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Scott DeRay schlenderte in der Rue de Vaugirard am schmiedeeisernen Zaun des Jardin du Luxembourg entlang. Es war später Vormittag, der Himmel strahlend blau, ein ungewöhnlich warmer Maitag in Paris. Er trug einen grauen Businessanzug, den er erst letzte Woche bei seinem Schneider in der Savile Row in London abgeholt hatte, dazu Hut und Sonnenbrille, um nicht erkannt zu werden. Die Medien hatten zuletzt ausgiebig über ihn berichtet; sein Gesicht war in Zeitungen und Nachrichtensendungen weltweit zu sehen gewesen. Er wollte kein Risiko eingehen.

Als er auf dem Bürgersteig beim Park stehen blieb, warf er einen kurzen Blick zurück, um sicherzugehen, dass ihm niemand folgte. Aufgrund der in seiner Zeit beim FBI gesammelten Erfahrung glaubte er nicht, dass ihn jemand beschatten konnte, ohne dass er es merkte. Dennoch hatte er schon seit Tagen das ungute Gefühl, beobachtet zu werden.

Vor sich hörte er lebhaftes Stimmengewirr. Eine Gruppe chinesischer Touristen strömte aus dem Nordwesttor des Parks, ihrer zierlichen schwarzhaarigen Reiseleiterin folgend, die ein Fähnchen über dem Kopf schwenkte. Die Touristen nahmen den ganzen Bürgersteig in Beschlag, sodass Scott an den Zaun gedrängt wurde. Direkt vor ihm knipste ein Mann ein Foto nach dem anderen, während er rückwärts auf Scott zuging. Scott konnte nicht ausweichen, und sein warnender Zuruf kam zu spät. Der ältere Chinese stieß so heftig gegen ihn, dass beide beinahe das Gleichgewicht verloren. Scott zwang sich zu einem höflichen Lächeln, während der Mann sich überschwänglich auf Chinesisch entschuldigte.

Als die Touristen weitergezogen waren, schaute sich Scott erneut um, ging zwei Blocks weiter und bog in eine gepflasterte Seitengasse ein. Sein Ziel war ein kleines Bistro namens Bergeron , vor dem zwei bullige Bodyguards mit Funkgeräten standen. Russische Sicherheitsleute waren immer furchtbar auffällig. Das Café öffnete normalerweise erst zu Mittag, doch Scott hatte arrangiert, dass man ihnen heute ein privates Frühstück servierte. Er nickte den beiden Gorillas zu, ließ sich von ihnen filzen, und trat ein.

In der hintersten Ecke war ein Tisch für zwei Personen gedeckt. Fjodor Michailow erwartete ihn bereits. Scott war fast überrascht, dass der zierliche Stuhl dem beträchtlichen Gewicht des Russen standhielt. Fjodor hatte sich eine Serviette in den Hemdkragen gesteckt und bereits mit dem Frühstück begonnen. Auf dem Tisch stand eine silberne Kaffeekanne, außerdem Croissants, frisches Baguette, Aprikosenkuchen, Macarons in allen Farben und mehrere aromatische Käsesorten.

»Scott, mein Freund«, donnerte Fjodor. »Setzen Sie sich, und genießen Sie das Frühstück.«

Scott setzte sich ihm gegenüber und wischte sich den Schweiß von der Stirn. Er fand es unangenehm warm in dem Café. »Guten Morgen, Fjodor.«

Eine Kellnerin in kurzem schwarzem Rock und weißer Bluse brachte ihm einen doppelten Espresso. Er schüttelte den Kopf, als sie ihn fragte, ob er noch etwas wolle. Die junge Frau – sie war kaum älter als zwanzig – ordnete noch die frischen Blumen auf dem Tisch und tänzelte dann mit einem schelmischen Lächeln zur Küche zurück.

»Das Blöde am Altwerden ist, dass man sich oft noch so jung fühlt«, meinte Fjodor, während er dem Mädchen nachsah.

»Sie, Fjodor? Sie sind nicht alt, Sie sind zeitlos.«

Der Russe schnaubte. »Noch ein bisschen zeitloser, und ich bin tot. Mein Arzt hat mir gesagt, ich muss mit dem Wein und dem Wodka aufhören. Und mit dem üppigen Essen.«

»Und? Halten Sie sich dran?«

»Nein. Ich habe mir einen anderen Arzt gesucht. Probieren Sie mal den Époisses. Der riecht wie der Stiefel eines Infanteristen nach einem Monat an der Front, aber Gott – er schmeckt köstlich.«

»Später vielleicht.«

Der Russe biss die Hälfte eines Croissants ab, auf das er eine übel riechende Paste geschmiert hatte, und stöhnte genießerisch. »Die Zeitungen machen Sie zum Retter der amerikanischen IT -Branche. Wirklich köstlich. Es macht Spaß, deinem Gegner eins reinzuwürgen – aber noch viel mehr, wenn er sich hinterher bedankt.«

Scott gestattete sich ein Lächeln. »Die amerikanischen Medien sind noch leichter zu manipulieren als der Kongress. Es braucht bloß eine ›anonyme Quelle‹, und schon drucken die alles, was Sie wollen.«

»Miles Priest – der Mann, der sein Land verraten hat. Wirklich amüsant.«

»Hab ich mir gedacht, dass Ihnen das gefällt«, sagte Scott.

