Bourne folgte Scott DeRay von dem Pariser Bistro in das weitläufige Gelände des Jardin du Luxembourg.
Als sein alter Freund die streng geometrischen Gärten vor dem Palais erreichte, war ihm die Wirkung des Gifts bereits deutlich anzusehen. Er taumelte mehr, als er ging. Aus der Nähe sah Bourne sein schweißüberströmtes Gesicht und das Zucken seiner Gliedmaßen. Scott stolperte zu einer Bank am Teich, wo Kinder sich mit bunten Spielzeugsegelbooten vergnügten. Bourne dachte an ihr letztes Zusammentreffen im Central Park.
Die Wahrheit stand Scott ins Gesicht geschrieben. Er wusste nicht, wie es passiert war, doch ihm war klar, dass er sterben würde.
Bourne beobachtete, wie Scott sein Mobiltelefon hervorzog, um Hilfe zu rufen, doch es entglitt seinen gefühllosen Fingern. Bourne trat zu ihm, hob das Handy auf und setzte sich neben ihn.
»In deinem Prescix-Profil steht, dass du heute sterben wirst, Scott. Beängstigend, wie gut diese Software einen kennt.«
Scott drehte den Kopf langsam zu ihm und versuchte, seinen Blick zu fokussieren. Seine Augen weiteten sich, als er Bourne erkannte. » Du .«
»Ja. Sorry, dass ich am Leben bin«, sagte Bourne. »Ich hätte nicht gedacht, dass du die Geschichte glaubst, dass Nash mich beseitigen ließ. Er meinte, die Information muss nur schwer genug zu finden sein. Da hat er wohl richtiggelegen.«
Wenn du erreichen willst, dass jemand eine Lüge glaubt, musst du sie als gut gehütetes Geheimnis tarnen .
Treadstone.
Scott versuchte sich zu wehren. Seine Hand ging zu seiner Anzugtasche, in der er höchstwahrscheinlich eine Pistole hatte. Doch bevor er die Waffe herausziehen konnte, sank seine Hand schlaff nach unten und blieb auf der Bank liegen. Er hatte keine Kraft mehr. Seine Stimme klang leise und gepresst.
»Welches Gift, Jason?«, fragte er. »Tetrodotoxin?«
»Die Symptome würden jedenfalls passen«, stimmte Bourne zu. »Es wirkt schnell, also war es wahrscheinlich eine hohe Dosis. Du hast nur noch wenige Minuten.«
»Willst du damit sagen … das warst nicht du?«, presste Scott hervor.
Bourne schaute zu den Familien, die sich im Park aufhielten. Kinder aßen Eiscreme, Verliebte küssten sich. Niemand beachtete den Sterbenden auf der Parkbank mitten unter ihnen. »Nein. Sorry, Scott, aber das war nicht ich.«
»Wer dann?«
»Du hast dich mit den falschen Leuten angelegt«, sagte Bourne. »Einer der Topmanager, die deine Leute auf der Insel ermordet haben, war Hon Xiu-Le aus Shanghai. Man fand ihn nicht unter den Toten, deshalb wussten wir zuerst nicht, wo er geblieben war. Allem Anschein nach hat Miss Shirley ihn gefesselt in einem Jeep zurückgelassen und den Wagen dann in die Luft gejagt. Treadstone hat seine Überreste gefunden und seine Identität ermittelt. Das war ein schwerer Fehler. Hon hatte mächtige Freunde in der chinesischen Regierung. In China wird man nicht so reich, wenn man nicht über beste Beziehungen zur Partei verfügt. Die waren ziemlich sauer, als sie erfuhren, dass Hon getötet wurde. Ich habe einen Kollegen in Peking angerufen – er fand es sehr interessant, dass du für Hons Tod verantwortlich bist. Daraufhin waren sie gern bereit, mit uns zusammenzuarbeiten.«
Scott schloss die Augen. »Der alte chinesische Tourist draußen beim Park.«
