Kehren wir zur rechten oberen Ecke des Politikraums in Abbildung 6 zurück. Hier haben Einzelstaaten weitgehende Autonomie und Gestaltungsfreiheit über ihren Haushalt. Sie sind aber für die budgetären Konsequenzen ihrer Haushaltspolitik allein verantwortlich. Gelingt es, ein solches System zu installieren, dann ist das Samariterdilemma ausgeräumt, und zugleich bleibt den Einzelstaaten Gestaltungsfreiheit.
Mit dem Artikel 125 AEUV hatten sich die EU-Mitgliedsländer eigentlich genau diese Eigenverantwortlichkeit gegenseitig versprochen. Die Systemrelevanz von Eurostaaten im herrschenden Finanzmarktumfeld des Jahres 2010 unterminierte aber die Glaubwürdigkeit der »No-bailout-Klausel« und beeinträchtigte damit die Eigenverantwortung. In der Welt nach dem Zusammenbruch der US-Investmentbank Lehman Brothers können sich die Staaten keinen Zusammenbruch eines wichtigen Marktteilnehmers – sei es eine Bank oder gar ein Staat – mehr vorstellen. Zu groß erscheint ihnen das Risiko, dass in einem Finanzsystem des vernetzten Kapitals und hoher Verschuldungsgrade schon kleinere Ausfälle großes Unheil anrichten. Wechselseitige Abhängigkeiten und geringe Risikopuffer könnten beim Kollaps einer Institution rasch die Funktionsweise des gesamten Systems infrage stellen.141 Der Lehman-Crash im September 2008 hatte beinahe eine Kernschmelze des Finanzsystems ausgelöst, die nur durch drastische Eingriffe von Staaten und eine Liquiditätsschwemme vonseiten der Notenbanken gestoppt werden konnte.
An diesem Beispiel zeigt sich, dass die Ursachen für die Fehlfunktion des Stabilitäts- und Wachstumspakts nicht in den Institutionen des Pakts selbst begründet sind. Die Ursachen liegen vielmehr in der Funktionsweise der Finanzmärkte, jedenfalls in der Ausprägung der letzten Jahre. Eine ursachengerechte Beseitigung der Fehlfunktionen muss deshalb zunächst bei den Finanzmärkten ansetzen. Das »No-bailout-Versprechen« der Eurozone gegenüber den einzelnen Mitgliedsstaaten muss glaubwürdig sein. Um das zu erreichen, muss man die Anreize zur zwischenstaatlichen Hilfe beseitigen. Das kann die Weltgemeinschaft tun, indem sie dem insolventen Mitgliedsstaat einen Weg zur Selbsthilfe eröffnet und gleichzeitig die negativen systemischen Auswirkungen unterbindet, die von der Insolvenz eines Staats für die anderen Mitgliedsstaaten ausgehen.
Leukerbad ist ein kleiner Kurort im Kanton Wallis in der Schweiz. Im Jahr 1998 hatte Leukerbad ca. 1 750 Einwohner. Wie im Kanton Wallis üblich, gibt es in Leukerbad mit einer Bürgergemeinde und einer Munizipalgemeinde zwei getrennte Körperschaften, die sich am Kreditmarkt verschulden können. Die Gemeindeverwaltung hatte im Laufe der Jahre durch eine sehr rege Investitionstätigkeit direkt im Gemeindehaushalt und zusätzlich indirekt über Beteiligungsgesellschaften Schulden in Höhe von fast 350 Millionen Schweizer Franken angehäuft. Die aufsichtführende Kantonalverwaltung wurde auf die missliche Finanzlage erst im Laufe der neunziger Jahre aufmerksam. Die Kantonalverwaltung beschränkte daraufhin am 16. September 1998 die Handlungsfreiheit der Munizipal- und der Bürgergemeinde Leukerbad, und gab die Ausarbeitung eines Sanierungsplans in Auftrag. Dieser Plan wurde von den Gläubigern zunächst abgelehnt, am 7. Dezember 1999 kam es dann aber zu einem Vergleich mit den Gläubigern. Die überschuldeten Beteiligungsgesellschaften der Gemeinde gingen großenteils in Konkurs. Die Bevölkerung sank in den folgenden Jahren, vermutlich durch Abwanderung nach Erhöhungen der Gemeindesteuer, auf ca. 1 400 Einwohner ab. Die Versuche der Munizipalgemeinde selbst und drei weitere Versuche von Gläubigern, die Schulden auf den Kanton Wallis zu überwälzen, scheiterten allesamt. Am 3. Dezember 2003 schließlich verzichteten die Gläubiger auf 78 Prozent ihrer Forderungen im Rahmen eines Sanierungsbeschlusses, in dem der Kanton sich die Gläubigeransprüche abtreten lässt. Die Munizipalgemeinde leistet, so der Plan, für rund dreißig Jahre Abzahlungen.142
Von Leukerbad hat nur ein Bruchteil der Menschheit schon einmal gehört. Und als die Überschuldung von Leukerbad offenkundig wurde, gab es kein Beben an den Börsen und Kapitalmärkten der Welt. Die Insolvenz Leukerbads hatte zwar negative Auswirkungen auf die Gemeinde und ihre Kreditgeber, aber nicht darüber hinaus.
Ist das Schuldenvolumen einer insolventen Gebietskörperschaft hingegen hinreichend groß, kann ein Bankrott auch die Weltkapitalmärkte beeinflussen. Bereits in vorhergehenden Kapiteln haben wir erwähnt, dass es im schlimmsten Fall zu einer globalen Vertrauenskrise kommen kann, die Ansteckungseffekte für andere Staaten hat und die Finanzmärkte erschüttert. Unter Hinweis auf die Risikolage deutscher Institute sprach sich im März 2010 beispielsweise der Deutsche-Bank-Chef Josef Ackermann für Hilfen für Griechenland aus. Ohne eine Stabilisierung Griechenlands könnten die Banken nach seiner Einschätzung Probleme bekommen. Griechenland wäre also »systemrelevant« und die »No-bailout-Klausel« deshalb in diesem Fall nicht durchsetzbar, sie verliert ihre Glaubwürdigkeit. Eine Systemreform, die auf Freiheit und Selbstverantwortung der Einzelstaaten setzt, muss die »Systemrelevanz« jedes einzelnen Eurostaats verringern oder beseitigen. Einfach ist das nicht, aber möglich. Wir erörtern das im nächsten Kapitel.