35

»Es tut mir leid«, sagte Jason, als er die Maklerin und ihren Mann ans Bett fesselte. Er vergewisserte sich, dass das Klebeband fest saß, und überprüfte die Knebel. »Es ist nur für ein paar Stunden. Sobald ich von dort weggehe, rufe ich die Polizei – die werden Sie befreien.«

Die grünen Augen der Frau waren weit aufgerissen vor Angst.

»Ihr Mann ist okay«, versicherte Jason. »Er wacht bestimmt in ein paar Minuten wieder auf.«

Der Ehemann der Maklerin hatte sich gewehrt, obwohl er mit einer Pistole bedroht wurde, deshalb war Jason nichts anderes übrig geblieben, als ihn mit einem Schlag auf den Kopf außer Gefecht zu setzen. Er lag bewusstlos neben seiner Frau auf dem Bett.

»Es tut mir leid«, sagte Jason noch einmal.

Er ging nach unten, wo Abbey auf ihn wartete. In dem violetten Cocktailkleid sah sie perfekt aus. In der Hand hielt sie die handgeschriebenen Einladungen zu Gabriel Fox’ Party, ihren Schlüssel zum Reich von Prescix, den Iniya ihnen ausgehändigt hatte. Als Abbey ihn ansah, wirkte sie verändert, als bräuchte sie Abstand von Jason, um sie selbst zu bleiben. Mit ernster Miene kam sie auf ihn zu. »Du hast Blut im Gesicht.« Abbey befeuchtete einen Finger und wischte es ab. »Die Limousine steht draußen«, sagte sie.

»Okay, gehen wir.«

Schweigend fuhren sie nach Sensara. Vor dem Tor zur Siedlung hatte sich eine lange Autoschlange gebildet. Diesmal vergewisserten sich die Sicherheitsleute nur, dass die Insassen der Autos eine Einladung hatten, und winkten sie sofort durch. Niemand wurde durchsucht. Damit hatte Jason gerechnet, deshalb war er das Risiko eingegangen, eine Waffe mitzunehmen, die er in einem Holster am Rücken trug. Die Limousine setzte Jason und Abbey vor dem Tor von Gabriel Fox’ riesigem Anwesen ab, wo Kellner sie mit Champagner empfingen. Hand in Hand schlenderten sie an einem kunstvoll gestalteten Kakteengarten vorbei. Ihre Hand fühlte sich schlaff an. Er spürte, dass sie es nur tat, um ihre Rolle zu spielen.

Von elegant gekleideten Leuten umgeben, gingen sie auf das Haus zu. Die gedämpfte Beleuchtung warf in der abendlichen Dunkelheit romantische Schatten. Das Tal von Las Vegas erstrahlte in unzähligen Lichtern. Es war kühler geworden, eine steife Brise umwehte den Hügel. Als sie das Anwesen erreichten, gingen sie zu einem der Balkone hinter dem Swimmingpool, und Jason schaute sich unter den Gästen um. Er sah bekannte Gesichter aus der Welt der Wirtschaft, der Politik und der Medien. Sogar einige Filmstars waren gekommen. Manche hätten Bourne vielleicht erkannt, hätten sie genauer hingesehen, doch das Halbdunkel schützte ihn vor neugierigen Blicken. Außerdem war es vor allem Abbey, die die Blicke auf sich zog. Sie war wunderschön anzusehen und trat sehr überzeugend auf.

Ihm gegenüber verhielt sie sich jedoch kühl und reserviert, was ihm mehr wehtat, als ihm lieb war. Auch wenn er es sich nicht gern eingestand – was er für sie empfand, ließ sich nicht verdrängen.

»Ich glaube, unsere Gastgeber sind eingetroffen«, murmelte Abbey.

Jason folgte ihrem Blick.

Gabriel Fox und seine Braut hatten einen spektakulären Auftritt. Ein schimmernder zylindrischer Stahlturm hob sich langsam rotierend zwischen den Springbrunnen empor und blieb schließlich stehen, als er die Menge der Festgäste um zehn Meter überragte. Weiße Scheinwerfer beleuchteten zwei Personen auf einer kleinen Plattform hinter einem goldenen Geländer.