»Ja. Er hat es unglaublich geschickt gemacht. Obwohl ich alles beobachtet habe, könnte ich nicht sagen, wie er dir das Gift injiziert hat. Ich habe dich die ganzen letzten Wochen beschattet. Weißt du, Nash und ich, wir haben befürchtet, die Chinesen könnten zuschlagen, bevor du uns zu deinem Geldgeber führst. Sie haben uns zwar versprochen, zu warten, aber wir wussten nicht, wie lange. Dann hast du dieses Treffen mit Fjodor arrangiert, also haben wir ihnen grünes Licht gegeben. Fjodor ist übrigens bei Nash und erzählt ihm alles. Medusa ist am Ende, Scott. Es ist vorbei.«
Scott öffnete die Augen und spie ein paar Worte aus, während er nach Luft rang. »Ich hätte dich jederzeit … töten lassen können, Jason. Ich hab dich am Leben gelassen … weil wir Freunde waren.«
»Du hast mich am Leben gelassen, weil ich dir nützlich war. Das ist alles.«
Bourne griff in die Gesäßtasche seiner Hose und zog eine zerknitterte Fotografie heraus. Sie zeigte zwei Jungen an einem Strand, mit den schaumgekrönten Wellen des Atlantiks hinter ihnen. Sie waren höchstens elf Jahre alt, beide in weiten Badehosen. Sie hatten einander die Arme um die Schultern gelegt und grinsten in die Kamera. Es fiel Bourne schwer, zu glauben, dass das er selbst und Scott sein sollten. Es war eine Szene aus einem anderen Leben. Seit damals hatten sie sich in völlig unterschiedliche Richtungen entwickelt.
»Freunde sind wir schon lange nicht mehr«, sagte Bourne und legte Scott das Foto in den Schoß. Er brauchte es nicht mehr. »Adieu, Scott.«
Er stand auf, doch Scott hielt ihn mit schwachem Griff am Handgelenk zurück. »Warte.«
Jason schaute auf ihn hinunter.
»Wenn ich sterbe, stirbst du auch.« Es klang wie ein Fluch. »Deine ganze Kindheit. Was dich ausmacht. Dann ist deine Vergangenheit wirklich gestorben. Ich bin der Einzige … der sich daran erinnert.«
Bourne schüttelte den Kopf. »Da irrst du dich. Ich habe keine Vergangenheit.«
Er setzte die Sonnenbrille auf und ging auf dem Parkweg davon.
Es war ein angenehmer Abend an diesem ersten Juni in Québec.
Obwohl es bereits dunkel war, schlenderten immer noch Dutzende Leute über die Promenade unterhalb des Château Frontenac. Abbey schaute auf ihre Uhr. Punkt zehn Uhr. Ein kühler Wind wehte über die Oberstadt, darunter zog sich der Sankt-Lorenz-Strom wie ein schwarzes Band durch die hügelige Landschaft. Von Anspannung und Vorfreude erfüllt, stand sie am Geländer des Pavillons, an der Stelle, wo sie vor zwei Monaten auf den geheimnisvollen Unbekannten gewartet hatte.
Der dann nicht gekommen war.
Diesmal werde ich da sein , hatte Jason versprochen. Wenn ich am Leben bin, komme ich .
Doch seither waren Wochen vergangen, in denen sie nichts mehr von ihm gehört hatte. Er war nicht zu greifen, ein Geist. Sie wollte glauben, dass er zu ihrem Rendezvous kommen würde, dass er nicht einfach ohne ein Wort aus ihrem Leben verschwand. So grausam konnte er doch nicht sein.
Falls er noch am Leben war. Falls die Berichte in den Medien falsch waren.
Bei Abbey hatte sich einiges verändert, seit sie nach Hause zurückgekommen war. Sie hatte nicht nur ihren Job bei The Fort aufgegeben, sondern auch ihr kleines Apartment. Irgendwie war ihr klar geworden, dass sie ihr altes Leben nicht weiterführen konnte, als wäre nichts gewesen, auch wenn sie noch keine Ahnung hatte, wie es weitergehen sollte. Seither war sie in der Schwebe, übernachtete bei einer Freundin auf dem Sofa und streifte wie in einem Nebel durch die Straßen der Stadt.
