Jason zuckte zusammen, als Abbey einen elastischen Verband um seinen Knöchel wickelte, den er sich beim Sprung aus dem Hotelfenster verstaucht hatte. Als sie fertig war, stand er auf und humpelte durch die Büsche. Sie hatten sich in die roten Hügel zurückgezogen und schauten auf das Casino Three Mountains hinunter. Der Land Rover parkte auf einem nahe gelegenen Erdweg. Hier oben waren sie in der Dunkelheit so gut wie unsichtbar.
Jason richtete das Fernglas auf das Privatcasino und sah genau das, was er erwartet hatte. Panik. Sicherheitsleute suchten den Parkplatz ab, leuchteten mit Taschenlampen in die Autos. Gäste wurden aus dem Haus geleitet und in Sicherheit gebracht. Jason fragte sich, was sie den Leuten erzählten. Ganz sicher nicht die Wahrheit. Vielleicht würden sie ein Gasleck erfinden, eine Bombendrohung oder einen Absturz des Computersystems. Trotzdem musste jemand die Schüsse gehört haben, sodass alle möglichen Gerüchte kursieren würden.
General Kahnke, in dessen Suite Bourne geplatzt war, verließ das Hotel unverzüglich, mit Sonnenbrille und Hoodie getarnt. Er stieg auf den Rücksitz einer Limousine, begleitet von einer rothaarigen Frau, die wahrscheinlich sein Bett geteilt hatte. Jason glaubte nicht, dass der General diese Nacht überleben würde. Wahrscheinlich würde man ihn morgen früh in einem respektablen Hotel in Las Vegas tot auffinden. Herzinfarkt. Der Mann hatte zu viel gesehen.
Er hatte Bourne gesehen.
»Du wartest darauf, dass irgendwas passiert«, murmelte Abbey. »Was?«
»Das war ein Anschlag auf ein Nervenzentrum von Medusa. Sie werden sich ein Bild vom entstandenen Schaden machen.«
»Und das heißt was ? «
»Sie werden jemanden herschicken.«
Eine Stunde verging, während er das Casino beobachtete. Endlich sah Jason Scheinwerfer auftauchen und wusste sofort, dass es nicht eine der Limousinen war, die seit seiner Flucht ein und aus gefahren waren. Im Fernglas sah er, dass es sich um einen schwarzen SUV mit getönten Scheiben handelte, einen Volvo XC 90. Vermutlich die schwere, gepanzerte Version, die selbst Kugeln und Sprengstoff standhielt.
Medusa.
»Jetzt wird es interessant«, sagte Bourne.
Der SUV hielt vor dem Casino wie eine bedrohliche schwarze Spinne. Zu Jasons Überraschung stieg niemand aus. Dafür kamen zwei Männer aus dem Haus und gingen zu dem Fahrzeug. Der erste war Peter Restak, blass, den Arm in einer Schlinge. Danach folgte Andrew Yee in seinem königsblauen Anzug, dem die Angst ins Gesicht geschrieben stand. Die hintere Tür des Wagens schwang auf. Die zwei Männer stiegen ein, und der Volvo fuhr ab. Das Ganze dauerte keine dreißig Sekunden.
»Komm.« Jason stand auf und humpelte mit seinem verletzten Knöchel los. Abbey stützte ihn.
»Wohin gehen wir?«, wollte sie wissen.
»Die Frage ist, wohin wollen die ? Diesmal musst du fahren, Abbey. Ohne Licht.«
Er warf ihr den Autoschlüssel zu, und Abbey setzte sich ans Lenkrad des Land Rovers. Sie fuhr die staubige Straße hinunter, der Wagen holperte über das steil abfallende, trockene Gelände, vorbei an Kakteen und Mesquite-Büschen, immer gefährlich nahe am Abgrund. Als sie flacheres Gelände erreichten, trennte ein Aluminiumzaun sie von der asphaltierten Straße.
»Fahr einfach durch«, forderte Jason sie auf.
Abbey schaute ihn etwas ungläubig an, dann trat sie aufs Gas und beschleunigte den Wagen auf dem holprigen Boden. Der Land Rover durchschlug den Zaun, zog Metalltrümmer hinter sich her, die nach und nach wegflogen. Sie waren nicht mehr weit von der Zufahrtsstraße zum Casino entfernt. Es waren keine anderen Autos unterwegs.
»Halte auf dem Mittelstreifen. Kein Licht.«
Abbey tat es. Sie mussten nicht lange warten, bis der gepanzerte SUV in Richtung Westen vorbeifuhr.
»Lass reichlich Abstand, aber das Licht kannst du jetzt einschalten.«
Abbey lenkte den Wagen auf die Fahrbahn und bog bei der Ampel rechts ab. Jason sah die Rücklichter des SUV eine halbe Meile voraus, ehe sie hinter einer Straßenbiegung verschwanden. Abbey folgte dem Wagen eine weitere Meile. Es gab keinen Verkehr außer den beiden Fahrzeugen. Jason war sich bewusst, dass sie sich allmählich verdächtig machten, wenn sie dem Wagen weiter folgten.