»Nur eins gefällt mir nicht, mein Freund – dass alles von Medusa spricht. Das ist verdammt gefährlich. Sie haben zu viel von dem verraten, was wir tun. Meine Kollegen in Moskau finden das nicht so gut.«

»Sagen Sie ihnen, sie sollen sich keine Sorgen machen«, beteuerte Scott. »Es gehört zu unserem Plan, den Medien und Behörden ein paar Informationen zuzuspielen. Die westlichen Regierungen sollen denken, dass das Problem gelöst ist und Medusa keine Bedrohung mehr darstellt. Wir haben ihnen Miles als den Hauptschuldigen geliefert, dazu ein paar Fakten über Medusa, damit sie glauben, sie hätten uns unter Kontrolle. Während sie mit ihren Ermittlungen beschäftigt sind, können wir den nächsten Schritt machen.«

»Sie meinen Prescix?«

Scott nickte. Er nahm sich ein lavendelfarbenes Macaron vom Tablett, doch als er das süße Gebäck aß, konnte er kaum schlucken, so als hätte er einen Aprikosenkern in der Luftröhre. »Ja. Ich werde meinen Job als CEO von Carillon damit beginnen, zu verkünden, dass der Vorstand von Prescix dem Zusammenschluss unserer Unternehmen zugestimmt hat.«

»Vorausgesetzt, Ihr Justizministerium hat nichts dagegen«, gab Fjodor zu bedenken.

»Ich bitte Sie. Die reiben sich die Hände. Denen habe ich versprochen, ihnen die Software für ihren Kampf gegen den Terrorismus zur Verfügung zu stellen. Sie werden damit ein paar ›Sieg Heil‹ brüllende Rassisten identifizieren und dafür gefeiert werden. Für die kann die Fusion gar nicht schnell genug kommen. Sie werden die angedrohte Verschärfung des Kartellrechts schnell wieder unter den Tisch fallen lassen. Inzwischen werden wir die gehackten Daten in das System integrieren und mit den Prescix-Algorithmen bearbeiten. Millionen und Abermillionen Leute, deren Ansichten wir beeinflussen können, wie es uns gefällt. Links, rechts – egal was. Die nächste Wahl wird das totale Chaos. Genau, wie Sie es haben wollten.«

»Ja, nur wollen wir viel mehr als das«, rief Fjodor ihm in Erinnerung. »Das ist erst der Anfang, mein Freund.«

Scott trank seinen Espresso und zog an seinem schweißgetränkten Hemdkragen. Ich weiß, du willst einen Bürgerkrieg, du alter Esel. Und den sollst du haben. Die Leute werden sich gegenseitig an die Kehle gehen, aber nicht nur in New York, Portland und San Francisco. Auch in den Straßen von Moskau und Peking wird es heiß hergehen. Wir brennen alles nieder und bauen die Welt neu auf .

Nach dem Plan von Medusa .

»Dafür brauchen wir mehr Geld«, sagte Scott.

»Keine Sorge, Sie kriegen alles, was Sie brauchen. Dafür müssen Sie mir aber auch den einen oder anderen Gefallen erweisen. Es gibt da ein paar Leute, für die wir eine spezielle Behandlung durch die Prescix-Software wollen. Politische Gegner, Diplomaten, die nicht kooperieren, mein Schwager … solche Leute.«

Scott lachte. »Damit hab ich schon gerechnet. Geben Sie mir einfach die Liste mit allen Namen.«

»Ausgezeichnet.« Fjodor schlug mit der Hand auf den Tisch und verschüttete etwas Kaffee. »Ich hab immer gern mit Ihnen Geschäfte gemacht, Scott. Kaum zu glauben, wenn man bedenkt, wie alles angefangen hat, oder? Sie – der eingebildete Student mit diesen lächerlichen Plänen von Weltherrschaft und so was. Und dieses Mädchen, mit dem Sie zusammen waren … du meine Güte! Schon damals, mit sechzehn, war diese Miss Shirley ein Prachtweib – und gefährlicher als eine Löwin. Aber bei Ihnen wusste ich gleich, dass Sie anders sind. Dass Sie einer der besten Agenten sein werden, die ich je rekrutiert habe.«

»Danke, Fjodor.«

Was du nicht weißt , dachte Scott, ist, dass ich in Wahrheit dich rekrutiert habe .