Gabriel Fox, der pummelige CEO von Prescix, trug einen leopardengemusterten schwarz-weißen Smoking mit schwarzem Seidenrevers und einen dazu passenden Pillbox-Hut. In einer Hand hielt er eine metallene Fackel wie ein Olympionike, während der Turm sich langsam drehte. Die Hitze des Feuers ließ sein rundes Gesicht leuchten. Er grinste unter seinem buschigen braunen Schnurrbart.

Bournes Aufmerksamkeit konzentrierte sich mehr auf die Frau. Gabriels Braut.

Sie war unglaublich groß und schlank, fast hager. Ihr kohlschwarzes Haar trug sie zu einem Knoten zusammengebunden. Den Kopf zierte ein diamantbesetztes Diadem wie eine Krone. Mit dem durchsichtigen juwelenbesetzten Spitzentop wirkte sie beinahe nackt. Der kurze Rock passte zu Gabriels Smoking. Ihre blassen Lippen waren zu einem schmalen Lächeln gekrümmt, ihren eisblauen Augen schien nichts zu entgehen. Sie stand völlig unbewegt da, ohne den Gästen zuzuwinken oder auch nur mit dem Kopf zu nicken.

»Das Miststück könnte einem richtig Angst machen«, meinte Abbey.

Jason starrte die Frau wie gebannt an. Abbey bemerkte es.

»Alles okay?«, fragte sie.

»Ich kenne sie.«

»Was?«

»Ich hab sie schon mal gesehen.«

Die Frau an Gabriel Fox’ Seite war ihm unvergesslich geblieben, obwohl sie ihm nur ein einziges Mal begegnet war. An einem der schlimmsten Tage seines Lebens. Als er in dem allgemeinen Chaos nach dem Massaker zum Hotel Lucky Nickel gerannt war. Die Leute hatten panisch das Weite gesucht. Aber nicht alle. Eine Frau war ganz ruhig weggegangen, völlig unberührt von dem dramatischen Geschehen. Hochgewachsen, kalt, selbstbewusst. Für einen kurzen Moment hatten ihre Blicke sich getroffen. Sie hatte ihn mit einem seltsamen Lächeln angesehen, das etwas Erotisches, aber Eiskaltes ausdrückte. Er hatte sich gefragt, wer die Frau war, doch dann hatte er Nash Rollins gesehen und die dünne, blauäugige Amazone schnell vergessen.

Bis jetzt.

Nun wusste er Bescheid. Dass er sie hier sah, sagte ihm alles.

»Sie hat Nova umgebracht«, murmelte er.

Er kam nicht mehr dazu, die Fragen zu beantworten, die Abbeys Gesicht ausdrückte, denn in diesem Moment sprach Gabriel Fox in ein Mikrofon, das seine Stimme über das ganze Anwesen trug. »Ladies and Gentlemen, danke, dass Sie diesen besonderen Tag mit mir teilen. Heute Nacht wird gefeiert, bis die Sonne aufgeht. Ich möchte, dass Sie alle Annehmlichkeiten genießen, die mein Zuhause Ihnen bieten kann. Für heute gehört mein Haus Ihnen. Falls Sie unschlüssig sind, was Sie als Erstes tun könnten, fragen Sie Ihren Prescix-Account um Rat. Prescix weiß bestimmt schon, was Sie wollen.«

Aus der Menge kam nervöses Gelächter.

»Bevor wir loslegen, möchte ich Ihnen meine Frau vorstellen, meine Partnerin im Leben, in der Liebe und ganz besonders im Bett. Wenn ich Ihnen einen Rat geben darf – sprechen Sie sie niemals anders an als mit ›Miss Shirley‹. Denn das ist sie – die unglaubliche Miss Shirley

Die Frau an Gabriels Seite hob die Hand zum Gruß wie eine Königin, immer noch mit einem eisigen Lächeln auf den Lippen. Sie sah aus wie eine perfekte Statue. In diesem Moment ging auf dem Dach des Hauses ein Feuerwerk los und malte vielfarbige Blumen in den Nachthimmel. Die Menge brach in begeisterten Applaus aus.

»Miss Shirley«, murmelte Abbey, während sie die Frau auf dem Turm beobachtete. »Scheiße, das ist sie. Medusa höchstpersönlich.«

»Ich wette, sie bestimmt das Geschehen hier in Las Vegas«, sagte Bourne.

