31

Die beiden Wachmänner führten Bourne aus dem Casinobereich. Draußen durchsuchten sie ihn und nahmen ihm die Waffe ab. Sie hielten ihn an den Armen fest, gingen mit ihm zum Aufzug und wichen auch während der Fahrt ins oberste Geschoss nicht von seiner Seite. Die Aufzugtür öffnete sich, und sie traten in einen luxuriös gestalteten Flur hinaus. Das Trio steuerte auf eine mit roter Seide bezogenen Doppeltür zu, die mit einer chinesischen Landschaft dekoriert war. Bourne vermutete, dass die Tür hinter dem kostbaren Stoff aus kugelsicherem Stahl gefertigt war.

Er bemerkte die Kamera, die ihr Kommen aufzeichnete. Vermutlich wurde er auch nach Lauschvorrichtungen und verborgenen Waffen gescannt und seine Identität durch Gesichtserkennung überprüft. Sekunden später wurde die Tür mit einem Klicken entriegelt, worauf beide Flügel automatisch nach innen aufschwangen. Die Sicherheitsmänner ließen seine Arme los, und Bourne trat allein in ein großes Büro, in dem ihn leises Rauschen empfing. Die Tür wurde hinter ihm geschlossen und mit einem Klicken verriegelt.

Eine Wand des Büros wurde von hochauflösenden Bildschirmen eingenommen, auf denen Livebilder aus dem Luxuscasino zu sehen waren. Die übrigen Wände waren mit Blattgold und Jade dekoriert. Hinter dem Kirschholzschreibtisch boten die bis zur Decke reichenden Fenster eine Aussicht auf die Mesquite Mountains.

Ein kleiner, dünner Asiat erhob sich hinter dem Schreibtisch und kam auf ihn zu. »Cain«, sagte der Mann. »Oder soll ich Sie mit Jason Bourne ansprechen? Wie auch immer, Ihr Besuch ehrt uns.«

»Ich muss mich entschuldigen, dass ich so unangekündigt hereinplatze, aber es ging nicht anders.«

»Das habe ich bereits gehört. Nun, Sie sind jederzeit willkommen. Ich bin Andrew Yee. Ich leite das Casino.«

Unter anderem , dachte Bourne.

Yee sah nicht älter als dreißig aus. Er trug einen königsblauen Anzug mit einer gestreiften Krawatte und blitzblanken Lederschuhen. Seine schwarzen Haare waren an den Seiten kurz geschoren und oben länger. In einem Ohr trug er einen goldenen Ring. Er hatte buschige, gekrümmte Augenbrauen über der runden Brille, ein langes Gesicht und ein Grübchen im Kinn. Insgesamt wirkte er respektvoll, aber nervös. Yee war es offensichtlich nicht gewohnt, in seinem Büro mit professionellen Killern zu sprechen.

»Darf ich Ihnen etwas anbieten?«, fragte er. »Einen Drink vielleicht oder einen kleinen Imbiss?«

»Nein, danke.«

Yee deutete auf einen Lederstuhl vor dem Schreibtisch. »Bitte, nehmen Sie Platz.«

Jason kam der Aufforderung nach, und Yee kehrte auf die andere Seite des Schreibtischs zurück und setzte sich ebenfalls. Auf seinem Schreibtisch lag nichts herum; die einzigen Gegenstände waren ein Mobiltelefon und ein 27-Zoll-iMac Pro. Er war ein Mensch, der auf Ordnung Wert legte. Yee nahm eine aufrechte Haltung ein und rückte etwas unbehaglich seine runde Brille zurecht, während er Bourne musterte.

»Freunde wie Sie sind uns immer willkommen, aber ich gebe zu, Ihr Besuch kommt etwas überraschend. Ich habe gewisse Bedenken.«

»Welche?«

»Um ganz ehrlich zu sein – Cain wird von der Polizei gesucht. Wenn die Behörden erfahren, dass Sie hier sind, würden wir damit unerwünschte Aufmerksamkeit auf uns ziehen. Wie Sie sicher wissen, sind wir geradezu … versessen darauf, die Privatsphäre unserer Gäste zu schützen. Wenn Sie vorher angerufen hätten, wäre ein etwas diskreteres Treffen möglich gewesen.«

»In diesem Fall ließ es sich leider nicht vermeiden«, erwiderte Bourne.