»Der Fahrer ist bestimmt ein Profi«, meinte er. »Wahrscheinlich hat er uns längst bemerkt. Er weiß auch, dass wir seit der Kreuzung beim Casino hinter ihm sind. Das wird bei ihm eine Alarmglocke läuten lassen.«
»Du meinst, er weiß, dass wir ihm folgen?«
»Das wird er zwangsläufig denken, wenn wir noch länger hinter ihm herfahren. Das Gute ist, dass er unseren Wagen nicht erkennen kann, dafür sind wir zu weit entfernt. Aber er wird bald langsamer werden, um uns besser sehen zu können.«
»Was dann?«
»Er wartet ab, ob wir hinter ihm bleiben. Wenn wir’s tun, wird er uns in einen Hinterhalt locken oder Verstärkung rufen, damit irgendwo in der Wüste jemand auf uns wartet.«
»Was sollen wir tun?«
»Weiterfahren.« Bourne holte sein Handy heraus und rief eine Karte der Umgebung auf.
»Jason, er wird langsamer. Soll ich auch vom Gas gehen?«
»Nein. Dann weiß er sofort, dass wir hinter ihm her sind.« Er schaute auf und sah den SUV zweihundert Meter vor ihnen. Der Abstand schmolz zusehends. »Da vorn kommt eine Querstraße. Blink rechts, dann geh vom Gas.«
Abbey setzte den Blinker und trat auf die Bremse.
»Bieg hier ab«, sagte Jason.
Sie lenkte nach rechts und bog ab, während die Rücklichter des SUV sich entfernten, der nun wieder beschleunigte.
»Was nun?«
»Gleich da vorn können wir links abbiegen. Dann drückst du auf die Tube.«
Abbey trat aufs Gas, und der Land Rover schlingerte, als sie die Linkskurve nahm und der Straße folgte, die an einem leeren Einkaufszentrum vorbeiführte. Als sie sich in hohem Tempo der nächsten Kreuzung näherten, sagte Jason: »Hier rechts, dann wieder links und weiter ohne Licht.«
Sie folgte seinen Anweisungen und bremste wenig später vor einer Kreuzung.
»Wir überqueren die Straße und wenden. Danach schalten wir das Licht ein und biegen rechts ab. Falls er uns bemerkt, wird er uns jetzt aus einer anderen Richtung kommen sehen.«
»Glaubst du, er ist auch hier abgebogen?« Abbey schaute die verlassene Straße hinunter, als sie in der Dunkelheit die Kreuzung überquerte.
»Ich glaube, er fährt zur Interstate.«
Abbey wendete, bog ab und schaltete die Lichter wieder ein. Im Fernglas erspähte Bourne den Volvo eine Meile voraus. Wie erwartet, bog der SUV nach rechts auf die I-15 ab, um westwärts zwischen den Bergen hindurch nach Las Vegas zu fahren. Abbey beschleunigte, um den Abstand zu verringern. Auch jetzt, mitten in der Nacht, waren auf dem Interstate Highway noch Autos unterwegs, die ihnen Deckung verschafften. Bald hatten sie die letzten Siedlungen hinter sich und fuhren durch steiniges Wüstengelände. Das einzige Licht kam von den Fahrzeugen vor und hinter ihnen.
»Wir werden wohl noch eine Weile unterwegs sein«, meinte Jason.
So war es. Sie kamen an kleinen Ortschaften vorbei, ansonsten waren sie von dunklem, hügeligem Gelände umgeben. Der Fahrer des SUV schien nicht den Verdacht zu haben, dass ihm jemand folgte. Er fuhr in gleichmäßigem Tempo durch die einsame Landschaft. Über eine Stunde verging, dann begann sich der Himmel aufzuhellen, als sie sich dem Tal von Las Vegas näherten.
»Wir müssen näher ran«, sagte Jason. »Im Stadtverkehr können wir sie leicht verlieren.«
Abbey schloss bis auf einige Autolängen zum SUV auf, ließ jedoch mindestens zwei andere Autos zwischen ihnen. Jason lächelte. Sie verfügte über den natürlichen Instinkt einer Agentin. Er ließ den SUV nicht aus den Augen, der auf der I-15 blieb, die Nellis Air Force Base und die nördlichen Vororte passierte und weiter ins Zentrum von Las Vegas fuhr. Sie erreichten den Las Vegas Strip mit seinen Luxushotels und Casinos und folgten ihm in Richtung Süden, bis der SUV zur I-215 nach Osten hin abbog und in Richtung Henderson fuhr.
In einem Geschäftsviertel fuhr der Volvo vom Highway ab. Jason und Abbey wurden von mehreren Ampeln aufgehalten, behielten den SUV jedoch im Auge, der schließlich zu den MacDonald Highlands abbog, einem Gebiet mit teuren Anwesen, die sich auf hoch gelegenen Terrassen erstreckten.
»Ein bewachtes Tor«, sagte Abbey und wurde langsamer.