»Sie darf dich nicht sehen«, warnte Abbey. »Wenn sie dich erkennt, kommen wir hier nicht mehr lebend raus.«

»Ich weiß.«

»Wie hast du das gemeint – dass sie Nova umgebracht hat?«

»Sie war damals im Hotel Lucky Nickel. Ich hab sie dort gesehen. Ich weiß nicht, ob sie selbst abgedrückt hat oder Hackman, aber sie war da.«

»Glaubst du, Gabriel weiß, wer sie ist? Was sie ist?«

»Das müssen wir herausfinden.«

Jason beobachtete, wie die erhöhte Plattform langsam auf die Höhe der Springbrunnen heruntergefahren wurde. Plötzlich erschienen Trittsteine aus dem Wasser, auf denen Gabriel seine Braut mitten unter die Gäste führen konnte. Miss Shirley sah die Leute, mit denen sie sprach, jedoch kaum an. Wie ein Raubtier, das auf Beute aus war, ließ sie ihren Blick schweifen. Jason nahm Abbey an der Hand und zog sich mit ihr in einen dunklen Winkel zurück, wo sie nicht gesehen werden konnten.

»Ich muss Gabriel allein erwischen«, sagte er.

»Wie willst du das anstellen?«

Bourne schaute sich auf dem weitläufigen Anwesen um. Überall schlenderten Leute durchs Gelände. Drinnen brannte in allen Zimmern Licht. Die Glaswände gaben den Blick ins Innere frei. Dann schaute er zum Dach hoch, das unbeleuchtet war. Dort oben war niemand, nicht einmal Sicherheitsleute.

»Geh zu einem Kellner«, sagte Jason zu Abbey. »Sag ihm, er soll Gabriel Fox eine Nachricht übermitteln, die nur für ihn persönlich bestimmt ist. Sag, Miles Priest hat eine dringende Botschaft für ihn und hat jemanden geschickt, der ihn auf dem Dach erwartet.«

»Glaubst du, er wird kommen?«

»Wenn er nicht zu Medusa gehört, wird er kommen. Im anderen Fall wird er es Miss Shirley sagen – und die wird ihre Leute raufschicken.«

Abbey kniff die Lippen zu einem schmalen Strich zusammen. »Okay.«

»Kannst du es machen?«

»Sicher.«

»Wenn du die Nachricht überbracht hast, warte beim Tor auf mich. Am besten in dem Kakteengarten, an dem wir vorbeigekommen sind. Halte dich möglichst verborgen. Ich werde mich beeilen. Es kann sein, dass wir schnell verschwinden müssen.«

Er erwartete, dass sie etwas einwenden würde. Fast wünschte er sich, dass sie ihn nicht allein gehen lassen wollte. Dass sie bei ihm bleiben wollte. Doch sie sagte nichts. Nicht diesmal. Sie strich sich nur die Haare nach hinten und sagte mit ruhiger Stimme: »Pass auf dich auf, Jason.«

Abbey verschwand in der Menge. Er wartete, bis sie fort war, dann ging er zur nächsten Glastür, die in den inneren Bereich des Anwesens führte. Er durchquerte bizarr gestaltete offene Flächen, bis er endlich eine Treppe fand. Im ersten Stock begann das Gleiche von vorn. Und dann noch einmal, bis er vom obersten Stockwerk über eine Außentreppe zum Dach hochstieg.

Von hier aus hatte er freie Sicht auf die Festgäste, das Gelände, das Sensara-Viertel und ganz Las Vegas. Jenseits des Tores, wo immer noch Gäste in Limousinen eintrafen, konnte er die Silhouetten riesiger Saguaro-Kakteen erkennen. Abbey war nirgends zu sehen. Einen Moment lang fragte er sich, ob sie ohne ihn fortgehen würde. Ob er sie vielleicht nie wiedersah. Vielleicht wäre es für sie beide das Beste gewesen.

Jason schaute auf seine Uhr und wartete.

Eine halbe Stunde verging. Er war immer noch allein hier oben, ging auf dem Dach auf und ab und ließ sich den Wind ins Gesicht wehen. Als eine Stunde verstrichen war, begann er sich damit abzufinden, dass Gabriel Fox seine Nachricht ignorierte.

