Miles Priest stand an einem Fenster seines Schlosses in den schottischen Highlands. Er schaute auf die Berghänge hinaus, von denen einige noch schneebedeckt waren, und auf die wilde Meeresbrandung, die gegen die Landzunge unterhalb des Schlosses schäumte. In der grünen Landschaft seines Anwesens sah er den Friedhof, der die Ruinen einer steinernen Kapelle aus dem 16. Jahrhundert umgab.
Das Fenster war offen. Er genoss die kalte Luft. Nelly Lessard, die diese Vorliebe nicht teilte, saß auf einem Lehnstuhl am Kamin der alten Bibliothek. Sie wärmte sich die Hände am Feuer und zupfte an den Ärmeln ihres rostfarbenen Pullis. Scott DeRay saß auf der anderen Seite des großzügigen Raumes unter einem Ölgemälde aus der elisabethanischen Epoche, das einen Jungen in roter Samtrobe darstellte. Der Rest der Wand wurde von raumhohen Regalen mit ledergebundenen Büchern eingenommen.
»Wir haben keine Wahl, Miles«, meinte Scott, während er in einer alten Ausgabe von Fieldings Tom Jones blätterte. »Wir müssen in einer Sondersitzung aller Beteiligten die Strategie besprechen.«
Nelly rückte die schwere Wolldecke auf ihrem Schoß zurecht. »Scott hat recht. Wir müssen einen Weg finden, wie wir die Übernahme von Prescix verhindern können.«
Priest wandte den Blick nicht von der schottischen Küste ab. »Was wissen wir über diese Investmentgruppe, von der Gabriel gesprochen hat?«
»Die halten sich bedeckt«, sagte Nelly, »aber das ist verständlich bei der Summe, um die es hier geht. Die Manager scheinen erfahrene Leute zu sein, aber dahinter stehen zum Teil dubiose Investoren. Wir müssen davon ausgehen, dass Medusa hinter der Übernahme steckt.«
»Das heißt, wenn das Geschäft zustande kommt, haben sie Prescix unter Kontrolle«, fügte Scott hinzu. »Wenn ich dann noch an diesen groß angelegten Hackerangriff denke, wird es schwer, sie noch aufzuhalten. Wir brauchen dringend einen Plan. Entweder wir unterbreiten Gabriel selbst ein Angebot, oder wir überlegen uns eine Strategie für den Fall, dass dieser Deal zustande kommt. Auch wenn es uns nicht passt, sollten wir daran denken, uns hinter die Regulierungsbestrebungen im Kongress zu stellen.«
Priest wandte sich vom Fenster ab und goss sich ein Glas eines achtundzwanzig Jahre alten Laphroaig-Whiskys ein. »Nein. Mit dem Gesetz wollen sie uns nur daran hindern, uns zu wehren. Medusa hat die Abgeordnete von Bourne eliminieren lassen, um die Sache zu beschleunigen. Inzwischen treiben sie ihre Spielchen hinter den Kulissen. Wenn wir dieses Gesetz unterstützen, spielen wir ihnen in die Hände.«
»Was schlagen Sie vor, Miles?«, fragte Nelly.
Priest zog die Stirn in Falten – er hatte keine Lösung. In seiner ganzen Laufbahn war es immer darum gegangen, Probleme zu lösen – zuerst beim FBI , dann in der Privatwirtschaft. Er hatte die tiefe Überzeugung, dass es keine unlösbaren Probleme gab. Man brauchte nur genug Kreativität, Entscheidungsstärke und den Mut zu unkonventionellen Ansätzen, dann fand sich immer ein Weg. Doch nun sah es so aus, als würde er in Medusa seinen Meister finden. Es war, als könnten diese Leute seine Gedanken lesen und ihre Strategie entsprechend anpassen.
»Was ist mit dieser Miss Shirley?«, fragte er. »Was wissen wir über sie?«
Nelly lachte bitter. »Da gibt es einige Fragezeichen. Was wir von ihr wissen, lässt aber keinen Zweifel daran, dass sie eine gefährliche Gegnerin ist. Wie Gabriel gesagt hat, ist sie Tschechin, wahrscheinlich Mitte dreißig. Mit neunzehn hat sie als Schwimmerin an den Olympischen Spielen teilgenommen. Wahrscheinlich hätte sie sogar eine Medaille gewonnen, wenn sie nicht vorher den Coach einer Gegnerin mit dem Messer angegriffen hätte.«
» Was? «, fragte Priest ungläubig.
