»Das ist wie Eulen nach Athen tragen«, sagt der Volksmund. In der Antike war auf den Münzen Athens eine Eule abgebildet. In seiner Komödie »Die Vögel« behauptet Aristophanes im Jahr 414 vor Christus, die Athener seien so reich, weil in ihren Geldbörsen die Eulen Junge ausbrüteten. Weiteres Geld nach Athen zu tragen, war daher überflüssig. Doch damit ist die Geschichte noch nicht zu Ende. Athen unterhielt damals den Attischen Seebund, eine Art Union der Ägäis. Dessen Kriege gegen Sparta wurden durch das Prägen immer neuer Münzen finanziert. Die erste große Inflation der Zivilisation war geboren. Nun war es sinnlos, die Eulen nach Athen zu tragen, weil sie nichts mehr wert waren. Dennoch konnten am Ende zehn von 13 griechischen Gemeinden des attischen Seebundes, die Kredite beim Delos-Tempel aufgenommen hatten, ihre Schulden mindestens teilweise nicht mehr begleichen. Athen war damit die erste Demokratie, die den Staatsbankrott erklären musste.59
Heute, im Jahr 2012, könnte sich die Geschichte wiederholen. Die Eule prangt auf den griechischen Euro-Münzen, was sich geradezu als Menetekel für die Eurozone erweist. Griechenland gab in den vergangenen Jahren viel zu viele dieser »Eulen« aus. Der Schuldenstand hat Anfang 2012 rund 160 Prozent der eigenen Wirtschaftsleistung erreicht. Damit ist der Ägäisstaat Spitzenreiter – nicht nur innerhalb der Eurozone. Im weltweiten Ranking wird Griechenland nur noch von Japan übertroffen, dessen Schuldenquote mit 230 Prozent mehr als das Doppelte seiner Wirtschaftsleistung ausmacht.60
Die Wiege Europas, wie sich Griechenland auch selbst inszeniert, könnte zur Bahre für die europäische Gemeinschaftswährung werden. Der 20. Oktober 2009 darf als Ausgangspunkt der Euro-Krise gelten: An diesem Tag musste der Finanzminister der frisch gewählten griechischen Regierung einräumen, dass es um die Staatsfinanzen erheblich schlechter stand, als bis dahin bekannt war. In der Folge kam es zu einem mächtigen Beben an den europäischen Kapitalmärkten. Vom Epizentrum Griechenland ausgehend gerieten sämtliche Staatsanleihen der Randländer der Währungsunion ins Wanken, und obendrein auch noch der Euro. Selbst an der Wall Street, tausende Kilometer von Athen entfernt, waren Ausläufer des Bebens zu spüren. Griechische Staatspapiere verloren in den sechs Monaten nach dem 20. Oktober in der Spitze 40 Prozent ihres Wertes. Gegenüber dem Dollar verlor der Euro zwischen Oktober 2009 und Juni 2010 ein Viertel seines Werts.
Plötzlich war die Elf-Millionen-Nation Griechenland, die gerade einmal rund 0,7 Prozent der weltweiten Wirtschaftsleistung repräsentiert, ein großes systemisches Risiko. An den Märkten ging die Angst um, dass Athen keine Käufer mehr für seine Schuldpapiere finden würde. Und innerhalb der Eurozone verbreitete sich die Sorge, die Finanzmarktprobleme Griechenlands könnten sich auf andere Staaten der Eurozone ausweiten. Griechenland benötigte dringend Geld, da bereits im April und Mai Anleihen im Umfang eines zweistelligen Milliardenbetrags fällig wurden.
Ein gefährlicher Teufelskreis setzte sich in Gang: Die Risikoaufschläge, die das Land im Vergleich zu solideren Schuldnern zu zahlen hatte, schossen in die Höhe (vgl. Abbildung 4, S. 67). An den Kapitalmärkten aufgenommenes Geld kam Griechenland plötzlich viele Prozentpunkte teurer zu stehen als die Bundesrepublik. Doch ein Zinsanstieg um einen Prozentpunkt erhöhte den Schuldendienst um fast drei Milliarden Euro pro Jahr.61 Tatsächlich ist der Risikoaufschlag auf die Zinsen die zentrale Größe in diesem Teufelskreis. Wie Der Spiegel einmal treffend schrieb, kann dieser Risikoaufschlag so tödlich wirken wie das salzige Meerwasser, das ein Schiffbrüchiger in seiner Not trinkt.62 Je höhere Zinsen ein Staat zu zahlen hat, desto höher steigt bei sonst gleichbleibenden Einnahmen und Ausgaben die Verschuldung. Mehr Schulden bedeuten aber wiederum höhere Zinsen. Diese Spirale aus steigenden Finanzierungskosten und steigenden Schulden drohte die Mittelmeerrepublik geradewegs in die Insolvenz zu führen.
Die EU-Regierungschefs sahen sich im Frühjahr 2010 gezwungen, sich auf gleich zwei Gipfeln, am 11. Februar und am 25./ 26. März 2010, mit dem Problem zu befassen. Die Strategie erinnerte ein wenig an jenen Sonntag im Oktober 2008, als Kanzlerin Angela Merkel zusammen mit dem damaligen Finanzminister Peer Steinbrück vor die Presse trat und eine milliardenschwere Garantie für deutsche Spareinlagen aussprach. Obwohl Merkel und Steinbrück nie konkret sagten, was sie mit der Zusage meinten und um welche Summe es sich letztlich handelte, waren die deutschen Sparer beruhigt. Ohne einen Euro auszugeben, war allein mit Worten eine Katastrophe – nämlich ein Ansturm auf die Bankschalter, ein sogenannter »bank run« – abgewendet worden. Möglicherweise hofften die Finanzminister auf eine ähnliche Wirkung. Wie wir heute wissen, ist diese Politik grandios gescheitert.