Dann hörte er Schritte auf der Treppe zum Dach. Er griff zum Holster im Rücken, doch es war eindeutig nur eine Person, die heraufkam, nicht eine ganze Armee von Medusa. Sekunden später stieg der Gründer und CEO von Prescix zu ihm herauf. Gabriel nahm den Hut ab und hängte sich seinen zum Muster des Smokings passenden Sommermantel über den Arm. Vorsichtig kam er näher, einen neugierigen Ausdruck im Gesicht.

»Jason Bourne. Ich kann mich gar nicht erinnern, Sie eingeladen zu haben. Andererseits – was wäre eine richtige Hochzeit ohne einen Überraschungsgast?«

»Sie klingen gar nicht so überrascht.«

»Bin ich auch nicht. Sie wissen ja, mein Geschäft ist Informationstechnik. Glauben Sie, auf meinem Grundstück passiert irgendwas, das mir verborgen bleibt? Ich wusste, dass Sie hier sind, sobald Sie aus der Limousine ausgestiegen sind.«

»Trotzdem haben Sie mich hereingelassen. Sie hätten mir von Ihren Sicherheitsleuten den Zutritt verweigern lassen können.«

Gabriel musterte Bourne wie ein interessantes Ausstellungsstück im Museum. »Ehrlich gesagt hat es mich interessiert, warum Sie hier sind. Wollen Sie mich vielleicht umbringen? Ist es das, was Sie vorhaben?«

»Nein.«

»Okay, gut«, sagte der Mann lachend. »Es würde mir ja nichts ausmachen, die Party zu verpassen – aber um die Hochzeitsnacht tät’s mir echt leid.«

Bourne runzelte irritiert die Stirn. Gabriels Unbeschwertheit gab ihm zu denken. Der Mann hatte gewusst, dass Jason anwesend war – und dennoch war er allein aufs Dach gekommen, um mit einem Killer zu sprechen. Allem Anschein nach ohne jede Angst. Irgendetwas stimmte nicht.

»Okay, Sie haben mich hier heraufkommen lassen«, fuhr Gabriel in lockerem Plauderton fort. »Dass Miles Priest Sie geschickt hat, stimmt aber nicht, oder? Also, was wollen Sie?«

»Ich will Sie warnen.«

»Wovor?«

»Vor Ihrer Frau«, sagte Jason.

Gabriels Mund krümmte sich zu einem breiten Lächeln. »Ah, Sie kennen Miss Shirley? Wer ihr einmal begegnet ist, vergisst sie nicht so schnell.«

»Ich weiß, dass sie von Medusa ist.«

Der Milliardär trat zur Dachkante und schaute auf die Festgäste hinunter. »Sie und Miles. Immer diese Märchen über Medusa. Diese ganzen Verschwörungstheorien sind heute groß in Mode.«

»Medusa ist sehr real, und Ihre Frau steckt mittendrin. Sie hat Sie geheiratet, weil Sie etwas haben, das Medusa will. Wir wissen beide, was. Prescix.«

Gabriel schüttelte ungeduldig den Kopf und sprach, ohne sich zu Bourne umzudrehen. »Ist das Ihr Ernst? Glauben Sie wirklich, ich lasse mich mit einer Frau ein – selbst wenn sie über Miss Shirleys Gaben verfügt –, ohne alles über sie zu wissen? Glauben Sie mir, ich kenne sie genau. Ich weiß, wer sie ist und was sie bisher getan hat.«

»Wissen Sie auch, dass sie eine Killerin ist?«

Gabriel kam lachend zu Bourne zurück. »Eine sehr gute sogar.«

»Es macht Ihnen nichts aus?«

»Ob es mir was ausmacht? Es gehört zu den Eigenschaften, die ich besonders attraktiv an ihr finde. Ist es so schwer zu verstehen, dass eine Killerin genau das ist, was ich brauche? Sie und Miles denken anscheinend, dass Miss Shirley mich benutzt, dass Medusa mich benutzt. Ich bin einer der erfolgreichsten Unternehmer der Welt, Bourne. Ich weiß, was ich tue. Die Wahrheit ist – ich benutze diese Leute

»Um was zu erreichen?«

»Natürlich, um Miles’ Technologie-Imperium zu übernehmen. Um den Spieß umzudrehen. Morgen fliege ich mit Miss Shirley nach Nassau, wo Miles und seine Freunde mich wieder einmal überreden wollen, mich ihnen anzuschließen. Und genau das habe ich vor. Sie können über Miles sagen, was Sie wollen, aber strategisch liegt er immer richtig. Die IT -Firmen müssen mit einer Stimme sprechen. Bloß werde am Ende ich es sein, der das Sagen hat, nicht er. Prescix wird den Ton angeben und ein Unternehmen nach dem anderen übernehmen. Wenn das geschafft ist, werden Miss Shirley und ich den nächsten Schritt machen.«

