltern und verhören und anschließend umbringen würde.«
Er wartete. Ein paar Minuten später kamen die Männer heraus und gingen um das Haus herum. Jason duckte sich hinter die Mauer, als die zwei zum Zaun kamen und keine drei Meter entfernt vorbeigingen. Einer telefonierte – er klang genervt.
»Nee, da ist niemand im Haus. Die sind verduftet. Ich sag dir, wir haben keine zwei Minuten gebraucht, bis wir beim Haus waren. Vielleicht haben sie die Kamera bemerkt und sind abgehauen. Wir können hierbleiben und warten – aber ich glaube nicht, dass die zurückkommen.«
Der Mann schwieg eine ganze Weile, dann hörte Jason ihn sagen: »Okay, ich schicke jemanden her, bevor es dunkel wird. Falls sie wiederkommen, erwischen wir sie.«
Bourne hörte knirschende Schritte, als die zwei Männer zurück zum SUV gingen. Er spähte kurz über die Mauer und sah das Auto wegfahren. Er wartete zehn Minuten, um sicherzugehen, dass sie nicht umkehrten, dann nahm er Abbey an der Hand und kletterte mit ihr über die Mauer.
»Okay«, sagte sie, »das heißt, Medusa hat das Haus leer geräumt und eine Falle gestellt.«
Jason nickte schweigend und schaute auf den Müll, der im Garten herumlag.
»Was nun?«, fragte Abbey. »Falls Nova etwas versteckt hat, wird Medusa es höchstwahrscheinlich gefunden haben.«
Er schwieg, in Gedanken versunken.
»Jason?«
Er ging zum Maschendrahtzaun und zwängte sich durch die Lücke. Abbey folgte ihm. Er ging zu der alten Radkappe, die wie eine Sonnenuhr in der Erde steckte. Wind und Hitze hatten dem Metall zugesetzt und es rosten lassen, doch das Logo, die Chevrolet-Fliege, war noch zu erkennen.
»Was ist?«, wollte Abbey wissen.
»Das ist die Radkappe eines Chevrolet Nova«, sagte Jason.
»Zufall?«
»Das glaube ich nicht.«
Jason schaute sich um und sah eine Pflanzschaufel. Auch sie schien ihm nicht zufällig da zu liegen. Er nahm die Schaufel und fing an, die Radkappe auszugraben, bearbeitete den steinigen Boden mit der scharfen Schaufelkante. Er musste nicht lange graben. Nach wenigen Zentimetern stieß die Schaufel auf etwas Hartes. Jason entfernte noch etwas Erde und fand eine feuerfeste Kassette mit einem Kombinationsschloss. Mit den Händen grub er die Kassette aus.
»Ich glaub’s nicht«, murmelte Abbey.
»Komm, gehen wir zum Auto. Hier draußen sollten wir uns nicht zu lange aufhalten.«
Jason trug den kleinen Tresor unter dem Arm, während sie zur Straße zurückgingen. Er schaute zu den Kreuzungen, um sicherzugehen, dass niemand das Haus beobachtete. Sie marschierten die zwei Blocks zu ihrem Wagen. Jason startete den Motor und ließ die Fenster herunter. Sicherer wäre es gewesen, irgendwohin zu fahren, aber er musste wissen, was in der Kassette war.
»Kennst du die Kombination?«, fragte Abbey.
»Ich hoffe, es ist eine, von der sie angenommen hat, dass ich draufkomme. Falls sie mir vertraut hat.« Er tippte mehrere Kombinationen ein. Beim vierten Versuch schnappte der Riegel mit einem Klicken auf.
»Dein Geburtstag?«, fragte Abbey lächelnd.
»Sie wusste, dass der mir nichts bedeutet. Nein, es ist der Tag, an dem wir uns zum ersten Mal begegnet sind. In umgekehrter Reihenfolge, damit es nicht zu leicht ist.«
Er legte beide Hände auf den Deckel des kleinen Tresors.
»Es wird doch wohl keine Bombe drin sein, oder?«, fragte Abbey. Er sah ihr an, dass es nicht ganz im Scherz gemeint war.
»Falls eine drin ist, werden wir’s nicht mehr mitbekommen.«
»Optimist.«
Er öffnete den Safe. Als er den dürftigen Inhalt sah, war er enttäuscht. Er hätte nicht sagen können, was er erwartet hatte, aber er hatte gehofft, dass es etwas war, das ihn an Nova erinnerte. Sie hätte irgendetwas von sich hinterlassen können – einen Pass oder Führerschein. Irgendetwas mit ihrem Bild darauf. Doch es war nichts dergleichen. Es war überhaupt nichts, was einem Agenten in irgendeiner Weise nützlich sein konnte. Keine Papiere, kein Bargeld, keine Waffe. Nur eine Aktenmappe.
»Das verstehe ich nicht«, sagte er.
»Was?«
»Ich hätte erwartet, dass sie irgendwelche nützlichen Dinge hier aufbewahrt hat. Dinge, die man brauchen kann, wenn man auf der Flucht ist.«
»Hast du so etwas?«, hakte Abbey nach.
»Ungefähr zehn«, sagte Bourne. »In verschiedenen Städten, verschiedenen Ländern. Man weiß nie, wann man so was braucht. Aber das hier ist etwas anderes.«
»Was ist da drin?«
Er nahm die Aktenmappe heraus und öffnete sie. Als Erstes sahen sie ein Überwachungsfoto. Es zeigte einen Mann, der in einen klapprigen Oldsmobile Cutlass einstieg. Den Ort konnte Jason nicht erkennen, doch es war abgelegenes Wüstengelände mit Bergen im Hintergrund. Der Mann war groß und hatte eine leicht gebückte Haltung. Er war vielleicht Mitte fünfzig und hatte zerzauste graue Haare. Bekleidet war er mit einer weiten Jeans, Hemd und einer schmalen Krawatte.
»Das ist Charles Hackman«, sagte Abbey.
Jason fand in der Aktenmappe noch mehr Dinge, die mit Hackman zu tun hatten: Telefon- und Kreditkartendaten, Ausdrucke seiner Aktivitäten in den sozialen Medien. Nova hatte ein komplettes Dossier über den Massenmörder vom Hotel Lucky Nickel angelegt.
»Das verstehe ich nicht«, meinte Abbey. »Bist du sicher, dass Nova das zurückgelassen hat? Könnte es nicht jemand anders gewesen sein?«
Jason schüttelte den Kopf. »Das ist ihre Arbeit.«
»Aber sie ist bei dem Massaker selbst ums Leben gekommen«, hielt Abbey dagegen. »Wie kann sie da noch Informationen über Hackman zusammengetragen haben? Bis zum 3. November war der Mann ein Nobody. Er kam aus dem Nichts und hat nirgends Spuren hinterlassen.«
Jason deutete auf das Datum auf einem Computerausdruck. 28. Oktober .
»Nova hat den Mann schon vor dem Massaker durchleuchtet«, sagte Bourne. »Irgendwie wusste sie, dass etwas im Busch war. Und dass Hackman eine entscheidende Rolle dabei spielen würde.«