»Ich habe gehört, was Sie zu Shay gesagt haben. Dass Sie wichtige Informationen hätten, auf die ich schon sehr neugierig bin. Sie haben aber auch etwas sehr Merkwürdiges gesagt.«

»Ja?«

»Dass Sie etwas mitzuteilen hätten, das ihre Kompetenzen übersteigt. Wenn das wahr ist, wäre auch ich nicht der richtige Ansprechpartner.«

Bourne lächelte. »Das habe ich nur so ins Blaue gesagt. Ich konnte ja nicht wissen, mit wem ich es zu tun habe.«

»Ich verstehe. Aber warum haben Sie sich nicht direkt an Miss Shirley gewandt? Sie mag es gar nicht, wenn sich jemand in ihre Angelegenheiten einmischt, der nicht dem innersten Kreis angehört.«

Miss Shirley .

Endlich ein Name. Eine Kontaktperson. Jemand in der oberen Etage von Medusa.

»Es ist vielleicht an der Zeit, dass ich Sie in diesen Kreis einführe, Mr. Yee«, sagte Jason.

»Das ist sehr schmeichelhaft, aber ich verfüge nicht über Miss Shirleys Fähigkeiten. Oder über Ihre. Cain ist eine Legende. Ich bin nur der Direktor eines Casinos. Ein Geschäftsmann. Meine Rolle ist begrenzt – darüber habe ich mich auch nie beklagt.«

»Das verstehe ich, aber wir haben ein Problem, und dafür brauche ich Ihre Hilfe«, fuhr Bourne fort, einer spontanen Eingebung folgend. »Ich möchte Miss Shirley nur damit behelligen, wenn wir die Sache nicht hier lösen können.«

Yee zog die Stirn in Falten. »Worum geht es?«

»Ich wäre in New York beinahe getötet worden. Jemand muss mich verraten haben.«

»Das ist sehr bedauerlich.«

»Jemand hat etwas ausgeplaudert. Sonst hätte mich dieser Treadstone-Agent niemals gefunden. Die undichte Stelle muss hier in diesem Casino sein.«

Yee beugte sich auf seinem Stuhl vor. » Ausgeschlossen! «

»Es ist aber so. Ich bin sofort untergetaucht, um der Bedrohung auszuweichen. Keine Kontaktaufnahme mit elektronischen Mitteln. Ich kann Miss Shirley nicht auch in Gefahr bringen. Ich selbst bin es gewohnt, in solche Situationen zu geraten, aber wir können nicht riskieren, dass sie auffliegt. Darum musste ich unbedingt persönlich mit Ihnen sprechen. Sie habe ich nicht im Verdacht, Mr. Yee. Ihre Loyalität ist über jeden Zweifel erhaben. Aber andere sind allzu leicht zu beeinflussen. Eine Kartengeberin, eine Kellnerin oder ein Sicherheitsmann – irgendjemand muss etwas aufgeschnappt und weitererzählt haben.«

Der Casino-Manager schüttelte entschieden den Kopf. »Das ist undenkbar. Unser Personal wird eingehend geprüft – das übernehme ich persönlich. Unsere Leute stehen unter ständiger Beobachtung. Ihr Verhalten, die finanzielle Situation, die Familie – wir wissen über alles Bescheid.«

»Dennoch muss Ihnen etwas entgangen sein. Ich habe den Treadstone-Agenten verhört, bevor ich ihn eliminierte. Er wusste von Ihrem Casino – auch, dass die Feds es bereits unter Beobachtung haben, Mr. Yee. Die müssen jemanden hier drin haben, der sie mit Informationen versorgt.«

»Nein! Das kann ich einfach nicht glauben. In das private Casino kommt niemand rein, der nicht eingehend überprüft wurde. Unsere Leute würden kein Wort verraten.«

»Es muss gar nicht jemand von Ihren Leuten sein. Es könnte ein Außenstehender gewesen sein, der sich Zugang zur Organisation verschaffen will. So wie Nova damals. Sie erinnern sich sicher, was das für ein Desaster war.«

»Damit hatte ich nichts zu tun!«, protestierte Yee. »Sie kennen meine Aufgabe! Medusa checkt alle Rekruten. Prescix filtert die richtigen Leute für uns heraus. Man gibt mir ihre Namen und ihren Hintergrund und sagt mir, wie ich vorgehen soll. Die Strategie kommt von oben. Wir befolgen Miss Shirleys Anweisungen ohne Wenn und Aber.«

»Und dennoch ist ein Fehler passiert«, hielt Bourne dagegen, nun in etwas rauerem Ton. »Ihnen ist bewusst, welche Konsequenzen das hat, oder?«

Yee starrte ihn voller Angst an. »Sind Sie deshalb hier? Um mich zu töten?«

»Ich will es nicht, aber ich muss wissen, wie viel von unserer Strategie durchgesickert ist.«

»Wir können doch nichts verraten, was wir gar nicht wissen«, rechtfertigte sich Yee.