»Und der wäre?«

»Wir werden Medusa übernehmen. Sie und ich gemeinsam.«

Der Mann war von einem maßlosen Ego getrieben, wie Bourne nun erkannte. Gabriel Fox war nicht nur schwerreich und exzentrisch. Der Mann war brillant, aber größenwahnsinnig. Ihm war von Anfang an bewusst gewesen, welche Möglichkeiten Prescix bot, aber auch, welchen Schaden die Software anrichten konnte. Er hatte immer das Ziel verfolgt, ein Werkzeug zu schaffen, das es ihm ermöglichte, Menschen zu manipulieren und in seinem Sinn zu lenken.

Mit diesem Wunsch war er jedoch nicht allein. Genau darauf hatten es auch andere abgesehen. Sobald die Büchse der Pandora geöffnet war, gab es kein Zurück mehr.

»Sie machen einen Fehler, Gabriel.«

»Finden Sie?«

»Medusa ist stärker als Sie. Im Moment geben die Ihnen, was Sie wollen. Medusa lässt Sie in dem Glauben, dass Sie das Sagen haben. Aber sobald diese Leute das haben, was sie wollen, werden Sie nicht mehr gebraucht.«

»Ich würde eher sagen, Sie sind derjenige, der nicht mehr gebraucht wird, Cain . Sie sind eine Schachfigur, die schon viel zu lange auf dem Brett ist. Aber mit Bauern gewinnt man kein Schachspiel. Die werden geopfert. Und genau das wird Ihnen passieren.«

»Genauso könnte ich Sie jetzt aus dem Spiel nehmen und töten.« Jason griff nach seiner Pistole.

Gabriel zuckte mit den Schultern und setzte seinen Hut auf. »Tun Sie, was Sie tun müssen, Bourne.«

Jason starrte den Mann verwirrt an. Plötzlich war ihm alles klar. Der Hut war ein Signal. Gabriel war ihm ohne die geringste Angst gegenübergetreten, weil er dafür gesorgt hatte, dass ein Scharfschütze Bourne im Visier hatte. Wenn ich den Hut aufsetze, erschießt du ihn . Jason warf sich nach vorn. Die Gewehrkugel pfiff um Millimeter an seinem Hinterkopf vorbei. Er prallte gegen Gabriel und zog seine Pistole. Als er zur Treppe eilte, feuerte er mehrmals in die Richtung, aus der der Schuss gekommen war. Der Scharfschütze musste irgendwo in den umliegenden Hügeln postiert sein. Bournes Schüsse gingen ins Leere, verschafften ihm aber die Sekunden, die er brauchte, um zu fliehen. Kaum hatte er die Treppe erreicht, schlug eine Gewehrkugel in die Wand hinter ihm ein.

Jason sprang eine Treppe nach der anderen hinunter und rannte zwischen den panischen Gästen hindurch zum Garten. Ihm blieben nur wenige Sekunden.

Wenn Gabriels Leute gewusst hatten, dass Bourne hier war, wussten sie auch, dass Abbey ihn begleitete.

Abbey fröstelte ein wenig. Hier oben in den Hügeln war die Luft deutlich kühler als unten im Tal. Sie folgte einem Weg in Form einer Acht zwischen den Kakteen, die in dem steinigen Boden wuchsen. Fast eine Stunde ging sie schon auf und ab. Eine Stimme in ihrem Hinterkopf riet ihr, schleunigst zu verschwinden und zurück nach Kanada zu gehen. Es war nicht ihre Sache, was mit Jason Bourne passierte.

Eine andere Stimme war jedoch stärker und ließ sie ausharren. Die Stimme machte ihr klar, dass sie zu viel für ihn empfand, um ihn im Stich zu lassen.

Närrin !, sagte sie sich, doch es änderte nichts.

Sie konnte ihre Gefühle für Jason nicht einfach ausknipsen und fortgehen. Egal, was er war oder in der Vergangenheit getan hatte.