Fjodor biss in ein Stück Käse, von dessen Aroma Scott plötzlich so übel wurde, dass er sich am Tisch festhalten musste. Vor ihm begann alles zu verschwimmen, seine Lippen kribbelten wie von hundert Nadelstichen.

»Alles in Ordnung, mein Freund?«, fragte Fjodor laut schmatzend. »Sie sehen blass aus.«

»Alles okay«, sagte Scott.

»Es hat mir leidgetan, als ich hörte, was mit Ihrer Miss Shirley passiert ist.«

Scott zeigte keine Reaktion. Er vermisste Shirl, aber er hatte nicht um sie geweint. Sie hätte es als Schwäche abgetan. Trotzdem fiel es ihm schwer, sich ein Leben ohne sie vorzustellen. Fast zwanzig Jahre war sie seine geheime Verbündete gewesen.

»Ich hab immer gedacht, diese Frau kann nichts und niemand umbringen«, fuhr Fjodor fort.

»Ich auch.«

»Hat Bourne sie getötet?«

»Ja.«

»Den Kampf hätte ich gern gesehen«, sinnierte Fjodor. »Wie hat er es getan?«

»Er hat ihr den Kopf abgetrennt«, murmelte Scott irritiert.

»Wie bei den alten Griechen – Perseus und Medusa. Bittere Ironie. Und was ist mit Bourne?«

»Den hat Treadstone getötet.«

»Sind Sie sicher? Bourne ist so oft davongekommen, auch wenn es noch so brenzlig war.«

Scott rieb sich die Schläfen. Hinter den Augen brauten sich heftige Kopfschmerzen zusammen. »Diesmal bin ich mir sicher. Treadstone wollte es geheim halten, aber wir haben eine verschlüsselte Meldung abgefangen. Darin wurde sein Tod bestätigt.«

»Okay, dann soll er in Frieden ruhen. Freut mich, wenn die amerikanische Regierung uns die Arbeit abnimmt.«

Scott nickte zustimmend, doch er fühlte sich gar nicht wohl. Hatte er sich irgendein Virus eingefangen? Er konnte sich kaum noch auf das Gespräch konzentrieren. Er musste an die frische Luft. »Ich hab Ihnen ja gesagt, dass Bourne kein Problem für uns ist, Fjodor.«

»Das haben Sie.«

»Ich sag Ihnen Bescheid, wenn wir mit Prescix so weit sind. Und wie viel Geld wir benötigen.«

»Tun Sie das.« Fjodor streckte die Hand über den Tisch hinweg aus und nahm Scotts Hand in seine Pranke. »Gratuliere, mein Freund. Ich weiß es zu schätzen, wenn ein Mann hält, was er verspricht. Ich denke, Sie haben sich eine Prämie verdient.«

Scott stand von seinem Stuhl auf. Das ganze Café verschwamm vor seinen Augen. »Daran liegt mir nichts.«

»Ja, klar«, spöttelte Fjodor. »An materiellen Dingen liegt Ihnen ja nichts. Sagt der Mann im maßgeschneiderten Fünftausend-Dollar-Anzug aus London. Sie sind ja ein Idealist. Wissen Sie, wie wir in Russland Idealisten nennen?«

»Nein, wie?«

Fjodor lehnte sich gefährlich weit mit seinem zierlichen Stuhl zurück und lachte, dass sein Bauch auf und ab wippte. »Wenn ich einen sehe, sag ich es Ihnen.«

Fjodor hatte es nicht eilig, das Café zu verlassen.

Als er mit dem Frühstück fertig war, winkte er die reizende französische Kellnerin an den Tisch und bestellte zum Hinunterspülen eine Flasche Pouilly-Fuissé. Sie schenkte ihm ein Glas ein, was ihm Gelegenheit gab, mit seinen dicken Fingern ihren Hintern unter dem dünnen Stoff ihres Kleids zu erkunden. Sie schlug seine Hand nicht weg. Im Gegenteil, sie lächelte und zwinkerte ihm zu, wie um zu sagen: Frag mich, wie viel .

Ach, Paris. Er liebte diese Stadt.

Eine Stunde später hatte er die Flasche geleert und war entsprechend angeheitert. Er zog die Leinenserviette aus dem Hemdkragen und legte sie auf den Tisch. Dann hievte er seinen massigen Körper aus dem Stuhl und stapfte mit schweren Schritten zur Tür. Draußen ging er zwischen seinen Leibwächtern hindurch, ohne sie eines Blickes zu würdigen. Seine Limousine wartete am Bordstein. Er schloss kurz die Augen und genoss die Wärme der Sonne, dann beugte er sich hinunter und riss die hintere Autotür auf.

Der Wagen war nicht leer. Nash Rollins saß auf der Rückbank.