In einiger Entfernung sah Jason den SUV beim Tor eines exklusiven Viertels namens Sensara anhalten. Die Wachmänner, allem Anschein nach ehemalige Soldaten, öffneten das Tor, und der SUV folgte der ansteigenden Straße. Als das Tor zuschwang, forderte Jason Abbey auf, zu wenden und ein Stück den Hügel hinunterzufahren. Als sie außer Sichtweite des Tores waren, hielten sie am Rand der steilen Straße. Abbey stellte den Motor ab.
»Glaubst du, da oben ist Medusa zu Hause?«, fragte sie.
Er nickte. »Oder jemand, der in der Hierarchie ganz weit oben steht.«
»Aber wir wissen nicht, wo genau, wenn wir ihnen nicht folgen können.«
»Morgen erkunden wir die Gegend, dann sehen wir weiter.«
»Was tun wir jetzt?«, fragte Abbey. »Fahren wir weg?«
»Nein, wir warten. Vielleicht kommen sie zurück. Du kannst eine Runde schlafen, ich halte so lange die Augen offen.«
»Vielleicht solltest besser du schlafen. Du siehst aus, als könntest du’s gebrauchen.«
Jason lächelte. »Okay.«
Sie hatte recht. Er war völlig erledigt. Jason kippte den Beifahrersitz nach hinten und schloss die Augen. Mit den Jahren hatte er gelernt, jede sich bietende Gelegenheit zur Erholung zu nutzen. Tatsächlich war er nach wenigen Sekunden eingeschlafen. Er träumte wie immer in fotografischen Bildern, so wie er sich an sein Leben erinnerte. Die Gesichter von Nova, Benoit und Scott zogen an ihm vorüber, aber auch von Menschen aus seiner Vergangenheit, die ihm irgendwann begegnet waren und die er längst vergessen hatte. Auch von Abbey träumte er, ihrem roten Haar, ihren großen Augen, mit denen sie ihn anschaute, ihr Gesicht so nahe, dass er jede entzückende kleine Unregelmäßigkeit sehen konnte.
Er fuhr aus dem Schlaf hoch.
»Jason«, sagte Abbey, die Hand auf seiner Schulter. »Der Volvo ist gerade vorbeigefahren.«
Er schüttelte seine Träume ab und schaute auf die Uhr. Eine knappe Stunde war vergangen. Noch über eine Stunde bis Sonnenaufgang.
»Haben sie dich gesehen?«
»Ich glaube nicht. Ich hab mich geduckt, als ich die Scheinwerfer sah. Glaubst du, sie fahren zurück nach Mesquite?«
»Fahr ihnen nach, dann wissen wir’s. Falls sie zurückfahren, folgen wir ihnen nicht. Hier gibt es mehr zu tun.«
Nach einer Weile sahen sie den SUV auf die Straße abbiegen, die zum Lake Mead und dem Hoover Dam führte. Es war nur leichter Verkehr auf der zweispurigen Straße. Ohne dass Jason ein Wort sagte, hielt Abbey genügend Abstand, um sich nicht zu verraten. Zu beiden Seiten ragten Felshänge wie schwarze Schatten in der Dunkelheit auf. Jason behielt die Rücklichter des SUV im Auge, bis sie plötzlich verschwanden. Er hatte den Wagen nicht abbiegen sehen.
Abbey bemerkte es ebenfalls. »Wo sind sie hin?«
»Ich weiß es nicht.«
»Soll ich weiterfahren?«
»Ja, im selben Tempo.«
Sie fuhr noch eine Meile, doch der SUV war verschwunden. Sie mussten an ihm vorbeigefahren sein. Jason ließ Abbey rechts ranfahren und anhalten. Er stieg aus und schaute sich in der Landschaft hinter ihnen um. Auf einem der dunklen Hügel sah er den Lichtstrahl einer Taschenlampe auf und ab wippen. Wenig später flammten Scheinwerfer auf, und der Volvo fuhr langsam den steilen Abhang zur Straße hinunter. Er bog ab und fuhr in Richtung Las Vegas.
Jason stieg in den Land Rover. »Fahr langsam hinterher.«
Abbey wendete und folgte dem SUV eine halbe Meile, dann sagte Bourne: »Stopp.«
Beide stiegen aus und sahen den Erdweg, auf dem der SUV den Hügel hochgefahren war. Jason marschierte los, Abbey hinterher. Es war eine ruhige, warme Nacht. Ihre Schritte waren die einzigen Geräusche weit und breit. Jason ließ den Lichtkegel seiner Taschenlampe über das Wüstengelände schweifen, konnte aber nichts als vertrocknete Büsche erkennen. Dann, etwa hundert Meter von der Straße entfernt, sah er im Lichtschein der Taschenlampe etwas aufblitzen.
Jason verließ den Weg; er brauchte nicht weit zu gehen. Die Reflexion kam von der Brille auf dem Gesicht eines Mannes.
»Scheiße«, murmelte Abbey, als sie den Toten im Licht der Taschenlampe sah.
Der Manager des Casinos Three Mountains, Andrew Yee, lag splitternackt in der Wüste. Mit einer Kugel im Hals.