»Es stimmt. Der Trainer wäre beinahe gestorben. Später hat sie Hardcore-Pornos gedreht, in denen sie als strenge Domina auftritt. Das sind Sachen, die man sich nicht auf leeren Magen anschauen sollte. Danach ist sie von der Bildfläche verschwunden. Die Gesichtserkennung liefert einige Treffer von Auftritten in sozialen Medien. Sie scheint sich in ganz Europa herumgetrieben zu haben, hauptsächlich an der Seite von reichen Männern mit masochistischer Ader.«
»Und nun hat sie sich Gabriel geangelt.«
»Es gibt da ein paar auffällige Übereinstimmungen bezüglich der Orte, an denen sie sich aufgehalten hat. Sie war einige Male in Städten, in denen es zur selben Zeit zu Mordanschlägen kam.«
Priest schüttelte den Kopf. »Eindeutig die Handschrift von Medusa.«
»Sieht so aus.«
Der CEO von Carillon stieß einen langen Seufzer aus. »Also gut, es geht nicht anders. Wir müssen unsere Freunde zusammentrommeln, am besten schon in zwei Tagen. Nelly, fliegen Sie auf die Insel, und bereiten Sie das Treffen vor. Einige werden sich beschweren, dass es zu kurzfristig kommt, aber darauf können wir jetzt keine Rücksicht nehmen. Scott und ich werden mit dem Helikopter von Nassau rüberkommen, sobald wir hier fertig sind.«
Nelly stand auf und verließ fröstelnd die Wärme des Kaminfeuers. »Ich mach mich gleich auf den Weg. Ich weiß, wie gern Sie hier sind, Miles, aber ich fühle mich in der Karibik bedeutend wohler als in diesem zugigen alten Schloss.«
Priest lächelte ihr zu. »Das liegt wohl daran, dass ich selbst schon ein zugiges altes Haus bin.«
»Das sind wir beide.«
Nelly ging hinaus, und Priest blieb allein mit Scott zurück. »Gibt es etwas Neues zu Bourne?«, fragte er leise und nahm einen Schluck Whisky.
»Nein. Wir wissen nicht, wo er sich aufhält, seit er mit der Kanadierin New York verlassen hat.«
»Sie haben nicht vielleicht mit ihm gesprochen?«
Scott schaute ihn irritiert an. »Natürlich nicht.«
Priest ging mit seinem Whiskyglas zu Scott, rief auf seinem Mobiltelefon ein Foto auf und zeigte es ihm. Auf dem Foto war Scott zusammen mit Jason Bourne im Central Park zu sehen.
»Gibt es irgendwas, das Sie mir sagen wollen?«, fragte Priest.
Scott entschuldigte sich nicht. »Er ist mein ältester Freund, Miles. Er ist auf mich zugekommen, damit ich ihm helfe.«
»Für uns ist er vor allem eine Gefahr. Was wollte er?«
»Zugang zu unseren Datenbanken für Gesichtserkennung. Er wollte jemanden identifizieren. Ich habe einen unserer Leute zu ihm geschickt – ein einmaliges Hilfsangebot, nicht mehr. Jason behauptet, dass er Ortiz nicht erschossen hat und immer noch hinter Medusa her ist.«
»Er will Sie auf seine Seite ziehen, Scott. Das hat er schon getan, als Sie ihn angeheuert haben, und er versucht es immer noch. Und selbst wenn es wahr wäre, was er sagt – um Schuld oder Unschuld geht es längst nicht mehr. Wenn Bourne lebend geschnappt wird, hängen wir mit drin – und das können wir uns gerade jetzt nicht leisten. Das wissen Sie genauso gut wie ich.«
»Dasselbe habe ich ihm auch gesagt.«
»Freut mich, dass Sie es auch so sehen«, sagte Priest. »Bourne ist ein Störfaktor, den wir nicht gebrauchen können. Je früher er aus dem Spiel ist, desto besser. Aber jetzt müssen wir uns ganz auf das Treffen in zwei Tagen konzentrieren. Wir brauchen eine Strategie, um Gabriel Fox daran zu hindern, Prescix an Medusa zu verkaufen.«
»Darüber habe ich mir schon Gedanken gemacht, Miles. Ich hab da eine Idee.«
»Ja?«
»Wir sollten Gabriel zu dem Treffen auf der Insel einladen«, sagte Scott. »Er soll selbst mit unseren Freunden reden. Vielleicht können wir ihn gemeinsam überzeugen, dass er besser dran ist, wenn er auf unserer Seite steht.«
Miles nippte an seinem Whisky, während er über den Vorschlag nachdachte. »Ein interessanter Gedanke. Und wenn er bei seinem Nein bleibt?«
Scott zuckte die Schultern. »Dann haben wir keine Wahl. Dann muss er sterben.«