»Niemand hier im Haus kennt Medusas Pläne. Auch ich nicht. Wenn etwas nach außen gedrungen ist, dann nicht von hier aus.«

»Wollen Sie damit sagen, die Suiten im Turm sind nicht verwanzt?«

»Natürlich sind sie das, aber die Aufzeichnungen gehen direkt an sie . An niemanden sonst.«

»Sie haben nie gelauscht? Als kleine Rückversicherung vielleicht?«

»Niemals!«

Bourne überlegte einen Moment, wie weit er gehen sollte. »Ich hatte gehofft, dass sich das vermeiden lässt, aber wir müssen Miss Shirley einbeziehen. Wir beide müssen mit ihr sprechen.«

Yee griff zum Telefon. »Natürlich. Ich rufe sie gleich an. Sie werden sehen – wenn ein Fehler passiert ist, dann nicht hier im Casino.«

Bourne nahm ihm den Hörer aus der Hand und legte ihn zurück auf die Gabel. »Nicht telefonisch. Persönlich. Wir müssen sie besuchen.«

»Persönlich? Das verstößt gegen unsere Regeln. Sie wird uns beide töten. Auch Sie, Mr. Bourne.«

»Ich habe Ihnen doch gesagt, wir müssen sehr vorsichtig sein. Treadstone überwacht jeden Schritt, den wir machen. Die Big-Tech-Gruppe ebenso. Haben Sie gedacht, die werden sich nicht wehren? Sie müssen mich zu ihr bringen. Um die Konsequenzen kümmere ich mich dann schon, da haben Sie nichts zu befürchten.«

Yee schüttelte den Kopf. »Was Sie da verlangen, kommt nicht infrage.«

Bourne ging um den Schreibtisch herum und baute sich vor dem Casino-Manager auf. »Ich habe eine Kongressabgeordnete eliminiert, Mr. Yee. Glauben Sie, ich würde auch nur einen Moment zögern, Sie zu töten? Mein Leben und Ihres sind nicht von Bedeutung. Was zählt, ist Medusa

Yee nickte verzweifelt. »Ja. Selbstverständlich.«

»Wir müssen sofort los.«

»Also gut, wenn es unbedingt sein muss. Wir können mit meinem Wagen nach Las Vegas fahren.«

Yee drückte auf einen Knopf unter dem Schreibtisch, worauf die Tür nach innen aufschwang. Die zwei Wächter, die Bourne nach oben gebracht hatten, waren noch da, ihre Gesichter wie in Stein gemeißelt. Bourne blieb dicht neben Yee, als sie auf den Flur hinaustraten, doch er fürchtete, dass die Nervosität des Mannes auffallen würde. Dann konnte es leicht sein, dass jemand Verdacht schöpfte und einen Anruf machte. Und dass die Wahrheit über Bourne herauskam. In diesem Fall war er tot, bevor sie das Casino verlassen konnten.

Als sie zum Aufzug kamen, streckte Bourne die Hand zu dem Mann aus, der ihm die Pistole abgenommen hatte. Der Wachmann schaute zum Casino-Manager, und Yee nickte mit einem unbehaglichen Stirnrunzeln. Der Wächter zögerte, sichtlich beunruhigt von Yees ungewohnter Nervosität, doch er griff in seine Jackentasche und gab Bourne die Waffe zurück.

Sie warteten auf den Aufzug.

Als er kam und die Tür aufging, war die Kabine nicht leer.

Peter Restak war drin. Der New Yorker Hacker mit dem zerzausten Bart und dem Haarknoten hatte ein Mobiltelefon in der Hand und den Blick aufs Display gerichtet, doch als er den Kopf hob, riss er überrascht die Augen auf.