Vor allem musste sie ihre Beziehung zu Jason irgendwie klären, bevor sie dieses Kapitel ihres Lebens beenden und neue Wege gehen konnte. Seit Wochen zählte sie die Tage und Nächte bis zum ersten Juni.
Bis heute.
Würde er kommen?
Abbey holte ihr Handy heraus und tippte eine Nachricht ein. Eine von vielen, die sie in den letzten Wochen an diese Nummer gesandt hatte, doch ihre Worte waren irgendwo im Äther verschollen. Ohne Antwort.
Ich bin hier, Mystery Man .
Wie beim ersten Mal. Sie wartete, starrte auf das Display, kaute auf der Unterlippe herum. Doch er antwortete nicht. Grundsätzlich nicht. Die Minuten krochen dahin, so wie damals im April. Schon Viertel nach zehn. Immer noch nichts. Halb elf. Vielleicht war es Zeit, der Realität ins Augen zu schauen.
Die Berichte hatten gestimmt. Jason Bourne war tot.
Oder vielleicht wollte er, dass sie das glaubte. Vielleicht beobachtete er sie wieder von irgendwo in der Nähe, ohne sich zu erkennen zu geben. Es war seine Art, zu sagen: Leb dein Leben ohne mich . Sie machte sich mit dem Gedanken vertraut, den unausgesprochenen Rat zu beherzigen. Er ließ ihr ja keine Wahl. Sie musste ihr Leben in den Griff kriegen und neu anfangen. Niedergeschlagen schaute sie auf den Fluss hinunter, da hörte sie eine flüsternde Stimme.
»Was mögen Sie am meisten in Québec?«
Abbey hob die Hände an den Mund und fuhr herum. Da stand er. Jason. Lebendig, gesund und mit einem Ausdruck im Gesicht, der keinen Zweifel daran ließ, was er für sie empfand. Sie schaute ihn an, den Mann, der sie entführt und mehrfach in Lebensgefahr gebracht hatte, den Mann, in den sie sich verliebt hatte.
»Diese wunderbaren kleinen Ahornbonbons«, brachte sie mit Mühe heraus.
Er machte einen Schritt auf sie zu. Sie fielen sich in die Arme und küssten sich, und Abbey spürte sein Verlangen nach ihr. Sein Kuss sagte alles, was er nicht aussprechen konnte. Dass er sie genauso liebte wie sie ihn. Sein Kuss sagte aber noch etwas anderes, das spürte sie.
Er war aus einem bestimmten Grund gekommen.
Um Adieu zu sagen.
Das Seltsame war, dass es ihr genauso ging. Sie wusste, dass sie nicht mit ihm zusammen sein konnte. Auch wenn sie noch so viel füreinander empfanden, konnte es nicht sein. Es ließ sich nicht erzwingen. Sie mussten allein weitergehen. Er in seine Welt. Sie in eine Zukunft, die noch völlig offen war.
Doch der schwere Teil konnte warten.
Sie setzten sich auf eine Bank an der dunklen Promenade. Jason legte den Arm um ihre Schultern, sie schmiegte den Kopf in seine Halsbeuge. Sie redeten, küssten sich, redeten, küssten sich. Sie war nahe daran, vorzuschlagen, dass sie sich ein Zimmer im Château Frontenac nahmen und die Nacht zusammen verbrachten. Einmal noch, bevor es aus war. Doch sie tat es nicht. Es hätte alles nur noch schwerer gemacht.
»Ich habe keinen Job und keine Wohnung mehr«, sagte Abbey mit einem säuerlichen Lächeln, als er sie fragte, wie die letzten Wochen gewesen seien. »Ich hab alles aufgegeben.«
»Hoffentlich nicht für mich«, sagte er besorgt.