Als sie Schritte nahen hörte, schlug ihr Herz vor Erleichterung schneller. Sie hatte schon befürchtet, er würde nicht mehr zurückkommen.

Doch als sie sich umdrehte, war es nicht Jason, der vor ihr stand.

Es war Miss Shirley.

»Abbey Laurent«, sagte die Frau mit den eisblauen Augen. »Was für eine glückliche Fügung. Ich habe mich schon darauf gefreut, Sie kennenzulernen.«

Instinktiv wich Abbey einen Schritt zurück.

Miss Shirley stelzte in ihren High Heels auf sie zu. Eine Hand hatte sie hinter dem Rücken verborgen. Ihr weißes Kleid strahlte im Licht der Gartenbeleuchtung, doch ihr Gesicht lag im Schatten.

»Sie haben uns sehr geholfen, Abbey«, höhnte Miss Shirley. »Mit den Artikeln, die Sie über Hackman und Ortiz geschrieben haben. Sie waren Medusas unermüdliche kleine Helferin. Wissen Sie, ich habe Sie selbst für diese Rolle auserwählt. Ich habe Carson zu Ihnen geschickt, damit er Ihnen Informationen zuspielt. Und Sie haben genau das getan, was wir von Ihnen erwarteten – bis auf eine Kleinigkeit: Sie sollten eigentlich sterben. In dem Punkt haben Sie sich nicht ans Drehbuch gehalten. Wir haben es in New York versucht, dann noch einmal in Québec. Aber Sie sind immer noch da. So was mag ich gar nicht.«

»Scher dich zum Teufel, du verrücktes Miststück.«

»Oh, Abbey, wie tapfer Sie sind! Und wie dumm. Ich glaube, ich habe Sie unterschätzt. Ist das Jasons Einfluss? Sie waren in letzter Zeit viel mit ihm zusammen, nicht? Was mich interessieren würde – haben Sie etwas mit ihm? Hat er sich in das Mädchen von nebenan verliebt? Haben Sie einen kaltblütigen Killer verführt?«

»Sie wissen nicht, wie er wirklich ist.«

»Oh, das weiß ich sehr gut. Aber Sie sind zu naiv, um das zu erkennen.«

»Fahren Sie zur Hölle.«

Miss Shirley lächelte dünn. In der Hand, die sie hinter dem Rücken vorzog, hielt sie ein Messer. Die lange Klinge war gekrümmt wie ein Halbmond. »Du bist sehr attraktiv, Abbey. Wenn wir mehr Zeit hätten, würde ich dir zeigen, wie eine richtige Frau im Bett ist. Eine Nacht mit mir – und du willst nie wieder mit einem Mann zusammen sein. Auch nicht mit Bourne.«

»Ich steh nicht auf Roboter«, versetzte Abbey.

»Du wärst überrascht.«

»Sind Sie etwa eifersüchtig? Wollen Sie Jason für sich? Wurmt es Sie, dass Sie ihn nicht kriegen können?«

»Ich kriege meistens, was ich will«, erwiderte Miss Shirley. »Und jetzt will ich dich . Ich will dich bluten sehen. Ich will hören, wie du um Gnade winselst.«

Abbey drehte sich um und lief los – doch ein Sicherheitsmann von der Statur eines Kleiderschranks versperrte ihr den Weg und packte sie. Sie hatte ihn nicht kommen gehört. Er drehte sie herum, sodass sie sich wieder Miss Shirley gegenübersah. Sie wand sich verzweifelt, konnte sich aber nicht losreißen. Miss Shirley blieb so dicht vor ihr stehen, dass Abbey ihren Atem spürte. Die Frau hob das Messer und ließ es sanft über Abbeys nackte Schulter wandern. Die Klinge zog eine rote Blutspur über die Haut.

»So ein hübsches Kleid«, sagte sie. »Hat Jason es dir gekauft?«

Mit einer blitzschnellen Bewegung durchtrennte sie einen Träger, sodass das Kleid eine Brust entblößte.