» Bourne

Nach einer Schrecksekunde rief er den Sicherheitsleuten zu: »Erschießt ihn, ihr Idioten!«

Yee öffnete ungläubig den Mund. Bourne packte den Manager an den Schultern und schleuderte ihn gegen die Wächter. Einer wich aus, der andere wurde von Yee zu Boden gerissen. Der erste Wächter zog die Pistole, doch Bourne versetzte ihm einen Tritt zwischen die Beine, packte ihn am Handgelenk und knallte die Waffe gegen die Wand, bis sie auf den Teppich fiel. Er ließ einen Kinnhaken folgen und stöhnte auf, als der Schmerz seine Hand durchzuckte.

Hinter sich hörte er, wie die Aufzugtür sich zu schließen begann.

Wenn der Aufzug weg war, saß er hier oben in der Falle.

Bourne sprang durch den schmalen Spalt, und die Tür glitt wieder auf. Der zweite Wächter stieß Yee zur Seite, zog die Pistole und drückte mehrmals ab. Die Spiegelwand an der Rückseite der Kabine zerbarst. Restak warf sich zur Seite, doch eine Kugel traf ihn in der Schulter. Bourne hörte donnernde Schritte, als der bullige Wachmann zum Aufzug rannte und in die Kabine sprang. Sie waren zu dritt, als der Aufzug sich in Bewegung setzte.

Der Wachmann stieß sich blitzschnell von der Wand ab und kickte Jason die Pistole aus der Hand, bevor er abdrücken konnte. Jason packte den Mann am Handgelenk, riss seine Hand hoch und biss mit aller Kraft zu. Der Wächter öffnete die Finger und ließ seine Waffe fallen, doch die andere Faust drosch er Bourne gegen das Kinn. Jason krachte gegen die Wand und sah benommen, wie Restak die Pistole aufhob und abdrückte. Die Kugel verfehlte Bourne, traf jedoch den Wachmann in den Ellbogen. Der Getroffene krümmte sich vor Schmerz, und Jason hämmerte ihm die Faust in die Kehle, zog seinen Kopf nach unten und rammte ihm das Knie ins Gesicht. Der Wachmann sackte zu Boden und landete schwer auf Restak.

Bevor der Hacker sich befreien konnte, entriss Bourne ihm die Pistole und zog ihn auf die Beine hoch.

Der Aufzug fuhr weiter nach unten.

Jason schaute zur Kamera hoch und wusste, was ihn im Erdgeschoss erwarten würde. Er drückte die Taste für den ersten Stock und setzte dem Hacker die Pistole unters Kinn.

»Wer ist Miss Shirley?«

»Geh zum … Teufel«, keuchte der Mann.

»Wo finde ich sie?«

»Sie wird dich finden, Bourne.«

Die Aufzugtür glitt auf, Jason hatte keine Zeit mehr für weitere Fragen. Er hämmerte dem Hacker die Pistole gegen die Stirn und ließ ihn zu Boden sinken. Dann sprang er aus der Kabine auf den stillen Hotelkorridor hinaus. Von unten hörte er bereits aufgeregte Stimmen und Schritte.

Sie waren ihm auf den Fersen.

Er rannte zum ersten Hotelzimmer auf dem Gang, drückte die Pistole ans Schloss und feuerte. Holzsplitter und Staub explodierten, und er drückte die Tür mit der Schulter auf. Es war eine Luxussuite wie aus einem alten europäischen Palast.

» Was zum Teufel …?«, rief eine empörte Stimme aus dem Schlafzimmer.

Ein über achtzigjähriger Mann mit dichtem grauem Haar erschien in der Schlafzimmertür. Er war splitternackt, hatte aber einen Revolver in der Hand. Bourne hob rasch seine Pistole und zielte auf die Brust des Mannes.

»Die Waffe fallen lassen, sonst sind Sie tot.«

Der Alte wusste, wann es besser war, nachzugeben. Er legte die Waffe auf den Boden und hob die Hände über den Kopf. »Scheiße, verdammt, Sie sind Jason Bourne.«

Jason musterte den Mann und erkannte Philip Kahnke, den ehemaligen General der Air Force. Medusa mischte offenbar auch schon in der Landesverteidigung mit.

»Ziehen Sie sich an, General. Gleich werden hier ein paar Leute reinplatzen.«

Ohne zu zögern, eilte Bourne zur Fensterfront und zerschoss die Scheibe, worauf ein Schwall warme, trockene Luft in den kühlen Raum strömte.

Er schaute kurz nach unten, dann sprang er aus dem Fenster.