»Nein, Jason.«
»Sicher?«
»Sicher. Ich will gar nicht leugnen, dass du mich verändert hast, aber was als Nächstes kommt, das tu ich für mich. Du hattest recht. Ich muss mir darüber klar werden, was ich will. Und das ist der erste Schritt. Oder vielleicht war meine Zeit mit dir der erste Schritt, auch wenn es mir noch nicht bewusst war. Ich tu das, was du einmal über mich gesagt hast: Ich springe ins Unbekannte.«
Er lächelte. »Was hast du jetzt vor?«
»Ich weiß es wirklich noch nicht. Aber irgendwie ist es kein schlechtes Gefühl. Es eröffnet mir Möglichkeiten, an die ich vielleicht noch nicht gedacht habe.«
Sie schwiegen eine Weile. Es waren nur noch vereinzelte Spaziergänger unterwegs. Das Ende kam näher, das Schweigen zwischen den Sätzen wurde länger. Der Gedanke an das Unvermeidliche machte beiden zu schaffen.
»Überall hat man gehört, du wärst tot«, sagte Abbey leise, als sie keinen Gesprächsstoff mehr hatten. »Ich wusste nicht, was ich glauben sollte. Ich hab gehofft, dass es nicht wahr ist, aber wissen konnte ich es nicht. Das war schlimm.«
»Es tut mir leid.«
»Aber auch wenn ich gewusst hätte, dass du am Leben bist, hätte ich mich gefragt, ob du kommen wirst.«
»Ich hab’s versprochen.«
»Ich weiß. Und ich bin froh, dass du mich nicht im Unklaren gelassen hast.«
»Weil du jetzt weitergehen kannst?«, fragte Jason.
Sie drückte seine Hand, wollte es nicht aussprechen, tat es trotzdem. »Ja. Jetzt kann ich weitergehen.«
»Gut. Das macht es mir leichter.«
»Und du?«, fragte sie.
»Meine Welt hat keinen Platz für Menschen, die nicht dazugehören, Abbey. Das weißt du ja.«
Sie widersprach ihm nicht. »Und Medusa?«
»Gibt es nicht mehr. Auch Miss Shirley nicht. Du bist in Sicherheit. Frei.«
»Was ist mit dir ? «, hakte sie nach. »Bist du frei?«
»Ich bin tot, was aufs Gleiche hinausläuft. Nash will, dass es für eine Weile dabei bleibt. So lässt es sich leichter hinter den Kulissen arbeiten. Wenn gewisse Leute nicht mit mir rechnen, komme ich leichter an sie heran.«
Abbey zog die Stirn in Falten. »Heißt das, du machst damit weiter?«
»Fürs Erste, ja. Das ist es, was ich gelernt habe. Was ich bin.«
»Wie siehst du dich selbst?«, fragte sie, auch wenn die befürchtete Antwort wehtun würde.
Bourne zögerte keine Sekunde. »Als Killer.«
Abbey schüttelte bedauernd den Kopf. Es klang so hart, wie er es sagte. Und es wurde ihm nicht im Entferntesten gerecht.
»Ich muss los«, sagte Jason.
»Ich wünschte, die Dinge wären anders.«
»Ich auch.«
»Aber es ist so, wie es ist«, sagte sie. »Oder?«
»Ja.«
»Ich glaube, ich geh jetzt auch besser«, murmelte Abbey. »Es ist Zeit.«
Sie nahm sein Gesicht in ihre Hände und küsste ihn lange und zärtlich. Sie hätte es dabei bewenden lassen sollen, doch sie konnte nicht anders – sie musste die eine Frage aussprechen, die in ihr brannte. »Sehen wir uns wieder?«
Er schwieg. Sie hatte keine Antwort erwartet. Er schaute sie an wie von einem fernen Ort, zu dem sie ihn nicht begleiten konnte.
Schon jetzt war da ein Gefühl der Einsamkeit in ihr. Sie stand auf und ging zum Geländer, schaute auf die Lichter der Altstadt hinunter, auf das dunkle Band des Flusses. Irgendwo da draußen in der Nacht wehte leise Musik durch die Straßen. Abbey atmete die angenehm kühle Luft ein, mit dem Geschmack des letzten Kusses auf den Lippen.
»Du bist kein Killer, Jason«, sagte sie leise, ohne zurückzuschauen. »Du bist ganz anders. Hoffentlich erkennst du das irgendwann auch.«
Abbey drehte sich ein letztes Mal zu ihm um.
Bourne war schon fort.