»Wunderschön. Perfekt.«

»Hören Sie auf mit Ihren Spielchen«, sagte Abbey. »Wenn Sie mich umbringen wollen, dann tun Sie’s.«

»Oh, wir wollen nichts überstürzen. Sicher, ich könnte dir einfach die Kehle durchschneiden – und fertig. Aber so macht es keinen Spaß. Wie gesagt, ich will hören, wie du um dein Leben flehst. Also, was nehmen wir uns als Erstes vor? Die Finger? Deine hübschen kleinen Ohren? Ich könnte dir natürlich auch die Brüste abschneiden – wie wär’s damit? Diese Klinge ist wirklich unheimlich scharf. Zwei kleine Schnitte, und weg sind sie. Das würde Jason sicher hart treffen, wenn er den nackten Körper, den er eben noch genossen hat, ganz verstümmelt findet.«

Abbey spuckte ihr ins Gesicht. Miss Shirley wischte es einfach ab und lachte. Sie hob das Messer, und Abbey drückte in Erwartung der Schmerzen die Augen zu.

» Weg mit dem Messer! «, zischte eine Stimme im Dunkeln.

Bourne trat zwischen den hoch aufragenden Kakteen hervor. Seine Pistole war keine zehn Zentimeter von Miss Shirleys Hinterkopf entfernt. Abbey spürte, wie ihr Tränen der Erleichterung über die Wangen liefen.

»Ah, Jason. Ich hab mich schon gefragt, ob Sie uns Gesellschaft leisten«, sagte Miss Shirley. »Der Held ist wieder mal im richtigen Moment zur Stelle. Ich hab zwar gehofft, dass unser Scharfschütze Sie ein für alle Mal beseitigt, aber das hat wohl nicht geklappt. Schade. Abbey und ich waren gerade dabei, uns kennenzulernen.«

»Das Messer fallen lassen.«

»Natürlich. Wenn Sie es sagen.«

Miss Shirley öffnete die Finger, und das Messer fiel klappernd auf den Steinboden. Jason drückte ihr den Lauf in den Nacken. »Sagen Sie dem Kerl, er soll Abbey loslassen.«

»Schon gut, Terence, lass sie los«, befahl Miss Shirley dem Wachmann im schwarzen Anzug.

Der Kleiderschrank ließ Abbey frei, und sie stolperte auf ihren hohen Absätzen zu Jason.

»Bleib hinter mir«, sagte er. »Wir müssen zum Tor.«

»Das schafft ihr nie«, sagte Miss Shirley. »Mindestens zehn Sicherheitsmänner sind schon auf dem Weg. Ihr sitzt in der Falle.«

»Wenn wir es nicht schaffen, sind Sie auch dran«, stellte Bourne klar.

»Ich mach Ihnen einen Vorschlag, Jason. Das Mädchen bleibt hier – dafür lass ich Sie gehen.«

Abbey schluckte schwer. Fast hätte sie Jason aufgefordert, einfach abzudrücken und die Frau auf der Stelle zu töten. Sie spürte Jasons Anspannung. Wahrscheinlich dachte er das Gleiche und konnte sich nur mit Mühe beherrschen. Jason schlang den Arm um Miss Shirleys Hals und zog die Frau rückwärts mit sich, ihren Körper als Schild benutzend. Die Pistole hielt er ihr an die Schläfe, während mehrere Wächter sie von drei Seiten umringten. Abbey hielt nach hinten Ausschau und zog ihn am Gürtel Schritt für Schritt weiter, bis sie zum schmiedeeisernen Tor gelangten.

Im Eingangsbereich hielten sich mehrere Gäste auf und verfolgten nervös das dramatische Geschehen.

»Geh zum erstbesten Auto, Abbey«, forderte Jason sie auf. »Mach die Tür auf, steig ein und sag dem Fahrer, ich erschieße ihn, wenn er nicht tut, was ich ihm sage.«

Abbey zweifelte nicht daran, dass er diese Drohung ernst meinte.

Sie öffnete die Tür einer Limousine, stieg ein und ließ die Tür offen. Jason zog Miss Shirley mit sich zum Auto.

»Ich sollte dich auf der Stelle erschießen«, knurrte er.

»Okay, aber dann werden meine Männer zurückschießen. Also keine gute Idee.«

»Jason, schnell«, drängte Abbey. »Beeil dich.«

Sie beobachtete, wie Jason die Frau mit einem kräftigen Stoß zu den Medusa-Männern schleuderte. Im selben Moment sprang er in den Wagen und knallte die Tür zu. Die ersten Schüsse krachten. Kugeln ließen die Scheiben splittern und schlugen ins Heck der Limousine ein, die bereits die Straße hinunterjagte.