Bourne schleppte sich auf der Mauertreppe nach unten, dann brach er zusammen. Er verlor das Bewusstsein, sein Körper gab endgültig den Schmerzen nach. Als er die Augen öffnete, hatte er keine Ahnung, wie viel Zeit vergangen war. Es hatte aufgehört zu regnen, war jedoch mittlerweile fast völlig dunkel. Langsam setzte er sich auf dem durchweichten Boden auf. Vor Kälte zitternd, fuhr er sich mit den Händen durch die Haare, blinzelte und wartete darauf, dass das Schwindelgefühl verging.
Dann sah er, dass er nicht allein war.
Zwischen den verwitterten Grabsteinen stand eine einsame Gestalt mit Hut und grauem Regenmantel. Nash Rollins stützte sich auf einen Gehstock und richtete eine Pistole auf Bournes Brust.
»Du siehst scheiße aus, Jason.«
»Danke.«
»Das muss ein irrer Kampf gewesen sein.«
»Wenigstens ist mein Kopf noch dran«, sagte Bourne.
»Ja. Ich hab unten an der Klippe gesehen, was von ihr übrig ist. Das wird mich in meinen Albträumen verfolgen.«
»Nicht nur dich.« Bourne ließ seinen Blick über den verlassenen Friedhof schweifen, dann schaute er zu dem alten Schloss. »Ist das Gelände gesichert?«
»Ja. Der MI 5 hat uns dabei geholfen.«
»Und die Medusa-Leute?«
»Sind kein Problem mehr.«
»Wenn ihr den Wald absucht, werdet ihr die Leiche von Miles Priest finden. Die haben ihn umgebracht.«
»Schade um ihn. Ich hab Miles zwar nicht besonders gemocht, aber respektiert. Wir sind uns ein bisschen ähnlich. Er hat sich auch nie gescheut, harte Entscheidungen zu treffen und die Konsequenzen zu tragen. Du bist aus dem gleichen Holz.«
Bourne stand mühsam auf. Er versuchte gar nicht erst, zu fliehen. Er wusste, dass er nach wenigen Schritten zusammenbrechen würde. Auf diese Entfernung würde Nash kaum danebenschießen.
»Ich nehme an, du bist hier, um mich zu töten«, sagte Bourne.
»Es tut mir leid, das war von Anfang an der Plan. Für den Direktor bist du ein Verräter.«
»Ich bin nicht auf der Seite von Medusa, Nash. Nie gewesen.«
»Das hat mir Abbey Laurent auch gesagt. Sie hat gemeint, ich soll dir helfen, statt dich zu jagen.«
»Und? Glaubst du ihr?«
»Ehrlich gesagt, weiß ich nicht mehr, was ich glauben soll.«
»Dann wirst du dich entscheiden müssen«, sagte Bourne.
Rollins seufzte schwer, setzte sich auf einen Grabstein und stützte das Kinn auf seinen Stock. »Wir kennen uns schon verdammt lange, Jason.«
»Das kann man wohl sagen.«
»Du warst immer einer meiner Besten. Ich hab schon mit vielen Agenten gearbeitet, die ihr Handwerk verstehen, aber du warst anders. Du hast dir etwas bewahrt, das wir anderen wahrscheinlich längst verloren haben. Das hab ich immer respektiert. Aber nach dem, was dir passiert ist – nach dem Gedächtnisverlust –, kamen mir Zweifel. In unserem Geschäft kann man sich keinen psychischen Schaden leisten.«
»Den haben wir doch alle«, entgegnete Bourne.
»Da liegst du vielleicht nicht mal falsch. Und ich streite auch gar nicht ab, dass ich Fehler gemacht habe. Was dich betrifft, habe ich das Schlimmste angenommen. Ich war mir sicher, dass du zur anderen Seite übergelaufen bist. Was in New York passierte, hat mich in meinem Verdacht bestärkt. Deshalb hielt ich es für unvermeidlich, dich zu eliminieren, Jason. Ich war bereit, selbst abzudrücken, wenn es sein muss, obwohl wir uns so lange kennen.«
»Okay, hier bin ich. Wenn du das immer noch glaubst, dann tu’s. Drück ab.«
Rollins lachte bitter und schob die Pistole ins Holster. »Ich bin auch schon draufgekommen, dass ich in vielem falschgelegen habe.«
»Da kann ich dir nicht widersprechen.«
»Ortiz und Benoit zum Beispiel – das warst nicht du. Dieses Monster da unten an der Klippe hat die beiden erschossen.«
»Auch Nova«, fügte Bourne hinzu.
»Verdammt, Jason, es tut mir leid. Ehrlich.«
»Mach dir keine Vorwürfe, Nash. Du hast nach den Fakten gehandelt, die du hattest. Die Fakten, die Medusa fabriziert hat. Es gab kaum etwas, das für mich gesprochen hat. Wahrscheinlich hätten die meisten so entschieden wie du. Ich hab dir keinen Grund gegeben, an deiner Einschätzung zu zweifeln.«
»Selbstzweifel waren noch nie mein Ding«, gestand Rollins. »Das hätte ich als Zeichen von Schwäche gesehen.«
»Seit ich meine Erinnerung verloren habe, sind Selbstzweifel für mich etwas ganz Normales.«
Rollins zog die Stirn in Falten. »Aber unser größtes Problem ist immer noch Medusa. Die sind noch lange nicht am Ende. Du hast ihnen einen Schlag versetzt, nicht mehr und nicht weniger. Die schwarze Witwe ist tot, aber es sind noch genug Spinnen übrig.«
»Wenigstens wissen wir jetzt, wer das Netz spinnt.«
»Ja?«
»Scott DeRay. Medusa war seine Idee und sein Werk.«
Rollins stieß einen überraschten Pfiff aus. »Im Ernst? Ihr zwei wart doch enge Freunde. Und er hat dich in die Falle gelockt?«
»Ich hab’s ihm leicht gemacht.«
Der Treadstone-Agent schüttelte den Kopf. »Das Problem ist, dass wir ihm nichts anhaben können, Jason. Scott hat seine Spione in allen Behörden. Die werden ihn schützen, sobald wir gegen ihn vorgehen. Wir haben keine handfesten Beweise – und deine Geschichte wird niemand glauben.«
»Klar. Welche Glaubwürdigkeit hat schon ein psychisch instabiler Ex-Agent, der beschuldigt wird, eine Kongressabgeordnete erschossen zu haben?«
»Außerdem wird Scott verdammt vorsichtig sein, wenn er weiß, dass du am Leben bist. Solange er davon ausgehen muss, dass du hinter ihm her bist, wird er im Hintergrund die Fäden ziehen, aber nicht mehr. Dann können wir ihm nie nachweisen, dass er hinter dem Netzwerk steckt.«
»Da ist was dran.«
»Ich will diese Bande drankriegen, Jason, aber das größte Hindernis bist im Moment du.«
Bourne schwieg einen langen Moment. Nashs Argument war nicht von der Hand zu weisen. Scott musste sich sicher fühlen, damit er sich aus der Deckung wagte und sich verwundbar machte. Er musste glauben, dass Cain keine Bedrohung mehr darstellte. Es war Scott selbst, der diese Lektion zuvor zitiert hatte.
Wenn dein Feind denkt, er hat so gut wie gewonnen, ist er am verwundbarsten .
Treadstone.
»Okay, wenn das so ist, weißt du ja, was du zu tun hast«, sagte Bourne. »Das wolltest du ja von Anfang an.«
»Was meinst du?«, fragte Rollins. »Was soll ich tun?«
»Du musst mich töten.«