»Fjodor Michailow«, sagte Rollins nicht unfreundlich. »Ist eine Weile her, stimmt’s?«

Der Russe wirbelte herum, erstaunlich schnell für einen Mann von seiner Korpulenz, und sah jetzt erst, dass die beiden Bodyguards beim Café nicht seine Männer waren. Sie waren Fremde. Amerikaner. Bewaffnet.

Fjodor stieß einen resignierenden Seufzer aus. So war das Leben nun mal. Du gewinnst, bis du eines Tages verlierst – dann musst du die Konsequenzen tragen. »Nash Rollins. Ich schätze, wir machen eine Spazierfahrt, oder?«

»Machen wir. Kommen Sie, setzen Sie sich zu mir.«

Rollins rutschte auf die andere Seite der Rückbank und klopfte mit der Hand auf den Sitz neben sich. Fjodor zwängte sich ins Auto, und einer der amerikanischen Agenten knallte die Tür zu. Durch die getönten Scheiben konnte niemand hereinsehen. Der Wagen fuhr langsam los und reihte sich in den Pariser Verkehr ein.

»Ich bin Diplomat, Nash«, rief Fjodor ihm in Erinnerung. »Sie machen einen schweren Fehler, wenn Sie mich entführen.«

Rollins tippte dem Russen gutmütig mit seinem Stock aufs Knie. »Wer redet von entführen? Nicht so dramatisch, Fjodor. Sie können jederzeit gehen. Wenn Sie wollen, setzen wir Sie sogar bei Ihrer Botschaft ab. Aber wir wissen beide, dass Moskau Versager nicht sehr schätzt. Agenten, die in Ihrem Job scheitern, haben meistens kein langes Leben. Und meine Nase sagt mir, dass es Ihnen so gehen könnte, Fjodor. Der Geruch ist so stark – dagegen kommt nicht mal der französische Käse an, den Sie gegessen haben.«

Fjodor zog sein fleischiges Gesicht in Falten. »Was meinen Sie damit?«

»Wir haben alles aufgenommen. Ihr Treffen mit Scott DeRay. Medusa. Prescix. Die Kellnerin, die Sie begrapscht haben, ist eine Agentin von mir. Die könnte Ihren dicken Hals brechen wie eine Brezel. Wissen Sie, der Bürgerkrieg, von dem Sie geträumt haben, ist vorbei, noch bevor er begonnen hat. Morgen werden die amerikanischen Medien berichten, dass die Prescix-Software für russische Spionageaktivitäten eingesetzt wird. Das Unternehmen wird von der Börse genommen und gründlich durchleuchtet. Dann wird herauskommen, welche Pläne Sie und Medusa verfolgt haben. Also bitte, gehen Sie zurück nach Russland, wenn Sie Lust haben – aber wir wissen beide, dass dort höchstens eine extrabreite Grube irgendwo in der Taiga auf Sie wartet.«

Der Russe nahm sich einen Moment, um die schlechten Nachrichten zu verarbeiten. »Sehe ich das richtig, dass Sie mir eine Alternative anbieten?«

»Das sehen Sie richtig.«

Fjodor war ein praktisch denkender Mensch. »Was wollen Sie, und was krieg ich dafür?«

»Ich will Informationen. Sie kommen mit uns in die Staaten und erzählen uns alles über Medusa. Namen und Orte, die Maulwürfe in den Regierungsbehörden und der Privatwirtschaft. Ziele, Pläne, einfach alles. Außerdem detaillierte Informationen über den großen Datenklau – wie er durchgeführt wurde und wer betroffen ist. Sie liefern uns alles, was wir brauchen, um Medusa hochgehen zu lassen, mit allen, die daran beteiligt sind. Wenn Sie das tun, kriegen Sie ein Apartment in Florida, eine neue Identität und genug Geld für Nutten, Wodka und Kaviar.«

Fjoror starrte aus dem Fenster auf die Stadt hinaus, die er wahrscheinlich nie wiedersehen würde. Er zündete sich eine Zigarette an und dachte über seine Optionen nach. Aber nicht lange. In Wahrheit hatte er keine Optionen. Für patriotische Gefühle verschwendete er keine Sekunde. Ein lebender Verräter war immer noch besser als ein toter Patriot.

»Florida?«, fragte er. »Sie wollen mich nach Florida schicken?«

»Von mir aus auch woandershin, wenn Ihnen Florida nicht gefällt«, sagte Rollins.

Der Russe zuckte mit den Schultern und blies eine Rauchwolke aus. »Florida ist mir recht. Die Luftfeuchtigkeit und ein paar Kakerlaken machen mir nichts aus. Aber ich will freien Eintritt auf Lebenszeit in die Disney World, okay? Ich fahr so gern mit diesem Teetassenkarussell.«